Extremismus

Neuköllner Anschlagsserie: Staatsanwaltschaft unter Druck

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Im Februar 2018 wurde das Auto des Neuköllner Politikers Ferat Kocak (Linke) angezündet. Die Polizei vermutet Neonazis als Täter. Den Behörden lagen Hinweise auf den Anschlag vor. Gewarnt wurde Kocak dennoch nicht. Nach den Versäumnissen der Polizei gerät nun auch die Staatsanwaltschaft in die Kritik. Der zuständige Abteilungsleiter und ein Bearbeiter wurden daher versetzt.

Im Februar 2018 wurde das Auto des Neuköllner Politikers Ferat Kocak (Linke) angezündet. Die Polizei vermutet Neonazis als Täter. Den Behörden lagen Hinweise auf den Anschlag vor. Gewarnt wurde Kocak dennoch nicht. Nach den Versäumnissen der Polizei gerät nun auch die Staatsanwaltschaft in die Kritik. Der zuständige Abteilungsleiter und ein Bearbeiter wurden daher versetzt.

Foto: privat

Die Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft zur Neuköllner Anschlagsserie könnten sich zum Justizskandal ausweiten.

Berlin.  Mirjam Blumenthal erfuhr es aus der Zeitung. Die Neuköllner SPD-Politikerin ist einiges gewohnt. 2012 wurde ihr Auto angezündet. Mutmaßlich von Rechtsextremisten. Dann erhielt sie wegen ihres Engagements gegen Neonazis immer wieder Drohungen. Die Arbeit der Ermittlungsbehörden begleiteten Blumenthal und die anderen Betroffenen der mutmaßlich von Rechtsextremisten verübten Neuköllner Anschlagsserie schon seit Jahren kritisch, angesichts einer Reihe von Pannen und Versäumnissen richtete sich der Argwohn dabei vor allem gegen die Polizei. Nun aber steht auch die Staatsanwaltschaft im Fokus – und Blumenthal sagt: „Da tut sich eine völlig neue Dimension auf.“

Am Tag nachdem die Vorwürfe in Folge einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft öffentlich wurden, konkretisiert sich der Sachverhalt nun. Demnach schickte ein in dem Verfahren zur Anschlagsserie als tatverdächtig geführter Neonazi, der Neuköllner Tilo P., im März 2017 per Handy eine elektronische Textnachricht an einen Mitstreiter: „Die Staatsanwaltschaft ist auf unserer Seite. Der ist AfD-Wähler“, behauptete der Neonazi. Andere Nachrichten verdeutlichen, dass P. sich mit seiner Behauptung auf den Leiter der für Extremismus zuständigen Abteilung für Staatsschutzdelikte bezog. Dieser Staatsanwalt habe ihn als Zeuge vernommen. Nach Informationen der Berliner Morgenpost ging es in diesem Verfahren um einen Angriff linker Gewalttäter auf einen Info-Stand der AfD. Tilo P. war damals Mitglied der AfD. Später verließ er die Partei.

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Das Landeskriminalamt der Polizei wies, als sie die Textnachricht auswertete, ausdrücklich auf deren Brisanz hin. Der Vermerk darüber erreichte die Staatsanwaltschaft. Doch der zuständige Staatsanwalt informierte darüber weder die Behördenleitung noch seinen unmittelbaren Vorgesetzten, also den Abteilungsleiter, von dem Tilo P. behauptete, er sei AfD-Wähler.

Die Leiterin der Generalstaatsanwaltschaft, Margarete Koppers, erfuhr nur durch einen Zufall von dem Fall. Die Anwältin von einem Betroffenen der Anschlagsserie hatte sich an sie mit einer Beschwerde zu einem anderen Sachverhalt gewandt. Koppers’ Mitarbeiter prüften diese Beschwerde – und entdeckten dabei auch den Vermerk über die Behauptung von Tilo P., dass die Staatsanwaltschaft „auf unserer Seite“, sei.

Koppers fackelte nicht lange. Nach Angaben des Sprechers der Senatsverwaltung für Justiz erfuhr sie am Freitag vergangener Woche von dem Fall. Dann habe sie mit den betroffenen Staatsanwälten gesprochen. Am Mittwoch habe sie dann Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) informiert. Am Donnerstag teilte sie per Pressemitteilung schließlich mit, dass die Ermittlungen nun von der Generalstaatsanwaltschaft geführt würden. Der bisher zuständige Bearbeiter und sein in Misskredit gebrachter Abteilungsleiter wurden versetzt. Sie kümmern sich nun um Straftaten der Allgemeinkriminalität.

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Abteilungsleiter fiel als „äußerst konservativ“ auf

In der Politik schlugen die Nachrichten hohe Wellen. „Alter, was ist denn da los?“, twitterte der innenpolitische Sprecher der Linke, Niklas Schrader – und bekräftigte die Forderung seiner Partei nach einem Untersuchungsausschuss. Auch die Grünen erwägen eine solche Forderung. Zunächst müsse aber die Justizverwaltung die Möglichkeit zur Aufklärung erhalten. Auch die Einsetzung eines Sonderermittlers sei möglich, sagte der Innenexperte der Grünen, Benedikt Lux. Der Fall müsse aufgeklärt werden, forderte auch die SPD. Ein politisches Fehlverhalten sei aber weder bei Innensenator Andreas Geisel (SPD) noch bei Justizsenator Behrendt erkennbar. Ein Untersuchungsausschuss sei daher nicht das passende Mittel, sagte der SPD-Rechtsexperte Sven Kohlmeier.

Der rechtspolitische Sprecher der CDU, Sven Rissmann, bezeichnete die Vorwürfe als „erschütternd“. Warum Behrendt darüber nicht zuerst die Volksvertreter informiert habe, sei „unerklärlich“. Ein Untersuchungsausschuss könne aber nur bis zum Ende der Legislatur im Herbst kommenden Jahres arbeiten. Diese Zeit sei zu kurz. Nach der Wahl könne die Forderung aber womöglich wieder auf der Tagesordnung stehen.

Aus der Senatsjustizverwaltung verlautete, dass die Verfahren des betroffenen Abteilungsleiters, von dem der Neonazi behauptete, er stehe „auf unserer Seite“, nun überprüft würden. Der Staatsanwalt sei als „äußerst konservativ“ aufgefallen, berichteten Mitarbeiter des Justizapparates. Ein damaliger Jura-Student, der bei dem Staatsanwalt sein Staatsexamen ablegte, meldete sich zu Wort. Fritz Marquardt, heute Büroleiter eines EU-Abgeordneten der Grünen, schilderte auf Twitter ein Vorgespräch mit dem Staatsanwalt, der ihm im März 2020 die Prüfung abnahm. „Er hat ziemlich unvermittelt gesagt, dass es die rechtsextremen Hetzjagden von Chemnitz gar nicht gegeben habe“, sagte Marquardt. „Das hat mich schon damals erschreckt. Jetzt erschreckt es mich umso mehr.“

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