Berlin. Als Ali Abou-Chaker den Saal 500 des Moabiter Kriminalgerichts betritt, zieht er sofort alle Blicke auf sich. Der 46-Jährige trägt unter seiner lachsfarbenen Jacke einen rosa Pullover, als er in der gleichen Ecke des Raumes Platz nimmt, auf dem sonst immer sein jüngerer Bruder Arafat sitzt. Anders als der ist Ali am Donnerstag aber nicht als Angeklagter sondern als Nebenkläger erschienen.
Achteinhalb Monate nachdem er und zwei weitere Männer aus dem Clanmilieu auf einem Kreuzberger Hinterhof niedergeschossen und zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden, begann nun vor dem Berliner Landgericht der Prozess.
Auf der Anklagebank sitzt Oliviero V. – Spitzname „Tony“. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 30-Jährigen versuchten Mord, gefährliche Körperverletzung und einen Verstoß gegen das Waffengesetz vor. Insgesamt 13 Schüsse soll er laut Anklage am frühen Morgen des 26. Dezember in einem Hinterhof an der Kreuzberger Stresemannstraße direkt gegenüber von der SPD-Bundesparteizentrale abgegeben haben.
Clan-Schießerei: Oliviero V. betonte immer wieder, dass er niemanden habe töten wollen
Die Kugeln trafen neben Abou-Chaker auch den langjährigen Vertrauten der Familie, den Intensivstraftäter Veysel Kilic. Auch Abias C. (30), Neffe des Bosses eines anderen Clans, wurde getroffen. Er geht bis heute am Stock.
Die Beweise sind erdrückend, denn die Tat wurde von einer Überwachungskamera bestens dokumentiert. Noch bevor die Aufnahmen im Gerichtssaal abgespielt wurden, räumte Oliviero V. ein, geschossen zu haben. Eine Tötungsabsicht, wie sie ihm in der Anklage vorgeworfen wird, wies er allerdings zurück. „Ich habe niemanden umbringen oder verletzen wollen“, betonte V. immer wieder.
V. sprach dabei von „Notwehr“. Die drei Männer seien zuvor in den Keller eines Flachbaus im Hof gekommen, wo zu diesem Zeitpunkt ein Pokerturnier stattfand. Abou-Chaker sei mit einer einer Machete, Kilic mit einer Pistole und C. mit Pfefferspray bewaffnet gewesen. Sie forderten V. auf, angebliche Spielschulden in Höhe von 4000 Euro zu begleichen.
„Wir werden dich misshandeln und dir die Hände abhacken“
„Du kommst in den Kofferraum, wir werden dich misshandeln und dir die Hände abhacken“, soll Kilic gesagt haben und V. mehrfach mit seiner Waffe geschlagen haben. „Ich hatte Todesangst, Herzrasen, habe gezittert, versucht, mich unsichtbar zu machen und gehofft, dass alles vorbei geht“, so der Angeklagte weiter.
Das dies nicht geschehen würde, sie im klar gewesen, als Kilic ihn mit vorgehaltener Waffe nach draußen zum Auto gebracht und gedroht habe, ihm nun „ein paar Kugeln verpassen“ zu wollen. Er habe sich gesehen, wie er verletzt im Kofferraum liegend entführt werden würde, so V. weiter. Daher habe er seine Pistole gezogen und auf seine vermeintlichen Peiniger geschossen. „Zu den Gründen, warum ich an diesem Abend eine Waffe bei mir trug, möchte ich nichts sagen.“
Auf seiner Flucht habe er die Waffe dann entladen und vergraben, so V. weiter. Ein „Automatismus“. Dann sei er, selbst durch eine Kugel am Bein verletzt, in das eiskalte Wasser des Landwehrkanals gesprungen oder gefallen. Ab da könne er sich an nichts mehr erinnern. Als er im Krankenhaus wieder aufgewacht sei, habe bereits die Mordkommission an seinem Bett gestanden. V. stritt zunächst jede Beteiligung ab, räumte aber schließlich doch alles ein, als er erfuhr, dass es Videoaufnahmen vom Hof gibt. Seit dem 27. Dezember sitzt der Vater von zwei Kindern nun in Untersuchungshaft.
These der Notwehr „könne man diskutieren“
Das Gericht hat sieben weitere Verhandlungstage angesetzt, um aufzuklären, was vor dem Schusswechsel geschah. Die These der Notwehr „könne man diskutieren“ sagte Regina Alex, Vorsitzende Richterin der 35. Strafkammer.
Unklar ist, ob V. tatsächlich Schulden bei den Abou-Chakers hatte. Im Prozess stritt er das ab. Laut Abou-Chakers Anwalt habe er das allerdings gegenüber der Polizei anders geäußert und von Spielschulden in Höhe von 4000 Euro gesprochen.
Während der Aussage des Angeklagten winkte nicht nur Abou-Chaker immer wieder ab. Auch mehrere junge Männer, die im Publikum saßen, gaben immer wieder Kommentare und Pöbeleien von sich. Irgendwann schritt Richterin Alex ein und drohte, alle männlichen Zuschauer aus dem Saal werfen zu lassen, wenn nicht Ruhe sei. Ihm sei klar, dass der Vorfall Konsequenzen haben werde – sowohl für ihn, als auch für seine Familie, sagte Oliviero V. Dabei schien es im weniger um die juristischen Folgen zu gehen.
Intensivstraftäter Veysel Kilic mittlerweile in Türkei abgeschoben
Veysel Kilic galt lange als einer der berüchtigtsten Intensivstraftäter Berlins. Immer wieder fiel er wegen Drogen- und Gewaltdelikten auf. Während einer Messerattacke saß er bereits mehrere Jahre im Gefängnis, im September 2020 wurde er verurteilt, weil er in Charlottenburg auf der Straße um sich geschossen haben soll. Er galt als enger Vertrauter der Abou-Chakers und als deren „Vollstrecker“ und „Mann für das Grobe“.
Bei der Schießerei am zweiten Weihnachtsfeiertag wurde Kilic lebensgefährlich verletzt und lag mehrere Wochen im Koma. Als er wieder erwachte, wurde er wegen des Verdachts des unerlaubten Waffenbesitzes festgenommen. Im März wurde er schließlich in die Türkei abgeschoben, weshalb er im Prozess gegen Oliviero V. nicht als Nebenkläger auftritt.
Der Prozess soll am kommenden Montag fortgesetzt werden. Dann wird die Aussage von Ali Abou-Chaker erwartet. Ein Urteil ist für den 4. Oktober geplant.