Berlin. Im ersten Halbjahr 2021 wurden in Berlin 522 antisemitische Vorfälle registriert. Im Mai wurde der Höchststand erreicht.

In Berlin gab es im ersten Halbjahr des laufenden Jahres erneut deutlich mehr judenfeindliche Vorfälle als im Vorjahreszeitraum, jedoch weniger als in den sechs Monaten zuvor. Insgesamt 522 Vorfälle hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) für den Zeitraum von Januar und Juni 2021 registriert, wie aus ihrem am Donnerstag veröffentlichten Bericht hervorgeht. In den ersten sechs Monaten des vergangenen Jahres waren es nur 410, von Juli bis Dezember dann 594.

Mit 211 Vorfällen wurden im Mai 2021 nicht nur die meisten des vergangenen Halbjahres dokumentiert – laut Bericht war es der Höchststand seit Beginn der Erfassung im Jahr 2015. Von den 522 Vorfällen im ersten Halbjahr 2021 waren zwölf Angriffe, 22 gezielte Sachbeschädigungen, 15 Bedrohungen und 26 antisemitische Massenzuschriften. Darunter versteht die RIAS Zuschriften, „die sich an einen größeren Kreis von Personen richten“, was meist online geschehe.

Kreuzberg, 25. Juni: Zustand des Stolpersteins für Carl Jachmann nach dem Versuch, das Messing von der Platte abzuziehen.
Kreuzberg, 25. Juni: Zustand des Stolpersteins für Carl Jachmann nach dem Versuch, das Messing von der Platte abzuziehen. © Meldung an RIAS Berlin

Mit 477 handelte es sich bei den meisten Fällen um sogenanntes „verletzendes Verhalten“. Darunter werden sämtliche antisemitische Äußerungen gegenüber jüdischen oder israelischen Personen oder Institutionen zusammengefasst – etwa direkt verbal, online oder durch Schmiererein, Aufkleber oder Symbole.

Rund 15 Prozent der Fälle mit Corona-Bezug

Wie bereits im vergangenen Jahr spielten die Auseinandersetzungen rund um die Corona-Pandemie und die staatlichen Eindämmungsmaßnahmen eine große Rolle, heißt es im Bericht. Einen entsprechenden inhaltlichen Bezug gab es bei 15 Prozent der dokumentierten Vorfälle (78).

Als Anlass diente aber auch die Eskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt im Frühjahr. Im Mai zogen mehrere Demonstrationszüge durch Neukölln, auf denen immer wieder antisemitische Äußerungen laut wurden – während dieser Zeit kam es auch vermehrt zu Schmierereien. Insgesamt 152 Vorfälle wurden zwischen dem 9. Mai und dem 8. Juni registriert.

Lichtenrade, 11. März: Antisemitisches Plakat gegen die Impfkampagne. „Arbeit macht frei“ stand über dem Eingang des Konzentrationslagers Auschwitz.
Lichtenrade, 11. März: Antisemitisches Plakat gegen die Impfkampagne. „Arbeit macht frei“ stand über dem Eingang des Konzentrationslagers Auschwitz. © Meldung an RIAS Berlin

„Schon seit mehreren Jahren beobachten wir: In der Hauptstadt sind in unterschiedlichsten politisch-weltanschaulichen Milieus Aktionspotenziale vorhanden, die jederzeit zur Mobilisierung von antisemitischem Hass auf Versammlungen aktiviert werden können“, sagte der RIAS-Projektleiter Benjamin Steinitz. Dennoch sei Antisemitismus auch jenseits solcher Anlässe ein kontinuierliches Problem, dass „den Alltag von Juden und Jüdinnen prägt“. RIAS spricht in diesem Zusammenhang von einem „antisemitischen Grundrauschen“.

Juden wird empfohlen, Identität zu verbergen

Im Jahr 2021 wurden 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert, während es „fast zeitgleich aus mehreren politischen Richtungen angegriffen wurde“, sagte der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde Berlins, Sigmount Königsberg. Die massive Bedrohung ab Mai habe so so weit geführt, „dass uns empfohlen wurde, Symbole jüdischer Identität wie den Davidsstern zu verbergen, weil diese ‚provozieren‘ könnten“.

Die Opfer sind dabei nicht in jedem Fall automatisch Juden und Jüdinnen. Das traf nur bei 87 der insgesamt 128 direkt betroffenen Personen zu. So versuchte etwa am 1. Mai ein mit einem Messer bewaffneter Mann gewaltsam in eine Wohnung in Karlshorst einzudringen, deren Bewohnerinnen und Bewohner er fälschlicherweise für jüdisch hielt. Andere Schilderungen berichten vom „Hitlergruß“, der auf der Straße kommentarlos einem Mann mit Kippa gezeigt wurde, sowie von einer ganzen Reihe Schmierereien und Beschimpfungen.

Mit 67 die meisten Vorfälle im Bezirk Mitte

Mit 294 geschahen mehr als die Hälfte der Vorfälle online und werden daher keinem Tatort zugeordnet. Bei den übrigen geschahen mit 67 mit Abstand die meisten im Bezirk Mitte, gefolgt von Neukölln (40) – die Orte, an denen die Anti-Corona- und Pro-Palästina-Demonstrationen stattfanden. Dahinter folgen Tempelhof-Schöneberg, Lichtenberg und Pankow (jeweils 20). In Friedrichshain-Kreuzberg wurden 19 Vorfälle registriert, in Charlottenburg-Wilmersdorf 18 und in Treptow-Köpenick zehn. Die Zahlen für die übrigen Bezirke bewegen sich im einstelligen Bereich.