Untersuchungsausschuss

Anschlag auf dem Breitscheidplatz: Die Nacht der Pannen

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Schneise der Verwüstung auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz nach dem Terroranschlag von Anis Amri

Schneise der Verwüstung auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz nach dem Terroranschlag von Anis Amri

Foto: Bernd von Jutrczenka / dpa

Der Einsatz nach dem Terroranschlag vom Breitscheidplatz verlief in weiten Teilen chaotisch. Ein einstiger Polizeiführer berichtet.

Berlin. In den ersten Minuten funktionierte alles, wie es sein sollte: Die Polizisten, die in der Nähe des Breitscheidplatz patrouillierten, setzten um 20.01 Uhr ihre erste Meldung ab. Sie hätten einen Knall gehört, berichteten sie der Einsatzzentrale. Wenig später übermittelten sie weitere Informationen: Ein Lastwagen sei in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gefahren. Der Fahrer sei offenbar flüchtig. Die grausame Bilanz des folgenreichsten islamistischen Terroranschlags in der Geschichte der Bundesrepublik stand erst später fest: Der Attentäter hatte zwölf Mennschen getötet, mehr als 60 weitere Personen wurden teils schwer verletzt.

Die Stunden nach dem Anschlag gingen als eines der dunkelsten Kapitel in die Geschichte der Einsätze der Berliner Polizei ein. Denn es ging drunter und drüber. Geschuldet war das nicht nur der schwierigen Lage und der Vielzahl von Informationen, die auf die Polizeiführer einprasselten. Die Behörde agierte vielmehr ziemlich chaotisch und kopflos, was offenbar an individuellen Fehlern, vor allem aber einer unklaren Struktur und uneindeutigen Vorschriften lag. Dieses Bild zeichnete am Freitag der Leiter einer „Nachbereitungskommission“, die nach dem Anschlag vom damaligen Polizeipräsidenten Klaus Kandt eingesetzt worden war.

Bei seiner Vernehmung im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses zur Aufklärung der Umstände des Anschlages kritisierte der mittlerweile pensionierte langjährige Direktionsleiter Michael Krömer die Versäumnisse und Pannen jener Tage mit deutlichen Worten. Die Fahndung nach dem zunächst unbekannten Todesfahrer des Lkw sei viel zu spät angelaufen. Zeitweise habe der Funkverkehr nicht richtig funktioniert. Der Aufbau einer Führungsstruktur habe deutlich zu lange gedauert.

Die Polizei ging lange von einer Amokfahrt aus

Die Inhalte des Berichts von Krömers Nachbereitungskommission waren bereits im September 2017 durch Berichte der Berliner Morgenpost und des RBB bekannt geworden. Erst rund neun Monate nach dem Anschlag erfuhr die Öffentlichkeit so, dass die Polizei das Geschehen zunächst als „Verdacht Amoklage“ klassifiziert hatte. Erst rund 14 Stunden nach der Todesfahrt wurde die Einstufung auf „Verdacht eines Anschlagsfalls“ geändert. „Diese Klassifizierung hat viel länger gedauert, als wir uns das haben vorstellen können“, sagte Krömer.

Die ursprüngliche Einschätzung als Amoklage hatte gravierende Folgen. Denn die Polizei verzichtete auf die bei Terrorlagen vorgesehenen Fahndungsmaßnahmen. Der Attentäter, vom dem sich später herausstellte, dass es der Tunesier Anis Amri war, konnte sich so ungehindert und mit einer Pistole bewaffnet in der Stadt bewegen. Er zeigte den Islamisten-Gruß, als er am Bahnhof Zoo eine Überwachungskamera bemerkte – und nichts passierte. Dann lief er zu seiner Wohnstätte in Wedding und trat die Flucht an, die erst in Italien endete. Als er am 23. Dezember bei Mailand bei einer Polizeikontrolle eine Waffe zog, wurde er von den Beamten erschossen.

Straßensperren oder eine gezielte Suche nach szenebekannten Islamisten musste Amri in den Stunden nach dem Anschlag nicht fürchten. Denn die Berliner Polizei war mit sich selbst beschäftigt. Der Leiter des Einsatzes am Breitscheidplatz in der sogenannten „Phase 1“ habe sich „ein Stück weit überfordert gefühlt“, sagte der Zeuge Krömer. Der Kollege habe sich auch nicht auf einen funktionierenden Funkverkehr verlassen können, sei über die Lage auf dem Breitscheidplatz oft nicht im Bilde gewesen.

Der Übergang zu „Phase 2“ mit klarer Führung und einem organisierten Stab habe „eindeutig zu lange“ gedauert, sagte Krömer. Selbst Thüringen und Bayern hätten Fahndungsmaßnahmen eingeleitet, als Berlin noch von einer Amokfahrt ausging.

Von einem professionellem Vorgehen war die Hauptstadt-Polizei an jenem 19. Dezember 2016 offenbar so weit entfernt, wie der Islamist Anis Amri von den Lehren des Koran, so wie sie von der übergroßen Mehrheit der Muslime verstanden werden. „Wir haben unseren Mann! Warum sollten wir jetzt noch Energie in die Fahndung stecken?“. Dieser Gedanke ging vielen Beamten nach Einschätzung des Zeugen Krömer offenbar durch den Kopf, nachdem zwei Polizisten eine halbe Stunde nach dem Anschlag einen Mann festgenommen hatten, von dem sie annahmen, es sei der flüchtige Todesfahrer. Der „Biss“ bei der Überprüfung möglicher Fahndungsmaßnahmen sei nach der Festnahme „zahmer“ geworden, sagte Krömer. Die Folgen waren fatal. Denn der Festgenommene hatte mit dem Anschlag nichts zu tun. Anis Amri setzte seine Flucht fort.

Der damalige Polizeipräsident Klaus Kandt habe ihm bei der Erstellung des Berichts freie Hand gelassen, sagte Krömer. Kandt habe diesen zwar als kritisch empfunden, aber keinen Versuch unternommen, den Bericht abzuschwächen. Unterstützung habe er auch von der Innenverwaltung erfahren. Innerhalb der Polizei hätten Kollegen die schonungslose Analyse aber kritisch gesehen. „Wir müssen doch sehen, dass wir nach außen ein gutes Bild machen“: Diese Einstellung sei in der Polizei weit verbreitet gewesen. Er sei aber überzeugt, dass bei vielen Kollegen „ein Lernprozess“ begonnen habe. „Ich glaube, dass es jetzt, bei einer ähnlichen Situation wesentlich zügiger gehen würde“, sagte Krömer.

„Wir sind jetzt deutlich besser aufgestellt“

Siegfried-Peter Wulff, der Leiter der für Großlagen zuständigen „Direktion Einsatz“, äußerte sich bei seiner Vernehmung im Ausschuss ähnlich. Die Polizeiführung hatte Wulff beauftragt, basierend auf den Empfehlungen von Krömers Nachbereitungskommission praktische Änderungen zu veranlassen. Die Führungsstrukturen und Abläufe bei Großereignissen seien nun klarer geregelt. „Ich glaube, dass wir jetzt deutlich besser aufgestellt sind als damals“, sagte Wulff.