Märzrevolution

„Grundstein für die moderne Demokratie wurde 1848 gelegt“

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Straßenbarrikade in Berlin-Mitte während der Märzrevolution 1848, festgehalten in einer Lithographie von Louis Veit.

Straßenbarrikade in Berlin-Mitte während der Märzrevolution 1848, festgehalten in einer Lithographie von Louis Veit.

Foto: bpk / Staatsbibliothek zu Berlin

Historiker Rüdiger Hachtmann erläutert im Interview mit der Morgenpost, warum die Erinnerung an 1848 immer noch so wichtig ist.

Berlin.  Freiheit und Demokratie, um diese Ideale wurde im Europa des 19. Jahrhunderts viel gestritten. In Berlin gab es am 18. und 19. März 1848 blutige Straßenkämpfe und Barrikaden, etwa auf der Jägerstraße oder am Alexanderplatz. Wie blicken wir heute auf die historische Revolutionszeit in Deutschland zurück? Berlin war neben Paris und Wien ein Hauptschauplatz der europäischen Revolution von 1848.

Der Historiker Rüdiger Hachtmann (70), Senior Fellow am Zentrum für Zeitgeschichte in Potsdam und außerplanmäßiger Professor der Technischen Universität (TU) Berlin, hat viele Publikationen zur Demokratiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts verfasst. 2022 erschien von ihm „1848. Revolution in Berlin“ (Bebra-Verlag, 240 Seiten, 26 Euro). Im Gespräch mit der Morgenpost geht er auf die dramatischen Ereignisse des Revolutionsjahres und ihre gesellschaftlichen Zusammenhänge ein.

Die Märzrevolution in Berlin ist 175 Jahre her. Warum soll man sich heute noch damit beschäftigen? Was ist daran auch für jüngere Menschen in Berlin heute noch wichtig?

Der Grundstein für die moderne Demokratie wurde 1848 gelegt, auch wenn die revolutionäre Bewegung mit vielen ihrer Anliegen damals gescheitert ist. Wir haben, gerade in Berlin, zahlreiche Orte und Gedenkstätten, die an die ungeheuerlichen Verbrechen des NS-Regimes und das Unrecht des SED-Staates erinnern. Diese sind und bleiben auch in Zukunft notwendig. Leicht vergessen wird aber darüber hinaus, dass auch und gerade die Berliner vor 175 Jahren vehement für demokratische Freiheiten und soziale Rechte gekämpft haben.

Wer hat da mitgekämpft?

In besonderem Maße Jugendliche und junge Erwachsene. Sie engagierten sich am 18. März 1848 und in den anschließenden Revolutionsmonaten in dem Bewusstsein, dass Freiheiten nicht „von oben“ gnädig gewährt, sondern „von unten“, durch die breite Bevölkerung, immer wieder von Neuem durchgesetzt werden müssen. Demokratie lässt sich nicht bloß konservieren, sie muss gerade von den jüngeren Generationen immer wieder neu erkämpft werden. Dies ist angesichts des aktuellen Aufschwungs rechtspopulistischer Bewegungen und der Etablierung rechtsautoritärer Regierungen besonders wichtig.

Lassen sich eigentlich Parallelen ziehen zwischen den damaligen Revolutionären und den heutigen Aktivisten der „Letzten Generation“, die beispielsweise Straßen blockieren und den Staat kritisieren?

Jein. 1848 gab es keine Demokratie. Die politische Unterdrückung durch den monarchischen Obrigkeitsstaat war überall zu spüren. Dessen politische Reformunfähigkeit machte die Revolution notwendig. Damals und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ließen sich die politisch-gesellschaftlichen Weichen allerdings noch umstellen. Die Aktivisten von „Fridays for Future“, der „Letzten Generation“ und überhaupt sehr viele Menschen fürchten, dass die auf uns zukommenden ökologischen Katastrophen schon bald unumkehrbar, nicht mehr aufzuhalten sein könnten. Die jungen Leute haben recht, wenn sie glauben, dass gerade die parlamentarischen Demokratien besonders auf diesem Feld ihre Fähigkeit zu grundlegenden, wenn man so will: revolutionären Reformen umgehend und unbedingt unter Beweis stellen müssen.

Über den 18./19. März 1848 schrieb der Schriftsteller Karl August Varnhagen: „Diese eine Nacht ist ein Kapitel der Weltgeschichte, das schwerer wiegen dürfte als manches Jahrzehnt.“ Inwiefern wurde damals tatsächlich „Weltgeschichte“ geschrieben, vor allem mit Blick auf Berlin?

Hinter der Bemerkung Varnhagens steht zunächst die Erschütterung des Zeitzeugen darüber, dass fundamentale Reformen so blutig erkämpft werden mussten. Mit knapp 300 Toten forderte die Märzrevolution weit mehr Opfer als die Kämpfe am 24. Februar in Paris und am 13. März in Wien. Gleichzeitig macht Varnhagen mit diesem Satz auf die europäische Dimension der Revolution aufmerksam. In den meisten Staaten des Kontinents kam es 1848 und 1849 zu revolutionären Umbrüchen, in den anderen zu Reformschüben, mit Ausnahme des zaristischen Russlands. Von „Weltgeschichte“ lässt sich mit einer gewissen Berechtigung nicht nur deshalb sprechen, weil die europäischen Mächte mit ihren Kolonien damals der „Nabel der Welt“ waren. Darüber hinaus wurden die Ereignisse auch außerhalb Europas, nicht zuletzt in der „Neuen Welt“, namentlich in den USA, gebannt verfolgt.

Was hat sich durch die Märzrevolution in Berlin konkret verändert?

Vor allem drei Aspekte sind wichtig. Zwar hatte sich Berlin im Vormärz zur Großstadt gemausert, von gut 180.000 Einwohnern im Jahre 1820 auf 410.000 knapp zwanzig Jahre später. Die Stadt platzte buchstäblich „aus allen Nähten“. Gleichwohl blieb Berlin auch aufgrund des Versammlungs- und Vereinigungsverbotes sowie der Zensur, und trotz der teils vehementen Opposition dagegen, in den Augen vieler Zeitgenossen bis Anfang 1848 eine verschlafene Hohenzollernresidenz. In den Revolutionsmonaten wurde sie, erstens, kräftig durchlüftet. Erst 1848, so resümierte der Journalist Robert Springer 1849, habe „die ungehinderte Bewegung des Volkes“ das erste Mal in seiner Geschichte „wahrhaft großstädtisches Leben hervorgebracht“.

Und was noch?

Zweitens wurde Berlin 1848/49 zur informellen Hauptstadt Deutschlands. Besonders sichtbar wurde dies am 3. April 1849, als der Hohenzollernkönig die ihm von den Abgeordneten der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main angetragene Kaiserwürde als „Krone aus Lumpen und Letten“ verächtlich ablehnte. Drittens, und vor allem, wurde Berlin seit März 1848 zur dritten Metropole auf dem europäischen Kontinent, neben Paris und Wien. Und schließlich wuchs Berlin seitdem politisch und kulturell zur Weltstadt heran.

Wo in Berlin kann man sich besonders anschaulich über die Märzrevolution informieren? Ist der Friedhof der Märzgefallenen im Volkspark Friedrichshain ein guter Ort dafür?

Ja. Der Friedhof der Märzgefallenen ist vor allem aus zwei Gründen sogar ein herausragender Ort dafür. Einmal, weil durch diese authentische, also nicht im Nachhinein „künstlich“, sondern gleich zum Revolutionsbeginn am 22. März 1848 geschaffene Gedenkstätte so gut wie an keinem anderen Ort auf dem Kontinent an die Bewegung für Freiheit und Demokratie in ganz Europa erinnert werden kann.

Denn Berlin war ja nicht allein die informelle Hauptstadt Deutschlands, sondern, wie gesagt, eine der drei europäischen Revolutionsmetropolen. Zum anderen erinnert der Friedhof der Märzgefallenen auch an die zweite, demokratisch-sozialistische Revolution in Deutschland. Denn hier wurden im November und Dezember 1918 ja außerdem 29 getötete Revolutionäre und Zivilisten bestattet. Der Friedhof ist also, wenn man so will, ein doppelter Grundstein der deutschen und europäischen Demokratie.

Auch andere Stellen Berlins verweisen auf die Revolution von 1848?

Ja, einiges ist schon geschehen: die Benennung der Fläche zwischen Brandenburger Tor und Tiergarten in „Platz des 18. März“, der außerdem – neben der Erinnerung an die ersten demokratischen Wahlen in der DDR – auch auf die europäischen Dimensionen der radikalen Demokratiebewegungen des 19. Jahrhunderts aufmerksam macht. Denn am 18. März wurde, im Jahr 1871, auch die Pariser Commune ausgerufen.

Auch weitere Orte ließen sich, über die teilweise bereits angebrachten Gedenktafeln hinaus, stärker ins allgemeine Bewusstseins rücken. Ich denke dabei an den Gendarmenmarkt und den Deutschen Dom, vor dem die Märzgefallenen am 22. März aufgebahrt wurden, an das Berliner Zeughaus, jetzt Sitz des Deutschen Historischen Museums, in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1848 Ort des Zeughaussturms, einer spontanen Aktion, mit der die Unterschichten die versprochene, ihnen jedoch vorenthaltene Volksbewaffnung auf eigene Faust verwirklichen wollten – oder an die Singakademie, in der die im Vergleich zur Paulskirche deutlich fortschrittlichere Preußische Nationalversammlung seit dem 22. Mai tagte.