Berlin. Am Sonntag zogen Tausende zum Teil aggressive „Querdenker“ durch die Hauptstadt. Die Polizei konnte zeitweise nur tatenlos zusehen.
Rund um die Querdenker-Demos in Berlin wurden am Sonntag rund 1000 Menschen zumindest vorläufig festgenommen. Das teilte die Polizei Berlin mit. 60 Prozent von ihnen stammten nicht aus Berlin. Am Sonntag war noch von 600 Festnahmen die Rede gewesen. Durch die zum Teil aggressiven und gewaltbereiten Demonstranten seien mehr als 60 Polizistinnen und Polizisten zum Teil schwer verletzt worden.
Insgesamt leitete die Polizei demnach 503 Ermittlungsverfahren ein – unter anderem wegen des Verdachts des Widerstands in 59 und des tätlichen Angriffes gegen Vollstreckungsbeamte in 43 Fällen. Darüber hinaus wurden auch Anzeigen wegen des Verdachts des besonders schweren Landfriedensbruchs, der Gefangenenbefreiung, des Verstoßes gegen das Versammlungsfreiheitsgesetz geschrieben – darunter 238 Mal wegen der Teilnahme an einer verbotenen Versammlung, aber auch wegen Verstößen gegen die Infektionsschutzmaßnahmenverordnung des Landes Berlin.
Geisel: Vorgehen der Polizei angemessen und professionell
Innensenator Andreas Geisel (SPD) verteidigte die Berliner Polizei gegen Kritik. Das Vorgehen der Beamten sei „angemessen und professionell“ gewesen, sagte der Politiker am Montag. Die Taktik der Protestierenden, sich an verschiedenen Orten der Stadt immer wieder zu versammeln, habe alles komplizierter gemacht.
Querdenker-Demos in Berlin - die Bilder
Ähnliche Töne schlägt auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) an. Es sei hoch anzurechnen, dass die rund 2200 eingesetzten Kräfte angesichts der enormen Gewaltbereitschaft und stetigen Lageveränderung „derart professionell agiert und kühlen Kopf bewahrt“ hätten, sagte der Sprecher des Berline Landesverbands Benjamin Jendro „Wir reden hier über Kolleginnen und Kollegen, die bereits 40 bis 50 Stunden in der Woche gearbeitet haben und dann noch Sonntag 18 Stunden im Dienst waren.“ Es sei alles im Einsatz gewesen, „was nicht bei drei auf dem Baum war“.
5000 Menschen liefern sich mit Polizei Katz-und-Maus-Spiel
Über Stunden lieferten sich Tausende selbsterklärte Kämpfer für Freiheit und gegen eine herbeifantasierte Zwangsimpfung mit der Polizei ein Katz-und-Maus-Spiel. Obwohl eine mit 22.500 Menschen angemeldete Demonstration des Bündnisses „Querdenken 711“ im Vorfeld aufgrund des Infektionsschutzes gerichtlich verboten wurde, gingen viele Menschen auf die Straße. Die Polizei versuchte, Ersatzveranstaltungen zu verhindern, was wegen der Dynamik nicht immer und überall gelang.
Die „Querdenker“ sprachen sich dabei vor allem über Telegram ab, worüber der Kopf der Bewegung ständig neue Marschbefehle schickte. Nach Schätzungen der Polizei waren mindestens 5000 Menschen in Westend, Charlottenburg, auf der Straße des 17. Juni, in Kreuzberg und auf dem Alexanderplatz unterwegs.
Demonstranten treten auf am Boden liegende Polizisten ein
Immer wieder kam es dabei zu zum Teil sehr brutalen Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden und Polizisten. So gab es Versuche, Absperrungen zu durchbrechen. Gleich mehrere Szenen waren zu beobachten, bei denen Beamten zu Boden gerissen und dann mit Tritten oder Schlägen traktiert wurden. Bei Festnahmen ging die Polizei teilweise auch mit körperlicher Gewalt vor.
Die Wasserwerfer, die am Großen Stern bereitstanden, kamen aber nicht zum Einsatz. „Gerade das Verbot einzelner Versammlungen zeigt deutlich, dass man das Gewaltpotenzial keinesfalls unterschätzt hat“, sagte GdP-Sprecher Jendro. Er kritisierte darüber hinaus die schlechte Verpflegung sowie fehlende Toiletten für die Einsatzkräfte.
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Dem Berliner Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalistenunion (DJU), Jörg Reichel, der am Abend aus der Demonstration angegriffen wurde, soll es inzwischen wieder besser gehen. Mehrere Personen hatten den Gewerkschafter in Kreuzberg vom Fahrrad gezogen und auf ihn eingetreten, außerdem wurde er geschlagen. Es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, er sei aber noch traumatisiert, sagte DJU-Bundesgeschäftsführerin Monique Hofmann am Montag. Der Polizeiliche Staatsschutz ermittelt nun wegen gefährlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung und versuchten Diebstahls.
Demonstranten wollen Mann aus Auto ziehen und verprügeln
Zuvor sollen laut Polizei zwei Personen aus einem Demonstrationszug in Schöneberg versucht haben, einen Mann aus einem Auto zu ziehen und zu verprügeln. Die Bundesregierung reagiere mit Besorgnis auf diese Angriffe, wie Sprecherin Ulrike Demmer sagte. Es sei ein Missbrauch des Demonstrationsrecht.
Teile der „Querdenker“-Szene werden seit dem Frühjahr vom Verfassungsschutz beobachtet. Die Szene sei heterogen, sagte der Sprecher des Bundesinnenministeriums Steve Alter. In der Pandemie sei eine neue Form von Extremismus entstanden, bei der unterschiedliche Akteure „das Ziel eint, die staatlichen Institutionen, den Staat als solches, zu destabilisieren und zu delegitimieren“.
SPD-Politiker: Kontrollen bereits auf der Anreise
„Es geht nicht, dass diese Leute mit ihrem sektenähnlichen Verhalten Berlin als Fußabtreter benutzen, um ihre hässlichen Bilder in die Öffentlichkeit zu posaunen“, sagte Tom Schreiber, verfassungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Er fordert daher, dass auch andere Bundesländer im Vorfeld einer solchen verbotenen Demonstration tätig werden und etwa Reisebusse an Raststätten kontrollieren.
So komme die Berliner Polizei nicht mehr in solch eine „Bredouille“ wie nun am Wochenende. Schreiber nannte dabei etwa Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Die „Querdenker“ kündigten an, am 29. August wieder in Berlin demonstrieren zu wollen. Drei Aufzüge, die am Montag stattfinden sollten, wurden unterdessen von der Polizei ebenfalls verboten.
Mitgründer der Partei Die Basis erleidet in Polizeigewahrsam Herzinfarkt und stirbt
Der 49-Jährige, der am Sonntag am Rande der „Querdenker“-Proteste starb, erlag laut der Berliner Staatsanwaltschaft einem Herzinfarkt. Das habe die Obduktion des Leichnams ergeben, hieß es am Montagnachmittag.
Der Mann war zuvor festgenommen worden, weil er eine Polizeikette durchbrochen und dabei einen Beamten zu Boden gerissen haben soll. Bei seiner Identitätsfeststellung soll er dann über Schmerzen in der Schulter und später auch in der Brust sowie ein Kribbeln in den Händen geklagt haben. „Hinweise auf todesursächliche äußere Gewalteinwirkung im Rahmen der Festnahme liegen nicht vor.“ Bei dem Mann aus Nordrhein-Westfalen soll es sich um ein Gründungsmitglied der Partei Die Basis handeln.