Berlin. Der beschuldigte Neonazi behauptete, ein Abteilungsleiter sei „auf ihrer Seite“. Berlins Linke fordert einen Untersuchungsausschuss.
Bei den Ermittlungen zu der mutmaßlich von Rechtsextremisten verübten Neuköllner Anschlagsserie hat es bei der Staatsanwaltschaft ein folgenschweres Versäumnis gegeben, das inzwischen schon zur Versetzung eines Staatsanwalts geführt hat.
Nach Informationen der Berliner Morgenpost äußerte einer der Beschuldigten, der als Neonazi geltende Tilo P., gegenüber dem ebenfalls beschuldigten Rechtsextremisten Sebastian T. in einer elektronisch übermittelten Textbotschaft sinngemäß, dass sie sich um die Staatsanwaltschaft keine Sorgen machen müssten. Der Staatsanwalt sei auf ihrer Seite, behauptete P.
Kommentar: Neuköllner Anschlagsserie: Ein Ausschuss rückt näher
Die mit dem Fall befassten Ermittler der Polizei und Staatsanwälte erfuhren im Rahmen der Ermittlungen von der Telekommunikation. Trotz der Brisanz hielten es aber offenbar weder die zuständigen Polizisten noch die Staatsanwälte für nötig, unverzüglich ihre Vorgesetzten zu informieren. Die Behördenleitung habe erst von der Behauptung des Neonazis erfahren, als die Anwältin eines Mannes, der von der Anschlagsserie in Neukölln betroffen war, eine Beschwerde einreichte.
Der Beschuldigte Tilo P. soll sich mit der Bemerkung, der Staatsanwalt sei auf ihrer Seite, auf den Leiter der Abteilung für Staatsschutzdelikte bezogen haben. Was ihn dazu veranlasste, konnte bislang nicht aufgeklärt werden. Möglich scheint, dass P. und der Staatsanwalt sich im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens bei einer Befragung begegneten. Der Staatsanwalt soll dabei seine Sympathie für die AfD bekundet haben, behauptet jedenfalls P.
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Generalstaatsanwaltschaft: Befangenheit eines Staatsanwalts möglich
Die Generalstaatsanwaltschaft wollte sich zu den Vorwürfen mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen inhaltlich nicht äußern. In einer Mitteilung der Behörde hieß es am Mittwoch, es seien „Umstände zu Tage getreten, die die Befangenheit eines Staatsanwalts als möglich erscheinen lassen“. Um „jedem Anschein einer nicht sachgerechten Bearbeitung in diesem und allen anderen entsprechenden Verfahren entgegen zu wirken“, habe die Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen übernommen. Zwei der mit den bisherigen Ermittlungen betrauten Staatsanwälte würden in andere Abteilungen umgesetzt.
Generalstaatsanwältin Margarete Koppers sagte am Mittwoch der Berliner Morgenpost: „Mir ist es ein extrem wichtiges Anliegen, die Neutralität der Ermittlungen in diesem Verfahrenskomplex sicherzustellen.“ Der Anschein einer möglichen Befangenheit, „gleich ob valide oder nicht“, sei geeignet, das Vertrauen der Betroffenen der Anschlagsserie, aber auch der Bevölkerung in die Strafverfolgungsbehörden zu zerstören. „Dem möchte ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenwirken“, sagte Koppers. Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) sagte, es dürfe keinen Zweifel daran geben, dass die Strafverfolgungsbehörden rechtsextreme Straftaten verfolgten.
Die Polizei rechnet der Neuköllner Anschlagsserie mehr als 60 Straftaten zwischen Juni 2016 und März 2019 zu. Dabei wurden Autos und Geschäfte von Neuköllnern in Brand gesetzt, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Die Betroffenen der Anschlagsserie äußerten schon zuvor Zweifel an der Professionalität der Ermittlungen. Im Fall des Linke-Politikers Ferat Kocak lagen den Sicherheitsbehörden Hinweise vor, dass er Ziel eines Anschlags werden könnte. Dennoch informierten die Behörden Kocak nicht. Wenig später stand sein Auto in Flammen. „Die neuen Vorkommnisse zeigen, dass wir nicht nur bei den Sicherheitsbehörden ein Problem haben, sondern auch bei der Staatsanwaltschaft“, sagte Kocak. Der innenpolitische Sprecher der Linke, Niklas Schrader, bekräftigte die Forderung seiner Partei nach einem Untersuchungsausschuss.
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FDP wegen Überprüfung der rechtsextremen Anschlagsserie besorgt
Die FDP zeigte sich tief besorgt, nachdem die Generalstaatsanwaltschaft Berlin die Ermittlungen zu einer Anschlagsserie von Rechtsextremisten in Neukölln übernommen hat. Wenn die Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen an sich ziehe, sei das ein „deutliches Signal“, sagte der Vizevorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Stephan Thomae, am Donnerstag in Berlin.
„Gerichte und Staatsanwaltschaften verfügen über große Macht, in die Freiheit des Einzelnen einzugreifen. Sie müssen daher über jeden Zweifel erhaben sein“, betonte der FDP-Rechtspolitiker. Der Staat müsse gegen rechtes Gedankengut und rechte Gewalt entschlossen vorgehen. „Es darf an keiner Stelle auch nur der Eindruck entstehen, dass staatliche Institutionen dieser Gefahr nicht konsequent entgegentreten.“
Die Generalstaatsanwaltschaft habe leider zu spät reagiert, sagte sein Fraktionskollege Benjamin Strasser. Der Innenpolitiker betonte: „Die merkwürdigen Verbindungen von AfD und Sicherheitsbehörden in Berlin-Neukölln sind nicht erst seit gestern bekannt.“ Schließlich sei schon vor einiger Zeit herausgekommen, „dass wohl interne Informationen zum Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz von Polizisten in AfD-Chatgruppen veröffentlicht wurden“. Der Berliner Senat solle prüfen, ob sein Konzept gegen rechtsextreme Einstellungen bei der Polizei womöglich auf alle Justiz- und Sicherheitsbehörden der Hauptstadt ausgeweitet werden müsse.
CDU-Chef Wegner bringt Sondermittler zu Neukölln ins Spiel
Der Berliner CDU-Vorsitzende Kai Wegner hat einen Sonderermittler angesichts des Befangenheitsverdachts ins Gespräch gebracht. „Zunächst ist der Justizsenator in der Verantwortung, zu diesen Vorwürfen Stellung zu nehmen und sie aufzuklären“, sagte Wegner der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag. „Wenn das nicht befriedigend läuft, dann kann ich mir einen Sonderermittler gut vorstellen.“ Dies wäre dann eine andere Möglichkeit, für Aufklärung zu sorgen. Einen Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus, den etwa die Linke fordert, hält Wegner in diesem Fall nicht für zielführend.
Wegner warnte vor diesem Hintergrund vor einem Generalverdacht gegen die Justiz oder die Polizei. „Es gibt kein Rassismusproblem bei der Berliner Polizei oder in der Justiz, genausowenig wie ein Extremismusproblem“, unterstrich er. „Aber es mag einzelne schwarze Schafe geben. Da muss der Rechtsstaat dann konsequent reagieren.“
mit dpa