Infektionsgeschehen

Berlin hat den höchsten Krankenstand aller Zeiten

| Lesedauer: 11 Minuten
Joachim Fahrun
Das ist das RS-Virus

Das ist das RS-Virus

Besonders für Säuglinge und Kleinkinder kann eine Infektion mit dem RS-Virus lebensbedrohlich werden. Wir erklären, was das RS-Virus ist und welche Symptome Infizierte haben.

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Ein Gespräch mit der Gesundheitssenatorin über das RSV-Infektionsgeschehen, Prävention und die Lage in den Kliniken.

Berlin. Die Infektionszahlen mit dem Humanen Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) steigen an. Was bedeutet das für die Versorgungslage in den Krankenhäusern? Ein Gespräch mit Berlins Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne).

Frau Gote, hat es in Berlin jemals so eine Welle von Atemwegserkrankungen gegeben?

Ulrike Gote: Das ist einmalig. Wir sehen, dass die Welle früher kommt als sonst und dass es noch nirgendwo in ganz Deutschland eine solche Welle von RSV-Infektionen bei Kindern gegeben hat. Sie ist stärker als in früheren Jahren, zugleich sind auch andere Viruserkrankungen unterwegs und Corona ist auch noch da.

Gibt es eine Erklärung, warum die Welle in Berlin besonders stark ist?

Berlin ist die bevölkerungsstärkste Stadt Deutschlands. Die Menschen bewegen sich in der Stadt und haben viele Kontakte, zum Beispiel in öffentlichen Innenräumen. In anderen Metropolen ist die Welle auch sehr stark.

Die hohen Zahlen kommen vor allem bei Kindern?

Die RSV-Welle löst vor allem bei Kindern schwere Krankheiten aus. Erwachsene stecken das leichter weg, kleine Kinder leiden hingegen besonders. Da könnte es lebensgefährlich werden, wenn wir nicht so gute Kinderärztinnen und –ärzte in den Praxen und Krankenhäusern hätten. Schon bei älteren Kindern zeigt sich das eher wie ein grippaler Infekt.

Überlastete Kinderkliniken: Warum die Lage so dramatisch ist

Aber Erwachsene sind ja derzeit auch massiv krank…

Ja. Wir haben in der Stadt und bundesweit einen Krankenstand, der so hoch ist wie noch nie. Das merken wir im Gesundheitswesen, aber auch in anderen Bereichen wie bei der BVG und der S-Bahn. Wir spüren die Ausfälle überall.

Wie ist die Lage in den Krankenhäusern?

Es gibt zwar noch freie Betten, aber auch nur deshalb, weil die Krankenhäuser entsprechende Maßnahmen eingeleitet haben, wie beispielsweise das Verschieben elektiver Eingriffe und Operationen. Die Hospitalisierungsinzidenz steigt und eine noch dramatischere Lage konnte nur abgewendet werden, weil wir gemeinsam mit den Krankenhäusern vorgesorgt und nachgesteuert haben. Den Kliniken ist es gelungen, zusätzliche Betten zu betreiben. Die Kliniken sind sehr flexibel und verantwortungsbewusst bei der Personalplanung. Sie versuchen, alles zu ermöglichen und ich danke den Krankenhäusern sehr.

Wie viele Betten können wegen Personalmangels und Krankheitsausfällen beim Personal derzeit nicht belegt werden?

Diese Anzahl variiert natürlich in kurzen Abständen. In den Kinderkliniken sind es aktuell etwa zehn Prozent, davor war die Quote höher. Die Krankenhäuser haben sich trotz des Personalausfalls sehr bemüht, die Situation zu verbessern. Viele Beschäftigte im Gesundheitswesen geben gerade wieder ihr Äußerstes, auch dafür müssen wir sehr dankbar sein.

Im Gesundheitsausschuss am Dienstag wird ihnen die Opposition vorwerfen, nicht genug getan und zu spät auf die sich abzeichnende Welle reagiert zu haben.

Es gehört zum politischen Alltag, die anzugreifen, die gerade in Verantwortung sind. Die aktuelle, sehr komplexe Situation hat sich über viele Jahre aufgebaut. Da müssen sich auch andere fragen, was sie eigentlich getan haben, als sie verantwortlich waren. Ich steuere und moderiere die aktuelle Situation derzeit so, dass wir Lösungen für die akute Entlastung haben.

Corona spielt nur noch eine Nebenrolle im derzeitigen Geschehen. Haben wir uns zu sehr auf Covid 19 konzentriert und die anderen gefährlichen Viren vernachlässigt?

Es war klar, dass wir eine Influenza-Welle bekommen und deshalb haben wir sehr früh für die Grippe-Schutzimpfungen geworben. Auch RSV kommt jedes Jahr wieder bei Kindern. Das Gute ist: Was uns hilft gegen Corona, hilft uns auch gegen alle anderen Viruserkrankungen. Masken, Abstand, in die Armbeuge husten, Händewaschen, regelmäßig lüften. Etwas achtsamer zu sein, wird uns auch in den nächsten Grippewellen nützen.

Die Viruslast im Abwasser steigt, die Testzahlen geben das nicht her. Was sagt uns das?

Dass das Abwassermonitoring gut und verlässlich funktioniert und wir damit gemeinsam mit den Berliner Wasserbetrieben den Ball bundesweit vorn spielen. Ein bisschen geht die Sieben-Tage-Inzidenz auch nach oben, aber im Abwasser steigt die Viruslast stärker. Das heißt, das Infektionsgeschehen ist noch deutlich da. Wir sehen sogar einen steigenden Trend. Viele dürften ihre Corona-Infektion schlicht nicht mehr melden. Die Dunkelziffer ist vermutlich höher als in den vergangenen Jahren.

Sie würden also nicht wie in anderen Ländern zum Beispiel medizinische Beschäftigte, die Corona-positiv, aber symptomfrei sind, arbeiten lassen?

Ich halte es weiterhin grundsätzlich für sinnvoll und notwendig, dass infizierte Menschen mit Symptomen zu Hause bleiben, um Infektionsketten zu unterbrechen und insbesondere vulnerable Gruppen zu schützen. Wir sehen, dass es auch gute Argumente dafür gibt, dass infizierte Menschen ohne Symptome nicht zwangsläufig in die Isolation gehen müssen. Wir werden das weiter beobachten.

Maskenpflicht in Bus und Bahn wird also bleiben.

Das halte ich weiterhin für sinnvoll und der Berliner Senat sieht das genauso. Ich habe den Eindruck, dass wieder mehr Menschen darauf achten, sich und andere zu schützen. Dazu kann ich momentan nur raten. Auch zum Eigenschutz. Im Februar, März können wir gerne neu entscheiden, ob wir die Maske noch brauchen.

Manche Experten glauben, Maskenpflicht und Abstandsregeln hätten dafür gesorgt, dass die Menschen keine Abwehrkräfte entwickelt haben. Sehen wir eine Spätfolge der Corona-Politik?

Die Experten sind sich da nicht einig. Wahrscheinlich gibt es mehrere Erklärungen. Im letzten Jahr hatten wir durch die Corona-Maßnahmen einen sehr intensiven Schutz. Da war es klar, dass Grippe und andere Viren nicht so durchgeschlagen haben. Wir erleben in gewisser Weise einen Aufholprozess.

Besonders ernst ist die Lage in den Kinderkliniken. Können alle kranken Kinder versorgt werden oder schickt man besonders schwere Fälle nach Brandenburg?

Es werden keinesfalls immer besonders schwere Fälle nach Brandenburg geschickt. Selbst wenn sich eine Notaufnahme einmal kurz eingeschränkt hat, wird dort ein schwer krankes Kind dennoch versorgt. Das ist auch die Pflicht der Krankenhäuser.

Viele Eltern berichten aber schon von stundenlangen Wartezeiten.

Wir haben eine ernste Situation: Für die Eltern, die Kinder, die Pflegenden, die Ärzte, die Kliniken, die Praxen. Jedes lebensbedrohlich erkrankte Kinder wird in den Berliner Zentralen Notaufnahmen versorgt. Es kann passieren, dass Kinder, die stationär behandelt werden müssen, an andere Orte verlegt werden müssen. Deshalb haben wir mit der Charité die Koordinierungsstelle aufgebaut, die den übrigen Kliniken bei der Suche nach einem freien intensivmedizinischen Bett hilft. Da kann es sein, dass mal ein Kind nach Brandenburg verlegt wird oder umgekehrt. Das kann wiederum dazu führen, dass Eltern weit fahren müssen. Das ist nicht ideal, aber es ist besser, das Kind anderswo sicher und bedarfsgerecht zu versorgen als am Wohnort den Mangel zu erhöhen.

Können Sie in Berlin jetzt noch etwas tun, um die Lage kurzfristig zu entspannen?

Wir drehen jeden Stein um. Letzte Woche habe ich mich mit Niedergelassenen, Klinikvertretern und Kassenärztlicher Vereinigung getroffen und sind alle Möglichkeiten durchgegangen. Heute habe ich noch mal mit den Krankenkassen gesprochen. Wir haben noch mal Verbesserungen erreicht, etwa: Verbesserungen bei der Krankschreibung, um die Praxen zu entlasten. Wir suchen auf Landesebene auch weiterhin nach pragmatischen Lösungen. Klar ist: Die fehlenden Fachkräfte können wir in kurzer Zeit nicht generieren und die Finanzierung muss sich auf Bundesebene verändern.

Wie werden die Notfalldienste auch der niedergelassenen Ärzte über die Weihnachtszeit organisiert? Werden Praxen geöffnet sein?

Die Kinderärzte und -ärztinnen bieten jedes Jahr in den Infektionswellen und auch über die Feiertage Sprechzeiten an und vereinbaren Vertretungsregelungen. Wir gehen davon aus, dass es über die Feiertage eine leichte Entspannung geben kann. Im Moment gehen die Neuinfektionen bei RSV schon wieder ein bisschen zurück. Für eine Entwarnung ist es aber noch zu früh.

Kann es auch nach den Ferien wieder losgehen, weil sich alle bei Familienfeiern anstecken?

Es kann sein, dass die Infektionszahlen im Januar oder Februar wieder nach oben gehen. Ganz sicher darf man erst im Frühjahr mit einer Entspannung rechnen.

Welche Medikamente fehlen aktuell in Berlin?

Fiebersäfte, Hustensäfte, Erkältungsmedikamente. Wir haben uns in Deutschland zu lange darauf verlassen, dass die Lieferketten immer stehen und dass wir mit billiger Energie produzieren können. Produktion hat in Deutschland und Europa nicht mehr in ausreichendem Maße stattgefunden. Ich hoffe, dass der Bund jetzt in die Beschaffung von Medikamenten einsteigt.

Wie können wir in Deutschland denn langfristig eine solche Krise speziell in der Kindermedizin verhindern?

Wir brauchen eine andere finanzielle Grundlage. Wir müssen die Vorhaltekosten für die Kinder- und Jugendmedizin als Gesellschaft finanzieren. Wir dürfen das nicht nur an wirtschaftlichen Parametern ausrichten, wie das bisher war. Das muss sich komplett ändern. Das gilt auch für das Gesundheitswesen insgesamt. Wegzukommen von der Finanzierung rein über Fallzahlen ist sicher der richtige Weg, der jetzt vom Bund eingeschlagen werden soll. Wie das dann im Detail aussieht, müssen wir diskutieren. Wir werden in Berlin den öffentlichen Gesundheitsdienst besser finanzieren. Damit haben wir begonnen. Und die künftigen Fachkräfte: die müssen wir gewinnen und halten.

Brauchen wir in Berlin eine neue Kinderklinik, wie die Regierende Bürgermeisterin sie an der Charité angekündigt hat?

Langfristig kann das sinnvoll sein. Kurzfristig brauchen wir Personal und nochmal: Personal.