Berlin. Noch während des Vortrags der Strafanzeige durch den vorsitzenden Richter ließ der Angeklagte am Donnerstag die Bombe platzen. Ganz langsam, während die Sitzblockade, an der er sich am 18. März 2022 auf der Kronprinzenrücke in Mitte beteiligt haben soll, noch beschrieben wurde, hatte Henning Jeschke den Klebstoff hervorgeholt und sich mit einem Ruck an seinem Tisch festgeklebt. Allerdings erst, nachdem er sein Handy hervorgeholt hatte – um die Aktion live ins Internet zu stellen. „Ich kann nicht anders, weil mir der Rechtsstaat am Herzen liegt“, sagte der 23-jährige Jeschke, ein führender Kopf der Klimaaktivistengruppe „Letzte Generation“ und einer ihrer Gründungsmitglieder, im Gerichtsraum D17 des Berliner Amtsgerichts Tiergarten.
Dies hier sei bereits seine sechste Verhandlung, doch nie werde bei diesen Terminen über die Folgen der Klimakatastrophe für die Erde und die menschliche Gesellschaft gesprochen, beklagte er. Stattdessen aus seiner Sicht über Nichtigkeiten wie die Beschaffenheit des Klebers, den die Aktivisten für ihre Protestaktionen verwendeten. Im Anschluss musste die Verhandlung mehrmals unterbrochen werden.
Vorwurf: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Nötigung
Es war nur der Auftakt eines skurrilen Gerichtskrimis, den in dieser Form wohl niemand erwartet hätte. Und der damit endet sollte, dass Jeschke mitsamt dem Tisch des Saales und schließlich auch des Gebäudes verwiesen wurde. Am Donnerstag stand der 23-Jährige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Nötigung und gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr vor Gericht.
Bereits im vergangenen Jahr war er zu einer 200 Euro Geldstrafe verurteilt worden – weil er seine Hand mit Sekundenkleber auf den Asphalt geklebt und dadurch den Straßenverkehr gestört hatte. „Viele wollen es hier in diesem Raum nicht hören, aber wir müssen über den Klimanotfall sprechen“, sagte er kurz nach seiner neuerlichen Klebe-Aktion. Das reichste Prozent befeuere die Katastrophe für nichts als schnellen Profit – in vollem Bewusstsein der tödlichen Konsequenzen, so Jeschke. „Die wahren Kriminellen müssen wir zur Gerechtigkeit ziehen“.
Klimakleber: Amtsgericht Tiergarten lehnt zwei Sachverständigengutachten ab
Der Aktion vorausgegangen war der letztlich gescheiterte Versuch seines Verteidigers, zwei Beweisanträge einzubringen, den Klimawissenschaftler Hans Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und des Protestforschers Simon Teune von der Freien Universität Berlin als Sachverständige für Gutachten zu laden. Schellnhubers Gutachten sollte über die wissenschaftliche Tatsache der schweren Folge der Klimakatastrophe und die Wichtigkeit der Einhaltung der Pariser Klimaziele für die Menschheit Auskunft gegeben, Teunes darüber, dass der zivile Ungehorsam ein geeignetes und demokratisches Mittel sei, einen Paradigmenwechsel bei den Entscheidungsträgern in Sachen Klimapolitik zu erreichen. Beide Gutachten lehnte der Richter aber ab. Die Begründung: für den Tatbestand nicht relevant.
„Wir müssen das Recht auf Leben achten“, begründete Jeschke seine Aktion derweil noch im Vorsaal des Gerichts. Doch da wurde die Verhandlung schon ohne ihn fortgesetzt. „Während ich für diese Forderung verurteilt werde, zerstören einige Konzerne, die hier eigentlich sitzen müssten, frei weiter das Klima und damit die Gesellschaft.“ Die Reichen bohrten weiter nach Öl und bauten sich Bunker. „Sie wissen von dem Leid und dem Tod“, so Jeschke. „Wir wissen das alle seit Jahrzehnten. Und es wird weiter gemacht.“
Jeschke wird von 40 Wachmännern und Polizisten bewacht
Schon in der Verhandlung hatte Jeschke immer wieder den Konflikt mit dem Richter gesucht, gestört und ihn trotz mehrmaligen Verwarnungen unterbrochen. Dass er hier minutiös Polizeiberichte vorgelesen bekäme, sei nicht zielführend, sagte Jeschke etwa, vielmehr müsse man über die „wahren Schuldigen“ und Probleme sprechen.
Schließlich wurde der Aktivist aufgrund dieses Verhaltens und trotz der Beschwerde seines Rechtsanwalts aus seiner eigenen Verhandlung ausgeschlossen und von etwa 40 Wachmännern und Polizisten – die zwischen Fassungslosigkeit, Wut und Amüsement schwankten – aus dem Saal getragen. Genauer gesagt wurde der Tisch getragen, während Jeschke neben ihm herlief. Schlussendlich wurde ihm für den Tag sogar ein Hausverbot erteilt. Jeschke lehnte darauf alle Vorschläge der Anwesenden ab, ihn von dem Tisch zu lösen. Weshalb er das Gebäude auch weiter angeklebt und gemeinsam mit dem Tisch verließ. Das Amtsgericht ließ derweil verlauten, gegebenenfalls auf die Rückforderung des Tisches zu verzichten.
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Henning Jeschke: Neue Klebeaktionen im Gericht sind nicht ausgeschlossen
Bereits im Vorfeld der Verhandlung wirkte der Angeklagte gefasst, mit sich voll im Reinen und dennoch auch mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache, so als ginge er seinen großen Coup schon im Kopf durch. Anwesenden Journalisten nickte er freundlich zu. Gekleidet in einem Hemd, das sich der schlanke Jeschke immer wieder in die Hose stopfen musste, erschien er gemeinsam mit einer Begleiterin. Kurz vor Beginn der Verhandlungen tuschelten die Beiden angeregt miteinander, schienen sich gegenseitig bestärken zu wollen. Auch vor und während der Aktion suchte Jeschke den Blickkontakt mit der jungen Frau, die ihm im Anschluss dabei half, mit dem Tisch im Gepäck zur nächsten Bushaltestelle zu laufen.
Auch der Prozess läuft indes weiter. Nächster Verhandlungstag ist der 9. März. „Was kann ich denn erwarten?“, fragte der Richter Jeschkes Verteidiger noch zum Abschluss. „Geht das jetzt jedes Mal auf diesem Niveau weiter?“. Das könne er nicht sagen, so die lapidare Antwort des Anwalts. Er sei nicht der Erziehungsberechtigte seines Mandanten.
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