Vor 20 Jahren, am 12. Dezember 2002, rief mich ein Kollege an. Die Stimme des hartgesottenen Polizeireporters bebte merkwürdig feierlich. Ich hätte doch mal einen vermissten „Siemens-Typen“ gesucht. Der Fall sei jetzt aufgeklärt. Ich stand im Gang eines überfüllten Zuges und vor meinem inneren Auge tauchte Bernd B. auf, ich sah ihn in enger Badehose am Strand posieren. Das Urlaubsfoto hatten sein Lebensgefährte und ich auf B.’s Computer gefunden. Alle anderen Bilder hatte der Diplom-Ingenieur vor seinem Verschwinden gelöscht.
Am 9. März 2001 hatte der gebürtige Berliner morgens die gemeinsame Wohnung verlassen und war am Abend nicht zum Freund zurückgekehrt. Die Polizei tappte im Dunklen, am vierten Tag nach dem Verschwinden wandte sich Rene J. an die Berliner Tageszeitung, für die ich damals arbeitete. Er wünschte sich einen Artikel, hoffte auf Hinweise aus der Bevölkerung. Ich rief ihn an und fuhr zu ihm nach Tempelhof.
Die Wohnung unter der Dachschräge war mit Teppich ausgelegt und klinisch sauber. Ich erinnere, wie mich das beklemmende Gefühl befiel, sie allein durch meine Anwesenheit zu beschmutzen, schon mit dem Verrücken eines Stuhles ein perfektes Ordnungssystem zu zerstören. Statt Zeichen gelebten Lebens gab es Hightech. Großer Fernseher, teure Stereoanlage, alles in Silber-Chrom, alles neu. „Wir waren am liebsten zu Hause“, sagte Rene J.
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Kannibale von Rotenburg: Freund über Opfer Bernd B. - „Er hat immer alles unter Kontrolle“
Er ist damals Mitte 20, Bäcker, ein unauffälliger Typ mit sanftmütigen Zügen und tiefen Augenringen. Seit der Freund weg ist, findet er nicht mehr in den Schlaf. Seit zwei Jahren sind sie ein Paar, hatten sich sich auf einer Party kennengelernt. Einen Mann, der sein Leben im Griff hat, zuverlässig und korrekt, so einen hatte er gesucht und in dem fast 20 Jahre älteren Diplom-Ingenieur gefunden. „Er hat immer alles unter Kontrolle“, sagt Rene J., und dass er ihm „absolut vertraue“. Auch jetzt noch, wo er sich fragen muss, warum ihm der Freund nicht erzählte, dass er sich für den 9. März, den Tag seines Verschwindens, frei genommen hatte. „Das macht keinen Sinn“, das sagt er immer wieder.
Am nächsten Tag erfährt Rene J. von der Polizei, dass B. am Morgen des 9. März noch von einem Bekannten mit Handy am Ohr im U-Bahnhof Wilmersdorfer Straße gesehen wurde. Wir fahren gemeinsam hin und grübeln: Wohin kann er von hier gewollt haben? Mit wem könnte er telefoniert haben? Es gibt keine Anhaltspunkte, keine faktischen und keine in der Fantasie.
Selbstmord? Niemals, sagt Rene J., es gab keine ernsten Probleme und keine Anzeichen. Auch im Beruf nicht, versichert mir ein Kollege von B. Ausgestiegen, um ein neues Leben zu beginnen? Es gibt keine Kontobewegungen, die darauf schließen lassen, erfahre ich von der Polizei. Ein Verbrechen in der Stricher-Szene? Niemals, sagt Rene J., in diesen Kreisen hätte Bernd nicht verkehrt. Ein anderer Mann? Nein, so der Freund, er saß doch jede Nacht vor seinem Computer.
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Wem schickte Bernd B. das Badehosenfoto?
Also der Computer. Was hat er dort in der Nacht getrieben, mit wem stand er in Kontakt? Warum das Badehosenfoto? Fragen, die auf der Hand lägen, sage ich zum ermittelnden Polizeibeamten. Der sagt, man stecke da erst wieder Arbeit rein, wenn es neue Anhaltspunkte gebe. In der Redaktion bekomme ich Ärger: zu viel Zeit in die Recherche gesteckt, nichts bei rumgekommen. Die Zeitung druckt eine kleine Vermisstenanzeige, und Rene J. verspricht, sich bei Neuigkeiten zu melden.
Lange höre ich nichts, wechsele zwischenzeitlich den Arbeitgeber, dann der Anruf im Zug. Die Verbindung ist natürlich schlecht. Ich verstehe Worte wie „Internet“, „Schlächter“, „Treffen“, „Rotenburg“, „Penis abgeschnitten“, „aufgegessen“. Tags drauf titelt die Zeitung, für die ich auf Spurensuche war: „Das ist Armin, er hat Bernd aus Berlin gegessen.“
Die Geschichte geht um die Welt. Bis ins kleinste Detail wird der Tag rekonstruiert, an dem Bernd B. vom Bahnhof Zoo den Zug nach Kassel nimmt, dort in das Auto des Computer-Technikers Armin Meiwes steigt, der ihn mitnimmt in sein riesiges, windschiefes Gutshaus bei Rotenburg (Hessen). Beim Chat im Kannibalen-Forum hatten sie alles besprochen, in hunderten Nachrichten, besonders die genauen Vorstellungen des Berliners. Zunächst möchte er sich vom Gastgeber den Penis abbeißen lassen, diesen zusammen mit Meiwes verspeisen. Nach seiner Schlachtung wünscht er, zeitnah verzehrt zu werden.
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Bernd B. wollte bei lebendigem Leib verspeist werden
Kannibalismus hat es zu allen Zeiten gegeben. Durch den Berliner Bernd B. wird dieser Fall beispiellos. Er wollte bei lebendigem Leib verspeist werden. Zwar formulieren auch andere User in den entsprechenden Online-Foren derartiges Verlangen. Doch der tatsächliche Vollzug fehlte bislang in der Geschichte der Kriminologie. Das wäre vielleicht auch so geblieben, hätte Armin Meiwes mit der Tat nicht angegeben, als er im Netz nach weiteren Freiwilligen suchte.
Ein Student aus Innsbruck informiert darüber im Juli 2002 die Polizei, die am 10. Dezember den Gutshof durchsucht, einen Schlachtraum, eine Kühltruhe mit Menschenfleisch, Blutspuren und das Video findet, auf dem Meiwes die letzten Lebensstunden des Berliners bannte. Am 12. Dezember 2002 dann der Haftbefehl.
Vergeblich suche ich damals in meinen Unterlagen nach Telefonnummer und Nachnamen von Rene J. Der Gedanke, ihn anzurufen, kam mir ohnehin schäbig vor. „Hallo, wollen wir über alles reden? Jetzt wird es auch gedruckt.“ Bereits ein herzliches Beileid wäre angesichts der Monstrosität des Vorgangs unangebracht gewesen. Bei der Beisetzung dessen, was vom Freund geblieben war, soll Rene J. zusammengebrochen sein. Von Armin Meiwes erhielt er einen Brief. Es tue ihm wirklich leid.
Achteinhalb Jahre Haft bekommt Meiwes, wegen Totschlags, der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf, sieht verschiedene Mord-Merkmale „rechtsfehlerhaft“ verworfen. Vor dem Frankfurter Oberlandesgericht wird der Fall im Januar 2006 wieder aufgerollt, ich sitze eingepfercht zwischen 70 Journalisten auf der Pressetribüne. Doch was geschehen ist, wird nicht greifbarer.
Wie ein Märchenonkel erzählt Meiwes vom Blutbad
Auch nicht, als ich Armin Meiwes erstmals leibhaftig sehe, wie er mit flottem Gang und gut aufgelegt in den Saal kommt. Nicht, als er mit sonorer Stimme das neunstündige Blutbad bis zum Tode B. beschreibt, dabei wie ein Märchenonkel immer wieder über die Lesebrille zum Vorsitzenden Richter schaut. Der nette Nachbar von nebenan. So haben ihn auch seine Nachbarn beschrieben. In meiner Kindheit hatte ich gelernt, wie Kannibalen angeblich aussehen: Die trugen Baströckchen und tanzten um ein Feuer, auf dem ein riesiger Topf Suppe mit Menschenfleisch köchelte. In einem Schulbuch hatte ich so ein Bild gesehen.
B. habe ihn zu den Taten gedrängt, betont Meiwes vor Gericht immer wieder, habe ihn gar wegen Unprofessionalität beschimpft: „Wenn du in meinem Team bei Siemens gewesen wärst, dann hätte ich dich schon längst entlassen.“ Doch dieses Mal verurteilen ihn die Richter wegen Mordes zu lebenslanger Haft, Mordmerkmal ist die Befriedigung des Geschlechtstriebs.
Der Fall bringt Rechtssprechung wie Psychologie in Grenzgebiete. Psychiatrisch krank waren weder B. noch Meiwes, so sieht es der Sexualwissenschaftler Klaus M. Beier von der Berliner Charité, der in beiden Prozessen als Gutachter dabei ist. Krank seien sie lediglich in sexualmedizinischer Hinsicht gewesen, deshalb voll zurechnungsfähig. Ein umstrittener Schluss.
Der Fetisch von Armin Meiwes ist das Fleisch eines Mannes, den er attraktiv findet. Das Badehosenfoto von B. erfüllte seine Ansprüche. Meiwes ging es darum, nicht mehr allein zu sein. Mit acht Jahren verließen ihn der Vater und die beiden Halbbrüder, er blieb zurück mir der Mutter, die ihn wie einen Sklaven behandelte. Schon mit zehn Jahren wünschte er sich, einen Jüngling zu essen, damit der für immer bei ihm bleibe. Bis heute soll Meiwes glauben, dass B. in ihm weiterlebt.
Die symbolische Zerstörung der Sexualität
Bernd B. trieb eine fortschreitende Form des sexuellen Masochismus, er wünschte sich den maximalen Schmerz. Der sollte ihm vermutlich die Schuldgefühle nehmen, so das Charité-Gutachten, die ihn wegen seiner Homosexualität quälten und wohl auch wegen des Selbstmords seiner Mutter, als er gerade mal fünf Jahre alt war. Die Amputation seines Penis diente laut Gutachten der symbolischer Zerstörung seiner Sexualität.
Das Unfassbare fasziniert. Dutzende internationale Verlage und Filmproduzenten buhlen um die Rechte an der Geschichte, auch der britische Schauspieler Hugh Grant, der in der Rolle des Schlächters Brad Pitt gegessen hätte. „Wer würde nicht gern Brad Pitt essen?“, so Grant. Etliche Bücher und Dokumentationen erscheinen über den Kannibalen von Rotenburg, dessen Antrag auf vorzeitige Entlassung wird 2018 abgelehnt. Über das ausgelöschte Leben des Bernd B. gelangten bis heute nur Bruchstücke in die Öffentlichkeit.
„Bernd war einer der nettesten und liebsten Menschen, die ich je gekannt habe“, sagte die Berliner Taxifahrerin Alexandra L. beim ersten Prozess aus. Sie war 1996 mit ihm zusammengekommen, als die Beziehung nach einem halben Jahr zerbrach, spielte sie für seine Kollegen bei Siemens weiterhin die Lebensgefährtin. Bis zum Schluss.
Rene J. wusste nichts von dem Doppelleben, da bin ich mir ziemlich sicher. Er hat nie wieder öffentlich über den Mann gesprochen, den er für die Liebe seines Lebens hielt. Außer vor Gericht, wo er sich in knappen Antworten äußerte. „Wir waren sehr glücklich“, sagte Rene J. dort. Und: „Ich kann mir das bis heute nicht erklären.“