Berlin. Fast zwei Jahre nach der Kurzzeit-Besetzung der Treppe vor dem Reichstagsgebäude am 29. August 2020 musste sich am Freitag ein Mann vor Gericht verantworten, der bei den Auseinandersetzungen an dem Tag Polizisten beleidigt und tätlich angegriffen haben soll. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 49-jährigen Berliner vor, einen Beamten als „Volksverräter“, „Versager“ und „Stück Scheiße“ diffamiert zu haben. Der Festnahme soll er sich widersetzt haben. Die Anklage lautet auf Beleidigung, versuchte Körperverletzung, sowie Widerstand und tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte.
Das Amtsgericht Tiergarten hatte im September 2021 einen Strafbefehl gegen den Mann erlassen. Hätte der selbstständige Handwerker diesen akzeptiert, wäre er – ohne Beweisaufnahme vor Gericht und ohne Gelegenheit zu einer Stellungnahme – zu einer Geldstrafe von 1800 Euro verurteilt worden.
Der Mann legte aber Widerspruch ein. In dem Prozess erschien er ohne Rechtsanwalt, weil er diesen nach eigener Aussage nicht bezahlen konnte.
Auseinandersetzung am Reichstag: „Ich hatte wirklich eine große Klappe“
Der Berliner gestand ein, an dem Tag „sehr aufgebracht“ und „beleidigend“ gewesen zu sein. „Ich hatte wirklich eine große Klappe“, sagte er. Er bestritt jedoch, Gewalt angewendet zu haben. „Das weise ich von mir“, sagte er. Bei der Festnahme habe vielmehr ein Polizist auf ihn „eingeprügelt“. Die Beschimpfungen habe er gegen niemanden persönlich gerichtet, sondern „nur allgemein“.
Die Ereignisse am Rande einer Querdenker-Demonstration hatten seinerzeit bundesweit für Empörung gesorgt. Mehrere hundert Menschen, Teilnehmer einer Kundgebung von Reichsbürgern, hatten am Platz der Republik eine Absperrung durchbrochen. Danach hatten sie kurzzeitig die Stufen vor dem Reichstagsgebäude besetzt. Der Eingang des Parlamentssitzes wurde zwischenzeitlich von einem einzelnen Polizisten geschützt.
Dem am Freitag angeklagten zweifachen Vater wurde nicht vorgeworfen, an der Aktion beteiligt gewesen zu sein. Er habe einer Gruppe von etwa 1000 Menschen angehört, die sich nach der Demonstration versammelt hatte und von der Polizei nur mit Mühe zurückgedrängt werden konnte.
Angeklagter versichert, kein Reichsbürger zu sein
Bei dem Protest war der Mann nach eigener Aussage mit seiner Freundin. Zum Reichstagsgebäude sei er gegangen, weil er gehört habe, dort sei etwas vorgefallen. Am Rande des Verfahrens versicherte er, weder Reichsbürger noch gewalttätig zu sein. Seine Aufgebrachtheit an dem Tag begründete er mit der Hektik. Danach sei er auf keiner Demonstration mehr gewesen. Im Prozess entschuldigte er sich bei dem als Zeuge geladenen Polizisten.
Der Beamte konnte sich vor Gericht an Details seiner nach der Festnahme protokollierten Aussage nicht mehr erinnern. Drei weitere Zeugen erschienen am Freitag krankheitsbedingt nicht. Der Prozess soll am 8. Juli fortgesetzt werden. Dann will das Gericht auch eine Videoaufnahme von dem Geschehen in Augenschein nehmen.
Von 85 Verfahren wurden 51 eingestellt
Die Staatsanwaltschaft hat nach eigenen Angaben bislang 85 Verfahren im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 29. August bearbeitet. Weil Beweise nicht ausreichten oder Täter nicht identifiziert werden konnten, seien 51 Verfahren eingestellt worden. In neun Fällen habe die Behörde eine Verurteilung per Strafbefehl beantragt. Drei solcher Fälle seien rechtskräftig abgeschlossen.
Eine Gerichtssprecherin sagte, dass bisher noch keiner der mutmaßlichen Rädelsführer vor Gericht stand. Es seien aber mehrere Verfahren anhängig. Der Vorwurf in diesen Fällen laut auf wegen schweren Landfriedensbruch.