Berlin. Im Oktober war der damalige Innen- und heutige Bausenator Andreas Geisel noch sicher: „Die Wahl muss nicht wiederholt werden“, erklärte der Sozialdemokrat trotz einer Fülle schon damals bekannter Wahl-Pannen. Acht Monate nach dem vielerorts von Chaos begleiteten Urnengang in Berlin könnte das auch anders kommen. Zumindest haben die Berliner Verfassungsrichter, die über die Wahlanfechtung des früheren FDP- und heutigen Freie-Wähler-Politikers Marcel Luthe entscheiden müssen, sehr grundsätzliche Fragen zu dem, was sich am 26. September 2021 in zahlreichen Wahllokalen in der Hauptstadt abgespielt hat. Die Verfassungsrichter haben sich Verfahren des mit seiner Wiederwahl gescheiterten Ex-Abgeordneten vorgenommen, obwohl es insgesamt neun Anfechtungen gibt.
Flächendeckende Überprüfung der Unterlagen
Bis zum 23. Mai hat die Landeswahlleiterin Zeit, den Richtern zu antworten und dabei ihre offensichtlich vorhandenen Zweifel an einem ordnungsgemäßen Wahlablauf einigermaßen auszuräumen. Die Gerichtspräsidentin Ludgera Selting hatte bereits Ende März den Kontrollanspruch der Verfassungshüter verdeutlicht: Sie forderte die Landeswahlleiterin auf, ihr die Wahlniederschriften aller 2257 Wahllokale im Original zu übersenden.
Seitdem wird in der Berliner Landespolitik spekuliert, das diese flächendeckende Überprüfung der Unterlagen ein Indiz dafür sein könnte, dass die Wahlen zum Abgeordnetenhaus komplett wiederholt werden müssten. „Wir halten das für ein realistisches Szenario und bereiten uns darauf vor“, sagte CDU-Generalsekretär Stefan Evers der Berliner Morgenpost. Betroffen sein könnten die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und in einigen Wahlkreisen auch die zeitgleich abgehaltene Bundestagswahl. Unter anderem geht es hier um den Wahlkreis Lichtenberg. Dort holte die Linkspartei eines ihrer drei Direktmandate, die sie trotz eines Ergebnisses von unter fünf Prozent wieder in Fraktionsstärke in den Bundestag brachten. Sollte neu gewählt werden und die Linken-Politiker Gesine Lötzsch das Direktmandat verlieren, müsste die Linke wahrscheinlich aus dem Bundestag ausziehen.
Papiere werden jetzt digitalisiert
Gerechnet werde mit einer Entscheidung im Herbst, heißt es. Die Zeit drängt, denn ein unrechtmäßig zustande gekommenes Abgeordnetenhaus sollte nicht länger weiter arbeiten. Außerdem haben sechs der neun Verfassungsrichter schon 2021 das Ende ihrer Amtszeit erreicht. Neue können erst gewählt werden, wenn über die Legitimation des Berliner Abgeordnetenhauses entschieden wurde. Hinweise vom Gericht selbst gibt es bislang aber nicht. Bekannt ist nur, dass die 67 Leitzordner mit den Wahlniederschriften nun im Gebäude des Verfassungsgerichts am Kleistpark lagern. Dort seien seine Helfer dabei, die Papiere zu digitalisieren und so überhaupt erst im Verfahren nutzbar zu machen, sagte Luthe der Morgenpost. Der Verfassungsgerichtshof habe dafür weder Personal noch die nötige technische Ausstattung, um den Konfliktparteien wie üblich die Unterlagen in digitalisierter Form zu liefern.
Einwendungen gegen Darstellung der Wahlleitungen
Die Wahlleiter sowohl auf Landes- als auch auf Bezirksebene hatten Luthes Antrag widersprochen, die Wahlen für ungültig zu erklären. Die Senatsinnenverwaltung erklärte Ende März, es habe zwar Mängel gegeben bei den Wahlen, aber keine „mandatsrelevanten Wahlfehler“. Luthes Einspruch sei „mangels Substantiierung unzulässig“. Der Katalog der 17 Fragen an die Wahlleiterin speist sich jedoch offensichtlich aus der Lektüre zumindest eines Teils der angeforderten Unterlagen und aus den Einwendungen des Ex-Abgeordneten Marcel Luthe gegen die Darstellung der Wahlleitungen.
So fordern die Richter explizit Klärung zu einem der Hauptkritikpunkte des früheren FDP-Mannes aus Grunewald. Der hatte moniert, dass von vorneherein zu wenige Wahlkabinen in den Wahllokalen aufgestellt worden seien. Er hat angesichts der Stimmberechtigten und drei Minuten pro Wahlvorgang vier Kabinen pro Standort als nötig errechnet. Tatsächlich gab es meist nur zwei oder drei. Der Landeswahlausschuss war von 750 Wählern pro Wahllokal ausgegangen. Das erstaunt die Richter, denn in 90 Prozent der Standorte hätten mehr Personen als die 750 ihre Stimme abgegeben.
Knackpunkt sind auch die Warteschlangen nach 18 Uhr
Ferner wollen die Richter wissen, wie sichergestellt worden sei, dass nur solche Personen nach 18 Uhr noch wählen durften, die schon vor der eigentlichen Schließungszeit in der Schlange standen. Auch die Frage, wie für die nötigen Stimmzettel gesorgt wurde und wie die Stimmen gewertet wurden, die nicht auf den richtigen Stimmzetteln abgegeben worden waren, möchte das Gericht geklärt haben. Und es geht auch darum, wie viele Stimmen insgesamt aus welchen Gründen als ungültig gewertet wurden.
Aus Luthes Sicht kann es nicht sein, dass die Abgeordnetenhaus-Wahlen nur in einzelnen besonders knappen Wahlkreisen wiederholt wird. Weil die Parteien in Berlin entweder mit Bezirks- oder mit Landeslisten antreten, hätte es immer Auswirkungen auf andere bisher gewählte Politiker, wenn irgendwo eine andere Partei das Direktmandat gewönne als bisher. Und quasi nebenbei will Luthe auch noch die Position der kleinen Parteien stärken und die Fünf-Prozent-Hürde zu Fall bringen. Denn die „Sonstigen“ sammelten zusammen 12,5 Prozent ein, jede achte Stimme fiel also bei der Bildung des neuen Parlaments unter den Tisch.
Was bei den Wahlen in Berlin alles schiefging:
Die Fehlerkette im Zusammenhang mit dem Superwahltag in Berlin fing schon deutlich vor dem 26. September 2021 an. Eigentlich sollten die zehn verschiedenen Wahlunterlagen für Bundestag, Abgeordnetenhaus, Bezirksverordnetenversammlungen und Volksentscheid „sortenrein“ verpackt an die Wahlämter gehen, um die Briefwahlunterlagen zusammenzustellen. Aber in vielen Kartons war nicht drin, was draufstand. In Treptow-Köpenick beklagten sich Empfänger schon früh, dass Unterlagen durcheinander oder unvollständig waren. Bis zum Wahltag gab es zudem viele Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern, dass Briefwahlunterlagen sie nicht erreicht hätten.
Am Wahltag selbst gingen in vielen Wahllokalen schon nach wenigen Stunden die Stimmzettel aus, der Urnengang musste pausieren, die Wahlwilligen warteten entweder lange oder sie gingen weg. Solche Berichte finden sich in den Wahlniederschriften, in denen die Wahlhelfenden vor Ort ihre Erfahrungen schildern und die nun den Verfassungsrichtern vorliegen. Laut Landeswahlleiterin sind Unterbrechungen für 102 Wahllokale dokumentiert, davon 48 in Pankow, 37 in Charlottenburg-Wilmersdorf und 17 in Friedrichshain-Kreuzberg. Dort meldete ein Wahlhelfer, in seinem Wahllokal seien zuerst um zehn Uhr und dann noch einmal am Nachmittag die Wahlen unterbrochen worden. Es seien nur 100 korrekte Stimmzettel geliefert worden, die seien schnell vergriffen gewesen. Die übrigen Stimmzettel seien für Charlottenburg-Wilmersdorf bestimmt gewesen. Man habe etwa 100 Wahlwillige wegschicken müssen. Das kam an vielen Stellen in der Stadt vor. Niemand weiß, ob diese Menschen ihre Stimme noch abgegeben haben oder nicht.
Manche Wahllokale konnten sich in benachbarten Standorten mit den richtigen Unterlagen versorgen, andere fragten telefonisch beim Bezirkswahlamt um Rat. Dieses schickte Kuriere los, die aber auch wegen der für den Berlin-Marathon gesperrten Straßen erst nach ein bis zwei Stunden ankamen. Andere Wahlhelfende machten sich selbst auf den Weg, um im Rathaus Stimmzettel zu besorgen. So dokumentieren es die Wahlniederschriften.
Vorräte des Papierformats gingen zur Neige
Aber auch im Rathaus gab es nicht genügend richtige Dokumente. Also stellten die Wahlhelfer selber Unterlagen her. Sie schnitten die langen Stimmzettel auseinander und kopierten sie nebeneinander im Rathaus auf DIN A 3-Bögen. Die Nachfrage nach den Stimmzetteln der Marke Eigenbau war so groß, dass die Vorräte dieses Papierformats vollständig verbraucht wurden. Das deute darauf hin, dass es eine „deutlich vierstellige Anzahl“ solcher Stimmzettel gegeben hat. Hinzu kommt, dass auch Friedrichshain-Kreuzberger Wähler auf Stimmzetteln für Charlottenburg-Wilmersdorf ihren Wählerwillen bekundet haben. Deren Zahl liegt bei 1669. Die Frage ist nun, ob diese Stimmen gültig sind oder nicht.
Vielerorts waren die Wartezeiten zudem extrem lang. Die Wahlleitung hatte zuvor den Basis-Helfern geschrieben, sie sollten „Personen, die Schwierigkeiten mit langen Wartezeiten hatten, bevorzugt wählen lassen“. Ob eine solche Aufforderung zur Auswahl rechtens ist, muss nun ebenfalls geklärt werden. Die Wahl endete in Berlin auch nicht wie vorgeschrieben um 18 Uhr. 19 Prozent der mehr als 2500 Wahllokale waren noch nach 18.15 Uhr offen, vier sogar bis 20 Uhr.