Berlin. Der heutige Ausflug der Sommerserie ist nicht zu planen, sondern geschieht rein zufällig. Dennoch gibt es erstaunliche Begegnungen.

Ich mag planen. Das trifft vor allem zu, wenn es um auf anstehende Ausflüge oder Urlaube geht. Gerne bin ich derjenige, der Flüge, Mietwagen und vielleicht auch sogar schon Unterkünfte bucht. Deswegen ist der heutige Sommerausflug auch für mich ein Experiment. Denn: geplant ist nichts. Der Zufall entscheidet. Und ein Buch, das ich nach Jahren im Regal endlich einmal in die Hand nahm. Glücklicherweise kann man nun sagen, weil dieser Sommertag in Berlin mir unerwartete Begegnungen bringen, mich bewundernswerte Handwerkskunst kennenlernen und mich am Ende freiwillig ins Gefängnis gehen lassen wird. Aber der Reihe nach.

Alles beginnt an einem Morgen bei mir am Küchentisch. Vor mir liegt das Buch „Reiseführer des Zufalls“. In dem kleinen Büchlein, das für 17 Euro im Buchladen oder im Internet erhältlich ist, finden sich auf 154 Seiten Anregungen, seine oder eine Stadt mal gänzlich anders zu entdecken. Ein kurzes Alphabet gibt eine Einführung. Unter dem Buchstaben „Z“ heißt es da: Der Zufall „ist eine vergessene Qualität, die bislang von Seiten moderner Lebensführung strategisch ausgegrenzt worden ist.“ Denn „in Zeiten digitaler Vorhersehbarkeit und effizienter Planung scheint es immer weniger Platz zu geben für Unbekanntes und Spontaneität.“ Ich nicke innerlich und nippe an meinem Kaffee.

„Stadtexperimente“ geben Anleitung auf dem Weg durch die Stadt

Um Verborgenes zu entdecken, ist der Umweg das Ziel. „Stadtexperimente“ heißen die Aufgaben und Spaziergänge, die das Buch prägen und den Leser eine Stadt entdecken lassen sollen, wie nie zuvor. Wie das beginnt, bestimme ich selbst. Mit meinen Daumen streiche ich über die Blattkanten (wie beim Daumenkino) und wähle aus. Erster Treffer: „Paparazzo“.

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„Starte an einer Sehenswürdigkeit.“, steht da blau auf weiß. Da die East Side Gallery nicht weit entfernt ist, entscheide ich mich dafür, meine Tour dort zu beginnen. Vor der bunt bemalten Mauer angekommen, wartet die nächste Aufgabe: „Fotografiere sie von allen Richtungen, aber mit dem Rücken zu ihr.“ Ich zücke mein Smartphone, mache Aufnahmen von dem Hostel-Boot auf der Spree, von parkenden Fahrrädern, einem leeren Fußweg und einem gegenüberliegenden, grauen Gebäude. Fotos, die ich so sicher nie von der Stadt gemacht hätte.

Begegnung mit Menschen, die man bei herkömmlichen Stadtrundgängen eher nicht angesprochen hätte

Weiter geht das Stadtexperiment. Den Ort soll ich nach links verlassen. Da ich mit dem Rücken zu der bunten Kunst stehe, gehe ich die Mühlenstraße in Richtung Jannowitzbrücke entlang. „Gehe so lange geradeaus, bis Dir jemand mit einem Hut, einem Tattoo oder einem Tier entgegenkommt. Mache mit dieser Person ein Foto“, ist danach die Aufgabe. Ich laufe weiter, bis mir ein junger Mann mit seiner Begleitung entgegenkommt.

Eine Art Stern und ein kreisförmiges Gebilde prangen als Tattoos auf dem rechten Unterarm des Mannes. Ich spreche ihn an. Andy ist aus Belgien. Er und seine Freundin, eine Lehrerin, sind lediglich für drei Tage in der Stadt. Als Innenarchitekt hat Andy ein Auge für alles Schöne. Man sei in ein paar Galerien gewesen. An diesem Morgen hängt das Pärchen allerdings etwas durch. Viel geschlafen habe man nicht, sagt Freundin Ine. Beide waren in der Nacht feiern, im „KitKatClub“. „Wenn man in Berlin ist, muss man auch mal etwas Verrücktes machen“, sagt Ine. Andy lässt sich mir mir fotografieren. Danach biege ich an der nächsten Kreuzung rechts ab. Das Buch schlägt es so vor.

Selfie mit der Zufallsbegegnung: Morgenpost-Redakteur Dominik Bath (l.) mit Andy aus Belgien.
Selfie mit der Zufallsbegegnung: Morgenpost-Redakteur Dominik Bath (l.) mit Andy aus Belgien. © Dominik Bath

Ich bewege mich auf den Alexanderplatz zu – die nächste Aufgabe. Einen öffentlichen Platz soll ich aufsuchen, mich setzen und um mich herum Gespräche belauschen. Die aufgeschnappten Wortfetzen soll ich auf einer Postkarte notieren und an mich senden. Immerhin ein Souvenir von diesem skurrilen Rundgang, denke ich und steuere zunächst einen Souvenirladen an. Ich kaufe Karte und Briefmarke für 1,70 Euro.

Wie mich Zahlen Berlin neu entdecken lassen

Ich setzte mich an den Brunnen am Alexanderplatz und beobachte. Leute kommen und gehen. Ich notiere drei Sätze, gehe zum nächsten Postkasten und spiele erneut Daumenkino mit dem blau-weißen Zufallsreiseführer. Ich bleibe hängen bei „Höhenflug“. Unter der Stadt soll ich starten und auf Spurensuche gehen „nach schönen Dinge, die nicht zu dem Ort passen wollen“. Einige Meter unter der Erde, im U-Bahnhof Alexanderplatz, fallen mit bei einem Bäcker bunt angemalte Eier in der Auslage auf. Ostern ist doch längst vorbei, denke ich mir.

Die Aufgabe eines der Stadtexperimente: Eine Postkarte nach Hause zu schicken.
Die Aufgabe eines der Stadtexperimente: Eine Postkarte nach Hause zu schicken. © Dominik Bath

Danach folge ich den Anweisungen des Reiseführers: Gehe eine Ebene höher, biege nach rechts ab und an der dritten Kreuzung wieder nach rechts. Für meinen Weg bedeutet das: Ich passiere das Rote Rathaus und laufe dann am Humboldt-Forum entlang auf die Prachtstraße Unter den Linden zu. „Sobald Du eine Treppe oder Brücke entdeckst, folge ihrem Weg“, lese ich. Als erste Überführung begegnet mir die Brücke an der James-Simon-Galerie. Ich gehe in Richtung Friedrichstraße und soll eigentlich noch hoch hinaus. Da es an Aussichtsplattformen mangelt, stelle ich mich auf eine Parkbank und habe aus meiner Sicht die Aufgabe kreativ gelöst.

Nach einem kurzen Mittagessen bei einem Vietnamesen geht es weiter. Bei dem Stadtexperiment „Jeu à Jeu“ bleibt mein Daumen hängen. Ich soll dafür auf einem Spielplatz starten und dort die Kinder beobachten oder selber wieder eines sein. Nach kurzem Schaukeln auf dem Spielplatz in der Auguststraße soll ich nach links gehen und mich dann à la Bingo von fünf Zahlen leiten lassen. Vorschläge macht das Buch. Ich wähle 1, 2, 9, 21 und 71. Bei der ersten Eisdiele, die mir begegnet, esse ich zwei Kugeln für jeweils 1,90 Euro. Neun Gullydeckel später gehe ich links und wiederhole das nach 71 Schritten erneut. Vor dem Eingang zum St. Hedwig Klinikum in der Großen Hamburger Straße entdecke ich einen Strich auf der Fassade, den ich als „1“ deute und biege rechts ab.

Zufall und Intention: Wie ich einen seltenen Handwerker entdecke und im Gefängnis lande

In der Sophienstraße bleibe ich bei Hausnummer 21 stehen und betrete das angrenzende Geschäft. Anke Schoenherr (57), die Mit-Inhaberin der gleichnamigen Holzblasinstrumente-Werkstatt, begrüßt etwas ungläubig. Dann plaudert sie aber doch. Schoenherr gibt es schon seit 1987. „Damals hatten wir das Glück, einer unter vielen zu sein“, sagt sie mit Blick auf die früher hier angesiedelten Betriebe. Heute sei nur noch Schönherr übrig, auch, weil die Vermieterin „mit sich reden lässt“, wie Anke Schoenherr sagt. In dem Musikinstrumente-Laden kann man sowohl Instrumente kaufen, als auch bauen und reparieren lassen. Die Inhaberin selbst ist Querflötenbauerin, ihr Mann Boris ist auf Klarinetten spezialisiert. Ein gutes Instrument ist nicht günstig. Eine Querflöte aus dem Hause Schoenherr gibt es ab 700 Euro.

Abstecher zu den Musikinstrumentenbauern: Die Inhaber Boris und Anke Schoenherr und Mitarbeiter Christian Tiefengraber (l.).
Abstecher zu den Musikinstrumentenbauern: Die Inhaber Boris und Anke Schoenherr und Mitarbeiter Christian Tiefengraber (l.). © Dominik Bath

Meinen Weg durch die Stadt soll ich dieser Aufgabe zufolge à la Monopoly beenden. Also auf einem Bahnhof, einem Elektrizitäts- oder Wasserwerk oder auch im Gefängnis. Ich lache kurz und erinnere mich an die frühere DDR-Haftanstalt Keibelstraße unweit des Alexanderplatzes. Dort gehe ich hin und klopfe an der Tür von Jan Haverkamp. Der Referent des Lernorts Keibelstraße öffnet. Der frühere Knast ist mittlerweile ein beliebtes Ausflugsziel für Schülerinnen und Schüler. Von seinem Büro aus muss Haverkamp nur durch eine Tür, um Zugang zur Gefängniswelt zu erhalten.

Mitarbeiter Jan Haverkamp im Lernort Keibelstraße – dem früheren Gefängnis des DDR-Innenministeriums.
Mitarbeiter Jan Haverkamp im Lernort Keibelstraße – dem früheren Gefängnis des DDR-Innenministeriums. © Dominik Bath

Der völlig andere Rundgang durch Berlin endet nach meinem Knast-Aufenthalt. Ich habe Menschen getroffen, denen ich sonst nicht begegnet wäre, war an Orten, die normalerweise nicht in Reiseführern stehen. Per Zufall durch die Stadt – das ist durchaus eine gute Alternative für Entdeckungen abseits ausgetretener Touristenpfade.

Was Sie wissen sollten

Wer per Zufall seine Stadt kennenlernen will, kann sich auch selbst kleine Aufgaben ausdenken. Nicht zwangsläufig ist dafür das Buch „Reiseführer des Zufalls“ nötig. Darin allerdings finden sich sowohl die als „Stadtexperimente“ bezeichneten Rundgänge, als auch Anregungen. Erschienen ist das 154 Seiten starke Werk im Kommode-Verlag. Es kostet 17 Euro.

Ein „Stadtexperiment“ geht zum Beispiel so:

„Paparazzo“

Starte an einer Sehenswürdigkeit.

Fotografiere sie von allen Richtungen, aber mit dem Rücken zu ihr.

Verlasse den Ort nach links. Mache auf deinem Weg alle fünf Minuten ein Foto, egal wo Du gerade bist.

Gehe so lange geradeaus, bis Dir jemand mit einem Hut, einem Tattoo oder einem Tier entgegenkommt.

Mache mit dieser Person ein Foto. Danach an der nächsten Kreuzung rechts abbiegen.

Setze Dich auf einen öffentlichen Platz. Belausche die Gespräche um dich herum. Schreibe drei Sätze auf eine Postkarte. Schicke sie an dich selbst.

Die in diesem Spaziergang besuchten Orte waren:

East Side Gallery

Die dauerhafte Freiluft-Galerie befindet sich auf dem längsten noch erhaltenen Teilstück der Berliner Mauer in der der Mühlenstraße zwischen dem Ostbahnhof und der Oberbaumbrücke. Der Ort ist bei Touristen ein außerordentlich beliebtes Fotomotiv. 118 Künstler aus 21 Ländern haben die Motive gemalt.

Holzblasinstrumente Schoenherr

Die Meisterwerkstatt befindet sich seit 1987 in der Sophienstraße in Berlin-Mitte. Kunden können nicht nur Instrumente kaufen, sondern kaputte Blockflöten oder Klarinetten auch reparieren lassen.

Lernort Keibelstraße

Das Ministerium des Inneren nutzte das Gefängnis als Untersuchungshaftanstalt. Heute ist der Ort für Schulklassen zugänglich. Öffentliche Führungen finden nach Voranmeldung jeden ersten und dritten Sonntag im Monat statt.