Vor 80 Jahren ermordet

Berliner Kinderbuchautorin Else Ury starb in Auschwitz

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Sibylle Haberstumpf
Die Nesthäkchen-Reihe von Else Ury war vor rund 100 Jahren bei Mädchen äußerst beliebte Literatur, 1983 strahlte das ZDF eine gleichnamige, ebenfalls beliebte TV-Serie aus.

Die Nesthäkchen-Reihe von Else Ury war vor rund 100 Jahren bei Mädchen äußerst beliebte Literatur, 1983 strahlte das ZDF eine gleichnamige, ebenfalls beliebte TV-Serie aus.

Foto: Birgit Schweizer / WAZ FotoPool

Vielen Berlinern sind ihre Bücher noch ein Begriff: Else Ury erfand das „Nesthäkchen“. So wird der 1943 ermordeten Autorin gedacht.

Berlin.  Sie schrieb Bücher, die in Deutschland vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein junges, weibliches Lesepublikum in den Bann zogen. Oft zeigten sie eine heitere Kinderwelt. Ihr eigenes Leben endete jedoch auf furchtbare Weise: Die Berliner Kinderbuchautorin Else Ury starb vor 80 Jahren, am 13. Januar 1943, mit weiteren Berliner Bürgern jüdischen Glaubens in einer Gaskammer des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.

In Berlin finden sich heute noch Spuren ihres Lebens. In Charlottenburg erinnert beispielsweise eine kleine, aber bekannte und meist sehr belebte Gasse an die Schriftstellerin: der Else-Ury-Bogen. In der Passage zwischen der Bleibtreustraße bis zum Savignyplatz hat etwa die Autorenbuchhandlung ihren Sitz, ein paar Schritte weiter liegt auch die Buchhandlung Bücherbogen, und Szenen des Films „Cabaret“ mit Liza Minelli wurden dort gedreht. Ein Stolperstein zum Andenken an Else Ury wurde in der Solinger Straße 10 in Moabit verlegt. Und an der Kantstraße 30 ist eine Gedenktafel für sie angebracht. Ury wohnte dort von 1905 bis 1933.

„Nesthäkchen“ lief 1983 auch als Fernsehserie im ZDF

Else Ury war Jüdin, geboren am 1. November 1877 in Mitte. Unvergessen ist sie in Deutschland vor allem, weil sie die „Nesthäkchen“-Reihe erfand – eine zehnbändige Mädchenbuchreihe. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschien mit „Nesthäkchen und ihre Puppen“ der erste Band. Bis 1925 kamen weitere neun Bände heraus. Nach der Idee dieser Bücher entstand Jahrzehnte später auch die gleichnamige Fernsehserie „Nesthäkchen“, die 1983 mit bekannten TV-Gesichtern wie Evelyn Hamann oder Susanne Uhlen im ZDF ausgestrahlt wurde.

Else Ury war zum Zeitpunkt ihres Todes 65 Jahre alt, war ehelos und hatte keine Kinder. Sie war die einzige aus ihrer Familie, die 1943 noch in Berlin lebte. Zwei ihrer Geschwister wanderten rechtzeitig aus Deutschland aus, ihr Bruder Hans beging 1937 Suizid, ihre Mutter starb 1940. Von den Nationalsozialisten war Ury entrechtet worden – bis hin zur Einziehung ihres Vermögens „zugunsten des Deutschen Reiches“ im Januar 1943. Als Jüdin bekam sie den Status „Reichsfeindin“.

Gedenken um 11 Uhr auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee

Die Schriftstellerin Marianne Brentzel (Jahrgang 1943) hat eine Biografie über Ury mit dem Titel: „Mir kann doch nichts geschehen. Das Leben der Nesthäkchenautorin Else Ury“ verfasst, um an das Werk der Berliner Autorin und ihr Schicksal im Dritten Reich zu erinnern. Else Ury sei, heißt es in Brentzels Recherche, „nach 20-stündiger Fahrt im Güterwaggon von den nationalsozialistischen Henkern in die Gaskammer getrieben und ermordet“ worden.

Am Freitag, 13. Januar, 11 Uhr, lädt die Biografin mit einem Literatur-Seminar der Humboldt-Universität (HU) zum Gedenken an Else Ury auf den Jüdischen Friedhof Weißensee ein. Treffpunkt am Friedhofseingang, Herbert-Baum-Straße 45, 13088 Berlin.Am Sonnabend, 14. Januar, 19 Uhr, liest Marianne Brentzel in der Buchhandlung Primo, Herderstraße 24, 12163 Berlin, aus ihrer Ury-Biografie.

Brentzels Buch erschien erstmals 1992, damals noch unter dem Titel „Nesthäkchen kommt ins KZ – Eine Annäherung an Else Ury“. Die Biografin ist der Meinung: „Alle Welt kennt Nesthäkchen. Mit einer Auflage von fast sieben Millionen zählen diese Mädchenbücher zu den vertrautesten des 20. Jahrhunderts. Doch das Schicksal der Autorin Else Ury lag lange Zeit im Dunklen.“ Wie Brentzel berichtet, musste sich Ury am 6. Januar 1943 in der Deportationssammelstelle in der Großen Hamburger Straße 26 in Berlin einfinden – und wurde am 12. Januar 1943 bei der Deportation von Juden aus Deutschland im 26. sogenannten „Osttransport“ des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) nach Auschwitz gebracht.

Ury sei nicht als Häftling registriert, sondern direkt nach ihrer Ankunft in eine Gaskammer geführt worden, so Brentzel. Insgesamt brachten die Nationalsozialisten in Auschwitz-Birkenau mindestens 1,1 Millionen Menschen um. Im Jahr 1995 wurde Else Urys Koffer in dem ehemaligen Konzentrationslager entdeckt, der die Inschrift trägt: „Else Sara Ury/Berlin – Solinger Str. 10“. Sara war der von den NS-Behörden einheitlich angeordnete Zwangsname für jüdische Deutsche. Ihr Koffer wird heute im Museum Auschwitz verwahrt.

„Nesthäkchen“-Bände sind im Originaltext online kostenlos verfügbar

Da die Figur der Annemarie Braun – das „Nesthäkchen“ – als Kind einer gut situierten bürgerlichen Familie angesiedelt war, wird Else Ury zugeschrieben, sie habe ein traditionelles Familien- und Frauenbild vertreten und vermittelt. Ury sei eine „unpolitische, konservative Frau“ gewesen, meint Marianne Brentzel. Die Literaturwissenschaftlerin Carmen Stange von der HU beschäftigte sich zuletzt in ihrem Seminar „Else Ury: Berlinerin, Kinderbuchautorin, Jüdin“ mit der Schriftstellerin.

Kaum bekannt sei ihr zufolge, dass Ury ein umfangreiches Werk hinterlassen habe, das neben zahlreichen weiteren Mädchenbüchern und Kinderbuchreihen auch Märchensammlungen und Erzählungen, ein Theaterstück und vermutlich auch Reiseberichte umfasste. Auch sei wenigen gegenwärtig, „dass Else Ury als Jüdin entrechtet, deportiert und am 13. Januar 1943 in Auschwitz ermordet wurde“, erklärt Stange.

Die „Nesthäkchen“-Bände sind im Originaltext beim kostenlosen Projekt Gutenberg online zu finden.