Kommission sieht unzureichende Auswertung abgehörter Telefonate durch den Verfassungsschutz. Kritik auch an der Staatsanwaltschaft.

Die Berliner Staatsanwaltschaft und der Berliner Verfassungsschutz müssen sich im Fall der rechtsextremen Neuköllner Anschlagsserie Versäumnisse und strukturelle Defizite vorwerfen lassen. Die von der Senatsverwaltung für Inneres eingesetzte Expertenkommission der früheren Eberswalder Polizeipräsidentin Uta Leichsenring und des einstigen Bundesanwalts Herbert Diemer listet in ihrem Abschlussbericht etliche Schwachstellen auf.

Der Bericht soll am Montag im Innenausschuss debattiert werden. Er liegt der Berliner Morgenpost vorab vor. Zuvor hatte auch der „Tagesspiegel“ darüber berichtet.

Bei der Arbeit der Staatsanwaltschaft stellte die Kommission zwar keine „groben Ermittlungsfehler“ fest. Ausgeschlossen werden könnten „rechtsextreme Bestrebungen oder gar ein rechtsextremes Netzwerk unter Staatsanwältinnen und Staatsanwälten“. Die Arbeitsweise der für politisch motivierte Delikte zuständigen Abteilung habe den Anforderungen bei der Verfolgung der Straftaten im Neukölln-Komplex aber „nicht durchgängig“ entsprochen.

„Nicht erkennbare Koordination der Ermittlungen“

Diemer und Leichsenring kritisieren zur Arbeit der Staatsanwaltschaft eine „nicht erkennbare Koordination der Ermittlungen“. Es müsse überprüft werden, inwieweit die strukturellen und personellen Gegebenheiten für die Anforderungen der Bearbeitung derartiger Deliktserien ausreichten.

Im Jahr 2017 habe die Staatsanwaltschaft drei Monate gebraucht, einen Antrag zur Abhörung der Telekommunikation der Beschuldigten zu stellen und eine längerfristige Observation auf den Weg zu bringen. „Eine solch lange Zeit ist nach den Erfahrungen der Kommission unüblich“, heißt es in dem 102-seitigen Bericht. Der Grund für die Verzögerung sei „den Akten nicht zu entnehmen.“

Einen Mangel erkennen die Experten auch bei der der letztlich erfolglosen Beantragung von Haftbefehlen gegen die beschuldigten Neonazis Sebastian T. und Tilo P. im Februar 2018. Die Anträge seien unzureichend begründet worden. Eine erfolgreiche Strafverfolgung sei daran gescheitert.

Kritik äußerten die Experten auch an der Arbeit des Verfassungsschutzes. Die Mitarbeiter hätten ihre Aufgaben dem Eindruck der Experten nach zwar „grundsätzlich engagiert und verantwortungsbewusst“ wahrgenommen. Bei der Auswertung abgehörter Telekommunikation müssten die Strukturen aber angepasst werden.

Informationen wurden nicht protokolliert

So habe eine stichprobenartige Überprüfung der Mitschnitte ergeben, dass „teilweise sehr lange Gespräche nur sehr kurz protokolliert wurden“. Einzelne Informationen aus den Gesprächen seien nicht protokolliert worden, „obwohl sie nach Auffassung der Kommission vor dem Hintergrund der Ereignisse durchaus einen Sachzusammenhang mit dem Neukölln-Komplex haben“.

Die Information könnte nach Einschätzung von Diemer und Leichsenring aufgrund der Masse der zu bearbeitenden Rohdaten übersehen worden sein. Es stelle sich somit die Frage, „ob eine vollständige und zeitnahe Bearbeitung mit dem verfügbaren Personal und Technikansatz gewährleistet werden kann“.

Diemer und Leichsenring empfehlen zudem, sämtliche Mitschnitte erneut auszuwerten. Sinnvoll sei hierzu die Bildung einer „eigenständigen Taskforce“.

„Immense personelle Ressourcen“

Der Polizei bescheinigen die Experten, „erst mit erneuter Zunahme der Straftaten“ und des öffentlichen Drucks „immense personelle Ressourcen in die Aufklärung“ investiert zu haben. Die Beweislage und die Zuordnung weiterer Straftaten zur Tatenserie habe sich damit verbessert.

Die Ermittler hätten den Seriencharakter und das Angriffsziel der rechtsextremistisch motivierten Straftaten früh erkannt. Ermittlungsansätzen seien sie „grundsätzlich engagiert und akribisch nachgegangen“. Mit der Einsetzung der Sonderkommission Fokus im Mai 2019 habe sich dies noch intensiviert.

Ungereimtheiten und Versäumnisse

Leichsenring und Diemer waren im Oktober vergangenen Jahres vom Senat mit einer Untersuchung zur Arbeit der Sicherheitsbehörden im Fall der Neuköllner Anschlagsserie beauftragt worden. Betroffene der Straftaten und außenstehende Beobachter hatten deren Arbeit zuvor wiederholt kritisiert, nachdem durch Medienveröffentlichungen immer wieder Ungereimtheiten und Versäumnisse ans Licht gekommen waren.

Das Berliner Landeskriminalamt rechnet der Neuköllner Anschlagsserie rund 70 Straftaten zu, darunter sind mindestens 14 Brandstiftungen und 35 Sachbeschädigungen. Sie wurden zwischen Juni 2016 und März 2019 verübt. Die Opfer waren Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren.

Nach dem Verdacht einer möglichen Befangenheit eines Staatsanwaltes hatte im August vergangenen Jahres die übergeordnete Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen übernommen. Im Dezember erwirkte sie gegen die tatverdächtigen Neonazis Sebastian T. und Tilo P. Haftbefehle. Der Haftbefehl gegen T. wurde aber aufgehoben, weil das Gericht keinen dringenden Tatverdacht erkannte. Tilo P. erhielt Haftverschonung. Die Ermittlungen dauern den jüngsten Informationen nach an. Die Generalstaatsanwaltschaft kündigte eine Anklage an.