Berlin. Eine Kinder- und Jugendpsychologin erklärt, wann Schulangst bedenklich ist und wie Eltern ihre Kinder unterstützen können.

Die Sommerferien sind vorüber. Am Montag heißt es nach sechs Wochen Pause wieder: Hallo Schulalltag. Manche freuen sich die Freundinnen und Freunde wieder zu sehen, doch bei den meisten ist die Lust auf Schule eher gering. Einige Kinder und Jugendliche starten auch mit Bauchschmerzen und Muffensausen ins neue Schuljahr. Die Berliner Morgenpost hat mit der Berliner Kinder- und Jugendpsychologin Nadine Vietmeier über die Angst vor dem Schulbeginn gesprochen, wie Eltern ihre Kinder unterstützen können und ab wann die Schulangst bedenkenswert ist.

Am Montag beginnt die Schule wieder in Berlin. Viele Schulkinder haben Bauchschmerzen, Angst vor dem Schulstart. Was können Gründe dafür sein?

Vietmeier: Es ist ganz normal, dass Kinder und Jugendliche nach den Sommerferien ein bisschen Angst haben oder aufgeregt sind, dass die Schule wieder losgeht. Menschen sind Gewohnheitstiere und jede Veränderung kann Aufregung auslösen. Gerade zu Schuljahresbeginn kommt viel Neues dazu: Neue Mitschülerinnen und Mitschüler, neue Lehrkräfte, neue Stundenpläne, eine veränderte Tagesstruktur. Die Aufregung oder Angst ist dann nichts Schlimmes, sondern kann sogar hilfreich sein, dass ein Kind sich gut an die neuen Anforderungen anpasst. Allerdings können auch Schwierigkeiten in der Schule wie Mobbing oder Überforderung oder eine psychische Erkrankung hinter der Angst stecken.

Wie können Eltern auf diese Aufregung reagieren?

Für Kinder ist es wichtig, zu wissen, dass es okay ist und die Aufregung nicht schlimm ist. Eltern können unterstützen, indem sie Verständnis zeigen und nachfragen: Warum bist du aufgeregt? Was kommt da auf dich zu? Und die Aufregung nicht kleinreden. Wir Erwachsene kennen solche Aufregung ja auch, wenn wir in neue Situationen kommen, zum Beispiel eine neue Stelle antreten. Eltern können ihren Kindern von diesen Erfahrungen erzählen. Zwei wichtige Komponenten in der Unterstützung des Kindes sind Akzeptanz: „Das ist okay, dass das aufregend für dich ist“ – und Zuversicht: „Ich traue dir zu, dass du das gut machen wirst“. Wenn ein Kind massive Ängste hat, ist es wichtig, diese ernst zu nehmen und die Gründe zu erfragen. Bei Bedarf sollte man sich an die Klassenlehrkraft, psychosoziale Angebote in der Schule, den Kinderarzt oder einen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten wenden.

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Was tun, wenn Kinder über körperliche Symptome, wie Bauchschmerzen oder Übelkeit klagen, aber ansonsten nicht mit der Sprache rausrücken wollen? Ihr Gefühl, ihre Aufregung oder Angst, nicht als solche benennen können.

Vor allem bei jüngeren Kindern ist das der Normalfall, weil es für sie eine Herausforderung ist, Gefühle wahrzunehmen und zu verbalisieren. Da sind Eltern als Unterstützung wichtig. Gefühle gehen immer mit körperlichen Symptomen einher: Seien es die Schmetterlinge im Bauch bei Verliebtheit oder die zugeschnürte Kehle bei Trauer oder eben Bauschmerzen, wenn man aufgeregt ist. Wichtig ist, dass diese Gefühle offen angesprochen werden dürfen.

Können auch Lehrkräfte unterstützen, dass Schulängste nicht groß werden?

Wichtig ist, zum Schuljahresbeginn den Kindern Raum zu geben, sich anzupassen, sich kennenzulernen, von den Ferien zu erzählen und nicht sofort mit Leistungsanforderungen an die Kinder heranzutreten. Außerdem können auch Lehrkräfte die Veränderungen und damit einhergehenden Gefühle aktiv ansprechen.

Bis wann ist es das normal „Muffensausen“ und ab wann gilt Handlungsbedarf – dass Eltern professionelle Hilfe für das betroffene Kind suchen sollten?

Zum einen schaut man in der Psychologie darauf, wie stark die Angst ausgeprägt ist. Wenn das Kind sich komplett verweigert, in die Schule zu gehen und Eltern mit Überzeugungsarbeit nicht weiterkommen, dann besteht Handlungsbedarf. Ebenfalls ausschlaggebend ist das Zeitkriterium. Man geht von einer Anpassungszeit von etwa zwei Wochen aus. Wenn ein Kind drei, vier Wochen nach Schulstart immer noch mit Übelkeit reagiert, dann ist es gut als Elternteil noch mal zu erfragen, was in der Schule los ist. Es kann eine schulspezifische Angst dahinterstecken, wie Leistungsangst, Schwierigkeiten mit Lehrkräften oder Mobbing. Genauso können auch soziale Ängste eine Rolle spielen, die sich häufig durch Bauchschmerzen äußern. Gerade für Kinder mit starken sozialen Ängsten oder mit einer sozialen Angststörung ist es herausfordernd in die Schule zu gehen und eine psychotherapeutische Behandlung indiziert.

Wie häufig kommen ausgeprägte Schulängste beziehungsweise soziale Angststörungen bei Kindern vor?

Wir gehen davon aus, dass ungefähr jedes zehnte Kind eine klinisch behandlungswerte Angststörung hat und eine soziale Angststörung bei bis zu neun Prozent aller Kinder und Jugendlichen vorliegt. Ob eine Angststörung vorliegt, klären Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und -psychiater ab. Generell sollten Angststörungen frühzeitig behandelt werden, damit sie sich nicht verschlimmern.

Gibt es ein Alter, in dem sich Angststörungen bei Kindern besonders häufen?

Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Etwa die Hälfte aller Angststörungen beginnen in der Kindheit bis zum Alter von 11 Jahren. 75 Prozent aller Angststörungen treten zum ersten Mal vor dem 21. Lebensjahr auf. Besonders anfällig für psychische Erkrankungen sind Kinder und Jugendliche in „kritischen Phasen“. Das sind Umbruchphasen wie ein Schulwechsel, die Trennung der Eltern oder die Pubertät. In solchen Phasen ist es wichtig ein Augenmerk auf die psychische Gesundheit zu haben und Kinder aktiv darauf anzusprechen und zu unterstützen.

Wenn eine behandlungswürdige Angststörung bei Kindern vorliegt, wie gehen Therapeuten dann vor?

Zu Beginn steht eine Diagnostik, da gehört eine körperliche Diagnostik dazu. Denn es kann auch sein, dass die Bauchschmerzen oder Übelkeit an einer körperlichen Symptomatik liegen. Ist das ausgeschlossen, wird in der Regel eine kognitive Verhaltenstherapie als Behandlung empfohlen. Das Kind lernt dabei, die eigenen Ängste besser zu verstehen, mit diesen umzugehen und „normale“ von „pathologischer Angst“ zu unterscheiden. Anschließend werden Kinder – anfangs begleitet – Situationen ausgesetzt, die ihnen Angst machen. Medikamente werden im Kinder- und Jugendalter meist nicht empfohlen; es geht darum langfristige Strategien zu entwickeln.

Im Forschungsprojekt „Gedankenkarussell“ an der Humboldt-Universität zu Berlin werden soziale Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen zwischen 9 und 14 Jahren untersucht. Im Rahmen des Projekts bietet das Team der Kinder- und Jugendlichenpsychologie eine kostenlose psychologische Diagnostik an. Mehr Informationen finden Sie hier.