- Christiane Feldmann ist Assistenzärztin im Vivantes Klinikum Am Urban in Kreuzberg und berichtet bei Twitter als "Herzspitze" aus ihrem Berufsalltag.
- Sie sagt, dass die Intensivstationen an der Belastungsgrenze sind - „Und wir wissen nicht, wie es weitergehen wird.“
- Inzwischen erkranken immer mehr Kollegen am Coronavirus.
- Die Ärztin erzählt, wie sie das Corona-Jahr 2020 erlebt hat.
Berlin. Damals, in einer anderen Zeit. So fühlt es sich an, wenn sie jetzt an Silvester vor einem Jahr denkt, sagt Christiane Feldmann. In der Intensivstation hatten sie die Betten der Patienten zu den Fenstern gedreht, damit sie das Feuerwerk über Kreuzberg gut sehen konnten. Nach Mitternacht wurden wie immer viele Menschen mit Brandverletzungen eingeliefert, nach Schlägereien, mit zu viel Alkohol und Drogen. „Es war eben ein lautes, buntes, wildes Kreuzberg-Silvester wie immer. Und niemand konnte sich diese Stille jetzt vorstellen.“
Christiane Feldmann (44) ist Assistenzärztin im Vivantes Klinikum Am Urban. Seit zwei Jahren arbeitet sie dort in der Intensivstation. Außerdem ist sie sechs Tage oder Nächte im Monat als Notärztin für die Feuerwache am Urban in Kreuzberg unterwegs. Auf Twitter folgen ihr gut 5000 Fans, wenn sie als „Herzspitze“ aus ihrem Berufsalltag berichtet, Motto: „Mit Liebe und Augenzwinkern.“ Mal geht es um typische Berliner Partydrogen-Unfälle, mal um die Schönheit der Stadt in der Nacht, mal um medizinisches Fachwissen für Laien. Wir haben die Ärztin gefragt, wie sie das Jahr 2020 erlebt hat.
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Kreuzberger Ärztin: Im Januar war das Coronavirus noch weit weg
Im Januar, erinnert sich Christiane Feldmann, war das Coronavirus gefühlt noch weit weg. „Es war auch für uns Kollegen eher von akademischem Interesse, bisher war es ja immer gelungen, neue Sars-Viren unter Kontrolle zu bringen.“ Selbst als in Berlin im Februar 20 China-Rückkehrer im DRK-Krankenhaus in Köpenick vorsorglich in Quarantäne kommen, bestimmen in Kreuzberg andere Themen den Alltag.
Auf Twitter wundert sich Feldmann sich nur halb scherzhaft: „Es ist den Deutschen aber auch nicht beizubringen, wie derbe asozial es ist, in die Hand zu niesen und danach die U-Bahnstangen anzupacken.“ Gemeint habe sie eigentlich die erwartete Grippewelle, sagt sie heute. „Bei einem Besuch 2013 in Japan hatte ich gesehen, wie einfach sich Ansteckungen vermeiden lassen – wer erkältet ist, trägt dort Mund-Nasen-Schutz, niemand niest in die Hand und fasst dann irgendwas an. Und neben jedem Fahrkartenautomaten gab es Desinfektionsmittel." Sie klingt begeistert.
In Berlin ist Desinfektionsmittel Ende Februar ausverkauft. Um die Verbreitung des Coronavirus zu verhindern, werden Großveranstaltungen wie die Reisemesse ITB abgesagt. Was ausbleibt, sind die Grippe- und Norovirus-Wellen. Das bestätigen im Sommer auch Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI). „Wissta noch Noro?“, scherzt Feldmann Ende Februar auf Twitter. Es klingt, als könnte auch Corona bald wieder vorbei sein.
Unfälle mit Partydrogen und Sex gehören bis dahin zum Standardprogramm
Und das Berliner Leben geht weiter. „Noch Vollmond. Aber die Vögel singen. Vor der Klinik streiten die Dealer. Hach, Frühling liegt in der Luft“, schreibt Feldmann im Februar. Während Italien erste Städte abriegelt und den Karneval in Venedig absagt, begeht Berlin den Rosenmontag auf seine Weise. „Notärzte sind die, die noch da bleiben, wenn im Darkroom das Licht angeht“, kommentiert Feldmann trocken einen typischen Einsatz. Unfälle mit Partydrogen und Sex gehören bis März zum „klassischen Berliner Wochenendprogramm“, sagt sie. "Inzwischen gibt es das nicht mehr."
In der Notaufnahme des „Urban“ steht an einem Märzabend eine große Familie und verlangt, man müsse sie behandeln. Alle, sofort. „Sie hatten chinesischen gegessen und meinten, sie hätten sich dadurch mit Corona infiziert“, erinnert sich die Notärztin. Der älteste Sohn wird so wütend, dass die Polizei kommen muss. Die hysterische Reaktion, meint Feldmann, war durchaus typisch für die erste Phase der Pandemie. „Viele Menschen bekamen Informationen zunächst eher übers Hörensagen und Verwandte im Ausland, wo die Situation teilweise schon viel dramatischer war.“ Und noch etwas hat sie damals verstanden: „Angst kann ganz unterschiedliche Reaktionen auslösen, von Ablehnung und Ignoranz bis hin zu Panik und Aggression. Der Sohn wollte seine Familie beschützen und hat einfach überreagiert.“
Die Ausnahmesituation tritt in Berlin am 1 . März ein, als der erste Corona-Patient diagnostiziert wird. Am 22. März verhängen Bund und Länder Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. Während die Berliner das Schlangestehen üben und Vokabeln wie Lockdown, lernt das medizinische Personal im „Urban“ im Schnellverfahren den konkreten Umgang mit Corona-Patienten. Und wie sie sich richtig schützen. „Gerade, wenn Patienten etwa am Anfang mit einem Beutel beatmet werden, ist man ja den Aerosolen voll ausgesetzt.“ Sie twittert optimistisch: „Alle sind geschult und entspannt.“
Das Coronavirus ist schnell
Ein Problem aber bleibt: Weltweit ist medizinische Schutzkleidung knapp, in den Krankenhäusern verschwinden Desinfektionsmittel und Einmalhandschuhe. Ab Mitte März werden diese im „Urban“ nur noch streng nach Bedarf verteilt, erinnert sie sich. Und es wird still im Haus, das im Jahr 65.000 Patienten und ein Vielfaches an Besuchern hat. Ab Mitte März herrscht Besuchsverbot. Was die Arbeit einerseits einfacher macht, sagt Christiane Feldmann, gerade auf Intensivstationen. Auf der anderen Seite müssen sie nun die Angehörigen der Patienten telefonisch informieren, was eine Herausforderung ist, auch menschlich. Zumal, wenn es um Corona geht.
Das Virus ist schnell. Manche Patienten kommen noch zu Fuß in die Notaufnahme, müssen aber schon in der Rettungsstelle beatmet werden, abends liegen sie intubiert mit akutem Lungenversagen in Bauchlage auf der Intensivstation. „Das habe ich so noch nie erlebt“, sagt Feldmann. „Das hat selbst uns Intensivärzte erschüttert.“
Während sie um die ersten Covid-19-Patienten kämpfen, errichtet Berlin auf dem Messegelände die Corona-Klinik mit 1000 Betten. Christiane Feldmann twittert: „Jetzt Ressourcen in der Klinik schaffen, Räume und Personal, und gut finanzieren!“ Immer mehr Ärzte stellen dieselbe Frage: Woher soll das Personal kommen? Der Personalmangel in den Krankenhäusern ist lange bekannt. Im Klinikum am Urban behelfen sie sich selbst, erzählt Feldmann. Es wird Personal aus anderen Abteilungen des Hauses rekrutiert. Es läuft so gut, dass einige Kollegen ganz auf der Intensivstation bleiben. Eine Lösung auf Dauer kann es nicht sein.
Tausende feiern in Schlauchbooten vor dem Krankenhaus
Und noch andere Fronten tun sich auf. „Ich hatte einen großartigen Tag auf dem NEF", dem Notarzteinsatzfahrzeug, twittert Christiane Feldmann während des Lockdowns, es ist ironisch gemeint. „Viel zu tun. Sonne! Die Straßen und Parks gefüllt. Trauben fröhlicher Menschen vor Dönerläden und Eisdielen. Straßenmusiker. Die Dealer am Kotti voller Elan...“ Die lockere Kreuzberger Lebenshaltung macht sie besorgt. „Es war, als wenn ein Patient seine Bluthochdruck-Tabletten absetzt, weil er meint, er habe ja jetzt keinen Bluthochdruck mehr", sagt sie. „Es fehlte jedes Verständnis, dass das Virus nicht einfach wieder weg war.“
Im Krankenhaus werden Familienfeiern zum Thema. Immer wieder erklären Ärzte Patienten und Angehörigen, wie die Corona-Ansteckung vor sich geht. Dass die Kontaktverfolgung keine Schikane ist, sondern Leben retten kann. Aber auch andere Kreisen hinterfragen nun alles, sagt Christiane Feldmann, „auch unter meinen Freunden und Bekannten“. Manche befassen sich akribisch mit Studien und Statistiken und versuchen alles zu widerlegen, was Virologen und Politiker sagen. „Heute erkläre ich mir das psychologisch. Es ist ein Weg, mit der Situation umzugehen, die einen ohnmächtig macht.“
Als die Corona-Zahlen sinken, macht das „Urban“ wieder Schlagzeilen wie früher. Im Ende April rückt die Polizei an, weil an die 100 Menschen das Krankenhaus belagern. Während drinnen die Mutter eines Clan-Oberhaupts im Sterben liegt, warten sie draußen auf der Wiese auf das tägliche „Bulletin“, Corona-Regeln hin oder her. Zu Pfingsten drängen sich Feiernde zu Tausenden zu einer Schlauchboot-Party im Urbanhafen. Auf dem Landwehrkanal wird zu lauter Musik und unmaskiert im Namen der bedrohten Clubkultur gefeiert, drinnen werden Corona-Patienten beatmet. „Das war geschmacklos“, sagt die Ärztin.
„Morphin ist KEINE Todesspritze“
Und noch etwas ist neu - die massenhafte Verbreitung von Unwissen und Lügen über Corona. „Morphin ist KEINE Todesspritze“, twittert Feldmann, als die Aktivistin Jutta Ditfurth unterstellt, in Krankenhäusern würde Morphium verwendet, „um Menschen sterben zu lassen, die vielleicht gerettet werden könnten“. Im Gegenteil: Das Mittel werde eingesetzt, um Menschen das Luftholen zu erleichtern, erklärt die Ärztin sachlich. Auch das gehört zu ihrem Jahr 2020: Der Versuch, Laien zu beschreiben, welche Leiden das Coronavirus verursacht. Zum Beispiel das Gefühl, zu ersticken.
Doch es passiert auch Schönes. Im Mai bekommt sie als Notärztin die Meldung „unmittelbar bevorstehende Geburt“ - ein Alarm, der auch gestandene Rettungsleute nervös machen kann. Als sie ankommen, liegt die Mutter schon im Rettungswagen, der Ehemann ist leichenblass - „das Köpfchen war schon zu sehen.“ Sie holen das Baby im Rettungswagen auf die Welt. „Am Straßenrand, aber alles lief gut“, erinnert Feldmann. Die glückliche Rückkehr mit Familie und Kollegen ins Krankenhaus sei für sie das bisher schönste Erlebnis als Notärztin gewesen, sagt sie. „Das hat mir für den Rest dieses Jahres Energie gegeben.“
Auf dem Dach des Krankenhaus-Neubaus öffnet der legendäre Dachgarten wieder. Mitarbeiter können hier Beete bestellen oder den Sonnenuntergang genießen. Es gibt eine Bar, liebevoll dekoriert mit Lichterketten aus alten Braunolflaschen, schwärmt Christiane Feldmann. Hier oben wirkt die Welt weit weg. Der Sommer sieht zunächst nach Entspannung aus. Im Juni begeht das „Urban“ seinen 130. Gründungstag und schaut auf die eigene Geschichte zurück, die erstaunlich zur Gegenwart passt. Stifterin war 1890 die Tochter eines Berliner Opernsängers und Hofschauspielers, erste Patienten ein Dienstmädchen, die Krankheit: ein Lungenleiden.
„Selbst meine Eltern habe ich nicht getroffen“
Zeitgleich wird der Betonklotz 50. Der Poelzig-Bau galt wegen seines brutalistischen Baustils lange als Bausünde, heute steht er unter Denkmalschutz und hat unter Mitarbeitern Kultstatus. Einer hat Sweatshirts mit der Silhouette bedruckt, Christiane Feldmann postet ihres auf Twitter. Beim Kunstwettbewerb zum Jubiläum baut ein Kollege den Bau aus Infusionsflaschen nach, ein anderer malt die schock-orangefarbenen Jalousien in Öl. Auf Instagram mischen sich die fröhlichen Bilder vom Jubiläum mit Personalgesuchen des Klinikkonzerns Vivantes und dem Appell des Teams von der Intensivstation an die Berliner, doch bitte zu Hause zu bleiben. Corona ist nicht vorbei.
Spätestens, als im Sommer Virologen immer wieder seriöse Hochrechnungen einer zweiten Welle machten, hätte die Politik für ausreichend Personal sorgen müssen, sagt Christiane Feldmann heute. „Das macht mich wütend.“ Statt sich zu ärgern, beginnt sie, sich auf ihre Facharztprüfung als Internistin vorzubereiten. Der geplante Frankreich-Urlaub fällt aus, als dort im September die Zahlen wieder steigen. Stattdessen besuchen sie und ihr Mann Freunde in Österreich, wo zu der Zeit die Zahlen niedrig sind und Maskenpflicht herrscht. Die Freunde werden 2020 ihr einziger privater Kontakt bleiben, sagt sie. „Selbst meine Eltern habe ich nicht getroffen.“ Dem Virus entgeht sie, allerdings bricht sie sich bei einem Fahrradunfall die Schulter und kann erst im Oktober wieder arbeiten.
Sie kommt mitten in die zweite Welle. Sie freut sich trotzdem, zurück zu sein. „Es gibt einen sehr guten Zusammenhalt, viele Kollegen arbeiten seit Jahrzehnten hier.“ Das Haus ist wieder für Besucher geschlossen, diesmal spüren sie die Entspannung kaum. Weil das Klinikum inzwischen zum Level-III-Krankenhaus herabgestuft worden ist, müssen sie schwere Corona-Fälle in andere Häuser verlegen. „Beatmete Patienten, im Rettungswagen mit Notarztbegleitung, das bedeutet viel organisatorischen Aufwand“, sagt Feldmann. Ab Herbst wird es schwieriger, überhaupt Betten für die Patienten zu finden. Manchmal, sagt sie, komme sie sich vor wie eine Reiseagentur für Schwerstkranke.
Das ununterbrochene Arbeiten in Schutzkleidung ist anstrengend
Bis zum Herbst, sagt Christiane Feldmann, habe sie sich mit FFP2-Maske und Schutzkleidung ausreichend sicher gefühlt, doch inzwischen erkranken immer mehr Kollegen. Das medizinische Personal kann sich testen lassen. „Aber alle fragen sich, was ist, wenn ich ausfalle?“ Überhaupt, die Schutzkleidung. Während am Anfang die Erleichterung überwog, gut ausgerüstet zu sein, nennt sie das tägliche An- und Umkleiden inzwischen scherzhaft "Verkleiden". Das ununterbrochene Arbeiten hinter Masken, Brillen, in Anzügen und Hauben ist anstrengend.
„Wir gurken noch zu dritt durch die Stille der down-gelockten Stadt“, twittert Feldmann nach einer Nachtschicht als Notärztin, es der Teil-Lockdown Anfang November. „Alles geschlossen. Niemand zu sehen. Nur unser Späti hat geöffnet. Eine Oase aus Licht und starkem Kaffee.“ Der Witz: Eigentlich hätte der Späti nachts geschlossen sein müssen – während tagsüber andererseits Schulen, Kitas und Geschäfte offen sind. Sie sagt: Der halbherzige Teil-Lockdown sei für sie „völliger Quatsch“ gewesen.
„Wir wissen nicht, wie es weitergehen wird“
Als sie im Dezember für eine Woche in Urlaub geht, sind 27 Prozent der Betten auf den Intensivstationen belegt. Als sie wiederkommt, sind es 34 Prozent. „Dazu die Herzinfarkte, Schlaganfälle, Unfälle – die Intensivstationen sind damit an der Grenze“, sagt sie. „Und wir wissen nicht, wie es weitergehen wird.“ Diese Ungewissheit sei mittlerweile ein großes Problem für viele ihrer Kollegen. „Viele sind an einem moralischen Tiefpunkt. Vielleicht auch, weil wir jetzt eben nicht Weihnachten und Silvester so feiern konnten, wie es die Politik im Herbst versprochen hat.“
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