Berlin. U- und S-Bahn kapitulierten schon früh unter dem Massenandrang. Bereits vor dem offiziellen Start der Anti-Kriegsdemonstration um 13 Uhr schlossen BVG und Polizei vorsorglich die Ausgänge an der Station Brandenburger Tor, rappelvolle Züge der U5 fuhren durch bis Hauptbahnhof; oder die Menschen stiegen schon Unter den Linden aus, um in einem unübersehbaren Menschenstrom Richtung Brandenburger Tor und Straße des 17. Juni zu laufen. Auf dem Boulevard waren zu dieser Zeit noch Autos unterwegs, die zwischen den Demonstrierenden förmlich stecken blieben. Was zeigt, dass wohl auch die Polizei die Bereitschaft der Berliner unterschätzt hatte, ein Zeichen der Solidarität mit der angegriffenen Ukraine zu setzen. Die russische Botschaft wurde von einer Polizeikette geschützt. „Mörder, Mörder“, rief ein Demonstrant. Auch Russen protestierten hier gegen Putin.
Das veranstaltende Bündnis aus Gewerkschaften, Kirchen, Initiativen, Umweltschutzorganisationen und Friedensgruppen hatte im Vorfeld nur 20.000 Teilnehmer angemeldet. Schon bald nach dem offiziellen Beginn sprachen sie indes von einer halben Million Menschen, die an diesem sonnigen Februartag für den Frieden auf die Straße gingen. Die Polizei meldete kurz nach Beginn 100.000 Teilnehmende, doch angesichts des starken Andrangs dürfte die Zahl zu niedrig sein. Schon eine Stunde zuvor war in den Straßen von Mitte und anderen Stadtteilen zu spüren, wie viele Menschen sich auf den Weg zum Brandenburger Tor machten. Fahrräder geschmückt mit blau-gelben Ballons und Regenbogen-Peace-Kissen auf dem Gepäckträger an der Tucholskystraße, Hundeleinen umwickelt mit blau-gelbem Papier, blau-gelb angemalte Mund-Nasen-Masken an der Spree, viele Familien mit Kindern, alte Menschen.
Demonstration gegen den Ukraine-Krieg - Bilder aus Berlin
Polizei mahnt die Menge, Abstand zu halten
Die Diskussionen drehten sich um die Sondersitzung des Bundestages, Olaf Scholz‘ Regierungserklärung und die Frage, was eigentlich eine Demonstration ist: ein doch eher hilfloses Zeichen gegen den Krieg, der Wunsch nach Gemeinschaft in sorgenvoller Zeit oder ein Symbol politischer Solidarität. Oder alles zusammen. Dazu ein Kaffee im Gehen – es ist immerhin Sonntag. An der Ecke Scheidemannstraße/Yitzhak-Rabin-Straße verkündete gegen 14.15 Uhr eine Ordnerin mit Dreadlocks per Megafon: „Wenn Sie jetzt noch zur Siegessäule wollen, gehen Sie vom Brandenburger Tor auf die Straße des 17. Juni. Hier ist die Kreuzung bereits voll.“ Schon auf dem Weg vorbei an Bundeskanzleramt und Reichstag bis hin zur Reinhardtstraße waren massenweise Menschen unterwegs. Auf der Straße des 17. Juni schließlich mahnte das Display eines Polizeiwagens die Menge, „Abstand“ zu halten. Praktisch ist das zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, die Straße ist voll, nur langsam schieben sich Menschenschlangen voran. „Immerhin ist die Maskenträger-Dichte ziemlich hoch“, bemerkte ein Mann mit Blick auf die angesichts eines Krieges in der Nachbarschaft fast vergessene Corona-Gefahr.
- Lesen Sie auch den Kommentar: Ganz Berlin trägt Blau-Gelb
Großes Gedränge herrschte auch vor dem sowjetischen Ehrenmal auf der Straße des 17. Juni. Vor den Panzern aus dem Zweiten Weltkrieg haben sich Demonstranten mit ihren Plakaten aufgebaut. In einem Kanonenlauf hat jemand einen Strauß lila Blumen gesteckt. Ein ausgeschnittenes Peace-Zeichen wird in die Luft gereckt, ein Kind auf der Schulter seiner Mutter hält ein Peace-Schild über dem Kopf in die Luft. Überhaupt tragen viele Kinder selbstgemalte Schilder, so wie Anna und Franziska aus Zehlendorf. Krieg ist „das Blödeste auf der Welt“, „bringt nichts“, „ist doof“ und „soll aufhören“, das haben die Grundschülerinnen mit Filzstift geschrieben. Eine ältere Frau trägt ein kleines Schild vor sich her: „Der Donbass hat hier noch nie interessiert“, lautet ihr Vorwurf in Anspielung an das Jahr 2014, als prorussische Rebellen die ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk zu unabhängigen Volksrepubliken erklärten.
Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt
- Historie: Liegt der Grund für den Ukraine-Krieg in der Geschichte?
- Putins Ziele: Warum Russland die Ukraine angegriffen hat
- Präsident: Wolodymyr Selenskyj ist Putins Feind Nr. 1
- Verteidigungsbündnis: Die Nato einfach erklärt – Warum sie für Putin ein Ärgernis ist
Immer wieder war auch Russlands Präsident Putin auf Bildern zu sehen, die ihn mit Hitler vergleichen. Die Berliner Polizei verbuchte kurzzeitig einige Lacher mit einem Ausruf: Der zwölfjährige Jamie sei verschwunden. Er trage einen blauen Anorak und in der Hand ein Schild mit „Ich hasse Putin“. Die Umstehenden applaudierten, als das Kind wenig später wieder mit seiner Mutter vereint war.
Die offiziellen Ansprachen der Kundgebung waren auf der Straße des 17. Juni durch die schlechten Lautsprecher so gut wie nicht zu verstehen. Einmal drang ein „Hallo Berlin“ eines Greenpeace-Vertreters durch, der sich fasziniert von den vielen Menschen zeigte. Der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke sah in der Demonstration angesichts der dramatischen Situation ein starkes Zeichen der Solidarität. „Auch das ist wichtig: Putin ist nicht Russland“, sagte der Gewerkschaftschef. Auch die Klimaaktivistin Luisa Neubauer schilderte ihre Wut darüber, dass Deutschland sich zu lange von den Energielieferungen Putins abhängig und erpressbar gemacht habe. Mit der Gasrechnung finanziere Deutschland jetzt den Krieg gegen die Ukraine mit, rief sie. Deutschland müsse deshalb schneller als beabsichtigt aus fossilen Brennstoffen aus- und auf erneuerbare Energien umsteigen. „Klimapolitik ist auch Friedenspolitik, die Menschen hierzulande sind bereit, dafür Opfer zu bringen“, so Neubauer. Nicht alle klatschten. Auch eine andere Demonstration startete um 13 Uhr: Rund 10.000 Menschen sammelten sich auf dem Platz am Neptunbrunnen am Roten Rathaus und zogen zum Brandenburger Tor. Dieser Zug war von einem ukrainischen Veranstalter angemeldet worden.
Die Ukrainer fordern Hilfe für ihr Land
„Beschützt die Ukraine, stoppt Putin, stoppt den Krieg“, riefen Menschen dabei in ihre Megafone. Gemeinsam wollten sie so lange so laut sein, bis sich die Situation in der Ukraine bessere. Sie forderten Hilfe für ihr Land – und „Isolation für Russland jetzt“. Laut wurde dabei auch die Forderung an Deutschland, noch mehr Waffen in die Ukraine zu senden, um sich dort gegen die russischen Streitkräfte verteidigen zu können. „Für mich ist es wichtig, Solidarität mit den Ukrainern zu zeigen“, sagte abseits davon ein junger Nicht-Ukrainer, „wir können nicht einfach nur zuschauen, wir müssen etwas tun.“