Berlin. „Leseland DDR“: Zum Auftakt der Ausstellung sind die Tafeln unter anderem in der Alten Feuerwache Treptow zu sehen.

Ein Foto von 1979: Tausende Menschen stürmen den ersten Leipziger Buchmarkt. Bilder, wie man sie heute nur noch kennt, wenn die nächste Smartphone-Generation auf den Markt geworfen wird. In der DDR standen die Menschen für viele Dinge Schlange – so auch für Bücher. Doch als Waltraud Grubitzsch das Bild von der Eröffnung des Leipziger Buchmarkts schoss, konnte von einem geordneten Schlange-Stehen keine Rede mehr sein. Es wurde geschoben und gedrängelt, die Menschen stürzten sich regelrecht auf die angebotene Literatur, um auf der Jagd nach begehrten Titeln nicht leer auszugehen.

Zu sehen ist das Foto in der Ausstellung „Leseland DDR“, die derzeit in der Alten Feuerwache Treptow und der Potsdamer Wissenschaftsetage zu sehen ist. Erarbeitet wurde sie vom Historiker und Publizisten Stefan Wolle im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Und anders als sonst bei Ausstellungen in Museen oder Galerien will diese Schau nicht exklusiv sein. Im Gegenteil, sie soll an möglichst vielen Orten möglichst vielen Menschen gezeigt werden – in Bibliotheken und Schulen ebenso wie in Einkaufszentren oder Rathäusern.

Die aus 20 Tafeln bestehende Ausstellung lädt mit Texten, Bildern und Videos zu einer Zeitreise durch das „Leseland DDR“ ein. „Ein Land, dessen Obrigkeit an die weltverändernde Macht des geschriebenen Wortes glaubte und es zugleich fürchtete“, wie es Stefan Wolle formuliert. Eben deswegen seien Entscheidungen über Verbote und Genehmigungen von Büchern nicht selten von der obersten DDR-Führungsspitze getroffen worden. Einerseits habe der Staat literarische Talente gefördert. So habe es nicht nur Zirkel schreibender Arbeiter und Poetenseminare gegeben, sondern sogar eine Ausbildungsstätte für künftige Dichter – das Literaturinstitut in Leipzig. „Autoren hatten große Privilegien“, weiß Wolle. Aber andererseits: „Wer sich widerspenstig aufführte, musste mit Schikanen und Stasi-Bespitzelungen rechnen.“

Auch im Urlaub wurde viel gelesen, hier verordnete Literatur aus der Sowjetunion.
Auch im Urlaub wurde viel gelesen, hier verordnete Literatur aus der Sowjetunion. © Kurt Schwarz

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Buch ist nicht gleich Buch – es gab auch „Giftschrankliteratur“

Bei manchen Büchern, die den Staatsoberen ein Dorn im Auge waren und ihnen als „Gift des Klassenfeindes“ erschienen, konnten auch schon deren Besitz oder Weitergabe noch in den 1970er-Jahren zu Haftstrafen führen. Daran erinnert die Ausstellung im Kapitel „Giftschrankliteratur“. „Den höchsten toxischen Grad hatte George Orwells ,1984‘“, beschreibt Stefan Wolle. Wie hochexplosiver Sprengstoff seien aber auch Bücher von osteuropäischen und sowjetischen Dissidenten behandelt worden, erklärt der Historiker. Bei einem Ausstellungsfoto dieses Kapitels hat man als Betrachter regelrecht einen Kloß im Hals, weil es schlimme Assoziationen weckt. Das Bild, aufgenommen in Pankow am 1. Juni 1955, zeigt Schülerinnen und Schüler der 18. Grundschule in Pankow, die am Abend des internationalen Kindertages sogenannte Schmutz- und Schundliteratur aus dem Westen auf dem Schulhof verbrennen.

Eine Ausstellungstafel ist der DDR-Kriminalliteratur gewidmet, die stets in einem „nebulösen Nirgendwo“ oder im Westen gespielt habe. Denn der Theorie nach habe es im Sozialismus keine Verbrechen geben können, heißt es im Erläuterungstext. Oder das Böse sei mit einer moralischen Botschaft verbrämt worden. Nach der deutschen Einheit seien diese Notwendigkeiten entfallen und der DDR-Krimi „von der Geschichte dahingerafft“ worden.

Weitere Ausstellungstafeln laden die Betrachter ein in die Welt der Märchen und Science-Fiction, in der DDR auch als wissenschaftlich-phantastische Literatur bezeichnet. Unter den rund 500 in der DDR erschienenen Science-Fiction-Titeln habe aber einzig das Buch „Morgen“ eine konkrete Utopie vom Leben in der kommunistischen Zukunft beschrieben, erklärt Stefan Wolle. Verfasser war der Dissident Robert Havemann, weshalb das Buch zunächst nur im Westen erscheinen konnte.

Prominente Zeitzeugen berichten in Videos über den Alltag

Auch lässt die Leseland-Schau die Besucher in alte Kochbücher blicken. „Bestimmte Gewürze, die ich heute jederzeit nehme, die tauchen da gar nicht auf, weil die wahrscheinlich so viele Devisen gekostet haben, dass man sie nicht eingeführt hat“, sagt Rainer Eppelmann in einem der kurzen Youtube-Filme, die die Ausstellung begleiten. Der ehemalige Bürgerrechtler Eppelmann ist Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. In insgesamt 21 Video-Interviews, abrufbar via QR-Code, sprechen Zeitzeugen über die Literatur in der DDR, passend zu den jeweiligen Ausstellungsetappen. Unter anderem zu hören sind die Schriftstellerin Ines Geipel und der Musiker Andrej Hermlin.

Die Schau wirft zudem Schlaglichter auf die grenzüberschreitende Kraft, die die deutsch-deutschen Schriftstellerkontakte sowie auch Radio und Fernsehen entfalteten. Erinnert wird beispielweise daran, dass im West-Radio oft ganze Bücher in Fortsetzungen vorgelesen wurden, darunter „Der vierte Zensor“ von Erich Loest. So konnten DDR-Bürger Bücher, die sie nicht zu kaufen bekamen, zumindest hören. Die Zeitreise durch das „Leseland DDR“ endet schließlich mit dem Blick auf die Rolle der Schriftsteller in der Wendezeit und der DDR als Thema in der Gegenwartsliteratur.

Museums-Info

Leseland DDR Ausstellung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Öffentliche Einrichtungen und Unternehmen können die aus 20 Tafeln bestehende Ausstellung bestellen. Infos unter www.leseland-ddr.de.

Aktuell läuft die Ausstellung unter anderem hier:

  • Mittelpunktbibliothek Alte Feuerwache Treptow Michael-Brückner-Str. 9, Tel. 902 97 68 00, Mo., Di., Do., Fr. 10–19 Uhr, Mi 13–19 Uhr, Sbd. 10–14 Uhr, bis 4.10.).
  • Wissenschaftsetage im Bildungsforum Potsdam (WIS) Am Kanal 47, Tel. 0331/977 45 92, Mo.–Fr. 10–16 Uhr, bis 26.10.

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