Berlin. Es ist ein Vorhaben, das deutschlandweit als einmalig gilt, aber nicht unumstritten ist: das Modellprojekt parkplatzfreier Graefekiez. In dem Viertel in Friedrichshain-Kreuzberg, in dem rund 20.000 Menschen leben, sollen während eines Tests Pkw-Stellplätze temporär umgenutzt werden, so hat es die Bezirksverordnetenversammlung im vergangenen Sommer mehrheitlich beschlossen. Das Bezirksamt hat nun den konkreten Rahmen vorgestellt, wie eine Realisierung in den kommenden Monaten erfolgen soll. Damit ist auch klar: Ganz so radikal, wie zunächst angedacht, wird es nicht.
Denn während des Modellprojekts werden in dem Kiez doch nicht alle Parkplätze für private Fahrzeuge wegfallen. Die Rede ist jetzt von bis zu 400 der insgesamt rund 2000 Stellplätze, die umgenutzt werden sollen. Etwa 80 davon befinden sich im gewählten Kernbereich des Vorhabens in der Graefe- und Böckhstraße. Hintergrund ist dabei die rechtliche Lage, wie die zuständige Verkehrsstadträtin Annika Gerold (Grüne) erklärte. Das Projekt soll auch gegen eventuelle Klagen von Anwohnern Bestand haben. Dass das Vorhaben auch auf Widerstand trifft, hatte bereits ein Einwohnerantrag gezeigt, dessen Unterstützer den Wegfall der Parkplätze verhindern wollen.
Friedrichshain-Kreuzberg: Verkehrssicherheit vor Schulen erhöhen
Da für den gesamten Graefekiez nur eine durchschnittliche Gefährdungslage attestiert wird, fehlt nach Ansicht der Experten auf Basis der Straßenverkehrsordnung die Grundlage, sämtliche Stellplätze zu streichen. „Ich möchte, dass wir 2023 etwas auf die Straße bringen, dass wir nicht blockiert werden durch rechtliche Auseinandersetzungen“, sagte Gerold am Dienstagnachmittag zur Begründung, warum das Konzept angepasst wurde.
Für den gewählten Kernbereich sehen die Projektverantwortlichen eine besondere Situation: Dort gibt es seit mehr als 40 Jahren einen verkehrsberuhigten Bereich und mehrere Schulstandorte, darunter die Lemgo-Grundschule. Erlaubt ist damit eigentlich nur Schritttempo, doch gefahren wird oft schneller – laut Gerold halten sich im Bereich vor der Grundschule weniger als zehn Prozent an die Geschwindigkeitsbegrenzung.
13 Jelbi-Standorte der BVG im Graefekiez geplant
Ursache ist nach Bewertung des Bezirksamts auch, dass die angeordnete Verkehrsberuhigung baulich nicht konsequent umgesetzt wurde. Die Rede ist von einem „gebauten Missverständnis“, das Folgen für die Verkehrssicherheit hat. Bei der Umnutzung der Parkplätze in dem Areal wird sich deshalb nun einerseits auf die besondere Gefährdungslage vor den Schulen berufen, andererseits auf einen Paragrafen der Straßenverkehrsordnung, wonach die Straßenverkehrsbehörde die notwendigen Anordnungen „zur Unterstützung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung“ treffen kann.
Geplant ist, in dem Kerngebiet Parkplätze unter Beteiligung der Anwohnerinnen und Anwohner beispielsweise für Parklets oder Bepflanzungen umzunutzen. Ab Mai sollen Stellflächen dazu teilweise auch entsiegelt werden. „Wir wollen die Straßen umgestalten und sie an den Klimawandel anpassen“, erklärte Gerold. Im gesamten Kiez soll es ergänzende Maßnahmen geben, darunter eine deutliche Ausweitung der Liefer- und Ladezonen sowie die Einrichtung von Jelbi-Standorten. An den Stationen, die von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) realisiert werden, können Sharing-Fahrzeuge ausgeliehen und abgestellt werden. Insgesamt sind 13 Standorte im Graefekiez geplant, die ab April entstehen sollen.
Sperre soll Durchgangsverkehr aus dem Kiez raushalten
Vorgesehen ist außerdem eine Durchfahrtssperre am Hohenstaufenplatz, wodurch das Abkürzen durch das Wohngebiet vom Kottbusser Damm zur Urbanstraße verhindert werden soll. „Es geht darum, die Verkehrssicherheit in den Fokus zu stellen, den Gewerbeverkehr zu stärken und den Zugang zu geteilter Mobilität stark zu verbessern“, sagte Gerold zusammenfassend. Welche der umgesetzten Maßnahmen schlussendlich beibehalten werden, sollen im kommenden Frühjahr die Bezirksverordneten entscheiden.
Begleitend wird das Projekt unter Koordination des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) erforscht. Es gehe um die Frage, ob durch die Umnutzung der Parkflächen tatsächlich der Verkehr und die Zahl der Autos reduziert werden kann, sagte Mobilitätsforscher Andreas Knie. „Wir untersuchen hier eine Push- und Pull-Maßnahme.“ Das heißt: Auf der einen Seite gibt es Angebote, ohne Auto auszukommen, wie durch die neuen Jelbi-Punkte. Auf der anderen Seite werden die Möglichkeiten beschränkt, sein eignes Auto zu parken. Dazu sind Befragungen, aber auch Verkehrsmessungen vorgesehen.
Autofreier Graefekiez: Anwohner weichen auf Parkhaus aus
Für die Anwohner plant der Verein Paper Planes außerdem feste Sprechstunden sowie eine erste größere Veranstaltung am Wochenende um den 22. April. Auf Basis der Erfahrungen im Kerngebiet sollen der Verein und das WZB gemeinsam ab dem Herbst ein Freiraumkonzept für den gesamten Graefekiez entwickeln. Dabei haben sich erste Auswirkungen der Pläne schon gezeigt, bevor die Umsetzung überhaupt begonnen hat: Während ein Parkhaus am Hermannplatz kürzlich noch 400 freie Stellplätze hatte, sind es nach Angaben des Bezirks jetzt nur noch 100. Parkplätze können dort für 50 Euro im Monat gemietet werden.