Öffentlicher Raum

Reinickendorf stimmt für Obdachlose und gegen Armlehnen

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Dirk Krampitz
Bequem ist es nicht, auf Bänken zu schlafen. Aber ohne Armlehnen ist es für vie Obdachlose angenehmer und wärmer als auf dem Boden.

Bequem ist es nicht, auf Bänken zu schlafen. Aber ohne Armlehnen ist es für vie Obdachlose angenehmer und wärmer als auf dem Boden.

Foto: Felix Kästle / dpa

Die Reinickendorfer Ampel will Stadtmöbel wieder besser nutzbar für Obdachlose und Jugendliche machen

Berlin. Es sind kleine Spikes, die mögliche Liegeflächen unbenutzbar machen, Metall-Spitzen auf Pollern, damit man sich nicht mehr darauf setzen und gemütlich mit Freunden draußen ein Bier trinken kann, oder schiefe Bänke, zum Teil mit Armlehnen, damit man sich nicht ausstrecken kann. Beschönigend heißen solche Gestaltungsmaßnahmen von Flächen in der Stadt und an Häusern sowie Stadtmöbeln „defensive Architektur“.

Nun hat die BVV-Reinickendorf in Ihrer letzten Sitzung im Jahr 2022 den FDP-Antrag „Keine defensive Architektur in Reinickendorf“ mit der Mehrheit der Reinickendorfer Ampel beschlossen. Timo Bergemann, stadtentwicklungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, erklärt: „Defensive Architektur verdrängt Jugendliche oder Obdachlose aus dem öffentlichen Raum und ist eine neue Art sozialer Kälte.“ Obdachlosen würden dadurch letzte Rückzugsräume genommen. Dabei wird das Problem der Wohnungslosigkeit durch solche Maßnahmen nur noch verschlimmert. „Das Ziel, bestimmte Bevölkerungsgruppen von öffentlichen Orten fernzuhalten, ist der offenen Gesellschaft in Reinickendorf unwürdig. Unser Ziel ist den öffentlichen Raum für alle Menschen und ohne Beschränkungen offen zu halten.“

Leichter aufstehen, aber liegen ist unmöglich

Manchmal läuft „defensive Architektur“ auch unter dem Deckmantel der seniorengerechten Stadtmöbel: Da sind die Sitzplätze bei Bänken durch Armlehnen unterteilt. Ein Aufstehen ist so zwar leichter möglich, aber ein Hinlegen unmöglich. „Wir wollen natürlich, dass es weiterhin auch seniorengerechte Stadtmöbel gibt, beides muss koexistieren“, stellt FDP-Fraktionsvorsitzender David Jahn klar.

Die Initiative richtet sich ausschließlich auf Flächen und Bauten im Bezirkseigentum. Bei privaten Eigentümern gibt es keine rechtliche Handhabe. Aber Jahn findet generell: „Statt mit viel Geld Menschen zu verdrängen, wollen wir Hilfsangebote ausbauen. Denn nur weil Obdachlose im Stadtbild nicht mehr sichtbar sind, ist ihre Notlage nicht vorüber. Im Gegenteil: Wer sich den Problemen bedürftiger Menschen verschließt, verschlimmert die Situation. Statt Verdrängung setzen wir im Bezirk auf Unterstützung. Das ist in diesem kalten Winter umso wichtiger.“ Man müsse die Flächen „inklusiv“ gestalten. „Uns ist wichtig, dass Reinickendorf vielfältig ist – dazu gehören auch viele Gruppen, auch Flüchtlinge.“ Auch sie halten sich wegen oft beengter Verhältnisse viel im öffentlichen Raum auf.

Reinickendorf schafft Schließfächer für Obdachlose

Dass es besser wäre, die Menschen direkt von der Straße zu holen, ist auch Jahn klar. „Das eine tun heißt ja nicht, das andere zu lassen.“ Aber die 25 Plätze, die es in Reinickendorf-Ost für Obdachlose gebe, seien nach Kenntnis von Jahn derzeit alle belegt. „Es ist schwierig, das auf Bezirksebene zu lösen - aber wir arbeiten daran.“

Der Haushalt der Ampel hat Kältehilfe-Plätze für Frauen um jährlich 20.000 Euro auf insgesamt 192.000 Euro erhöht. Und die unabhängige Sozialberatung mit jährlich 50.000 Euro zusätzlich auf insgesamt 125.600 Euro im zweiten Haushaltsjahr ausgeweitet. Zudem gibt es einmalig 10.000 Euro in 2023 für Schließfächer, in der Obdachlose ihr Hab und Gut sicher deponieren können.

Alkoholverbot am Trinker-Treff

Es läuft wohl auf eine friedliche Koexistenz im hinaus, wie sie am Franz-Neumann-Platz schon praktiziert wird. Dort hängt zwar seit 2010 ein Schild, das den Alkohol-Konsum verbietet. „Zuwiderhandlungen werden nach §5 Grünanlagengesetz geahndet und können Platzverweise zur Folge haben!“ wird darauf gedroht. Allerdings ist der Platz als Treffpunkt für Obdachlose und Trinker bekannt.

Die Bezirksstadträtin für Ordnungsangelegenheiten Julia Schrod-Thiel (CDU) bestätigt auf Nachfrage: „In der Theorie verbietet das Schild das Konsumieren von Alkohol auf dem Franz-Neumann-Platz.“ Aber die Ahndung von Vergehen obdachloser Menschen sei generell schwierig, weil sie naturgemäß keine ladungsfähigen Adressen haben. Außerdem hätten Ordnungsamt und Polizei nicht genug Personal, um permanent Kontrollen dort durchzuführen. Dieses Vorgehen nennt man dann wohl defensive Strafverfolgung, die die vorhandenen Ressourcen gezielt einsetzt. Sinnvoller ist da vermutlich die andere bereits ergriffene Maßnahme: Die „Christliche Sucht- und Lebenshilfe“ hat ihren Hilfe-Wohnwagen genau dort geparkt.

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