Berlin. Insgesamt 1.222.955-mal klingelte es im vergangenen Jahr in der Leitstelle der Berliner Feuerwehr – so häufig wie nie zuvor. Damit hat im Schnitt alle 26 Sekunden ein Berliner oder eine Berlinerin die 112 gewählt. Nicht der einzige Rekord, den die Behörde 2022 verzeichnetet. So mündeten die Notrufe in insgesamt 528.895 Einsätzen – fast 37.000 oder 7,5 Prozent mehr als noch 2021 (492.226). Damit wurde erstmals die Marke von einer halben Million überschritten, wie es im Jahresbericht der Feuerwehr heißt, der am Montag vorgestellt wurde. „Die Einsatzkräfte wurden 2022 an die Grenzen der Leistungsfähigkeit und zum Teil darüber hinaus geführt“, sagte Landesbranddirektor Karsten Homrighausen.
Lesen Sie auch: Großer Andrang bei der Feuerwehr sorgt für Probleme
In mehrerer Hinsicht war 2022 für die Berliner Feuerwehr ein besonderes und besonders forderndes Jahr. Die Explosionen auf dem Sprengplatz der Polizei im Grunewald und der darauffolgende Waldbrand lösten den längsten Einsatz seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Vom 4. bis zum 31. August kämpften 716 Feuerwehrkräfte fast 28 Tage durchgehend gegen die Flammen. Ein halbes Jahr zuvor waren es gleich drei aufeinanderfolgende Stürme, die Ende Februar über Berlin hinwegfegten und entsprechende Schäden hinterließen. „In dieser Häufigkeit und Heftigkeit gab es das bisher nicht“, so Homrighausen weiter. Der Klimawandel zwinge die Feuerwehr, sich auf veränderte Szenarien einzustellen.
Spranger: Die 112 muss Notfällen vorbehalten sein
Ein weiteres Problem der Feuerwehr sind unnötige Alarmierungen. Die 112 wird zunehmend auch bei kleineren, nicht lebensbedrohlichen Vorfällen gewählt. Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) appellierte, den Notruf für Notfälle frei zu halten. Er müsse „lebensgefährlich verletzten und erkrankten Personen zur Verfügung stehen“.
Rettungsdiensteinsätze machen seit jeher den Großteil der Arbeit der Feuerwehr aus – so auch 2022. Von den knapp 530.000 Einsätzen galten 474.681 der sogenannten medizinischen Gefahrenabwehr – darunter 407.555 Notfallrettungen, rund 37.000 Krankentransporte und knapp 30.000 Fehleinsätze. Nur 9578 der Einsätze galten Bränden – jedoch rund 40 Prozent mehr als im Vorjahr (6843). Hier mache sich die Silvesternacht 2022/23 bemerkbar, in der anders als in den Vorjahren wieder Feuerwerk erlaubt war, so Landesbranddirektor Homrighausen.
Der Jahreswechsel markiert allerdings in einer anderen Hinsicht eine deutliche Zäsur für die Feuerwehr. Von den 140 Bedrohungen, Angriffen, Sachbeschädigungen oder Beleidigungen ereigneten sich 69 Attacken in der Silvesternacht. Feuerwehrleute wurden teils in Hinterhalte gelockt und mit Feuerwerkskörpern, Flaschen oder Messern gezielt angegriffen. Es gab 15 Verletzte und 30.000 Euro Schaden. Homrighausen sprach von einer neuen „Qualität der Übergriffe“. Erstmals habe er von Einsatzkräften gehört, dass sie Angst gehabt hätten. „Wir sind die Lebensversicherung der Menschen in dieser Stadt. Wenn wir geschwächt werden, wird die Lebensversicherung geschwächt.“ Innensenatorin Spranger nannte es eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, sich gegen Übergriffe wie diese zu stellen und kündigte die großflächige Ausrüstung der Feuerwehrkräfte mit Bodycams an.
Rettungswagen brauchte im Schnitt 11,1 Minuten
Im Krisenjahr 2022 musste die Berliner Feuerwehr fast jeden Tag den Ausnahmezustand im Rettungsdienst ausrufen – nicht zuletzt weil aufgrund des Personalmangels rechtliche Vorgaben nicht mehr erfüllbar waren. Im Ergebnis brauchten die Rettungswagen deutlich länger zum Hilfesuchenden, womit man „nicht zufrieden und nicht einverstanden“ sei, sagte der Feuerwehrchef. Im Schnitt 11,1 Minuten. Seit Ende April kann die Feuerwehr von den rechtlichen Vorgaben abweichen. Statt eines Notfall- kann nun auch ein geringer qualifizierter Rettungssanitäter auf dem Rettungswagen fahren. „Dann kommt wenigstens jemand“, so der Feuerwehrchef.
Die Abweichungsverordnung habe bislang verhindert, dass 2023 ähnlich katastrophale Verhältnisse herrschen, wie im vergangenen Jahr, heißt es von der Deutschen Feuerwehrgewerkschaft (DFeuG). Doch das habe seinen Preis, da das Personal woanders abgezogen werde. „Die Brandbekämpfung liegt brach wie nie zuvor, sagt der Berliner DFeuG-Vorsitzende Lars Wieg. „Sonderfunktionen, wie CBRN (Chemische, Biologische, Radiologische und Nukleare Gefahren Anm. d. Red.) sind nicht mehr leistungsfähig. Dieser Mangel an Sicherheit für die Stadt darf, wenn überhaupt, nur für einen kurzen Übergang hin zur angemessenen Personalausstattung geduldet werden.“
„Die ersten kleinen Weichenstellungen sind erfolgt, aber die umfassende Novellierung des Rettungsdienstgesetzes ist nach wie vor bitternötig“, sagt Oliver Mertens aus dem Berliner Landesvorstand der Gewerkschaft der Polizei, die auch Feuerwehrleute vertritt. Während sich die Feuerwehr auf ihre „ureigene Aufgabe“ der Notfallrettung konzentrieren müsse, gelte es „andere Institutionen wie private Krankentransporteure sowie die Kassenärztliche Vereinigung mehr in die Pflicht zu nehmen und weiter daran zu arbeiten, die Selbsthilfefähigkeit in der Bevölkerung zu stärken.“
Im Doppelhaushalt nur knapp 70 neue Stellen für die Feuerwehr vorgesehen
Der Berliner Rechnungshof attestierte der Feuerwehr im vergangenen Herbst, dass sie nur „bedingt einsatzbereit“ sei. Neben 90 weiteren Fahrzeugen brauche es 1000 Dienstkräfte mehr, hieß es. Innensenatorin Spranger hat für den Doppelhaushalt 2024/25 über 700 Stellen beantragt. Im Haushaltsentwurf, der am Dienstag im Senat beschlossen werden soll, sind jedoch lediglich 65 vorgesehen. Damit könne er wenig anfangen, kritisierte der Feuerwehrchef. Senatorin Spranger versprach, sich für mehr Stellen einsetzen zu wollen.