Berlin. Bürger sorgten vor genau 30 Jahren für den Untergang der Stasi. In Deutschland werden sie nur selten gewürdigt, schreibt Hubertus Knabe
Es war eine denkwürdige Begegnung, als Wolfgang Templin an diesem nasskalten Januarabend das Haus 1 der Ost-Berliner Stasi-Zentrale betrat. Der Dienstsitz des zurückgetretenen Stasi-Ministers Erich Mielke war nur notdürftig beleuchtet, und nirgendwo waren Wachposten zu sehen. Irgendwann stieß der Bürgerrechtler auf einen freundlichen Herrn in Zivil. „Es ist ja nett, dass Sie kommen“, sagte dieser zu ihm, er kenne ihn und freue sich, ihn auf diese Weise persönlich zu treffen.

Der Mann, der sich selbst als „Herr Engelhardt“ vorstellte, lotste Templin in ein schwach beleuchtetes Zimmer und holte eine Flasche Wodka hervor. Während draußen Demonstranten, die in das Hauptquartier des Staatssicherheitsdienstes an der Ruschestraße in Lichtenberg eingedrungen waren, Geschichte schrieben, trank der Vertreter der DDR-Opposition an einem runden Tisch mit dessen Chef einen Schnaps.
Die Besetzung der Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990 macht wie kein anderes Ereignis deutlich, wie die Führer der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung vor 30 Jahren zu Statisten ihrer eigenen Revolution wurden. Während sie noch am Zentralen Runden Tisch mit den Repräsentanten des SED-Regimes über die Zukunft der DDR verhandelten, hatte sich das Gravitationszentrum des Umsturzes zunehmend verschoben. Nicht sie, sondern überwiegend unbekannte DDR-Bürger sorgten im Januar 1990 dafür, dass das wichtigste Herrschaftsinstrument der SED, der Staatssicherheitsdienst, für immer aufgelöst wurde.
Bürgerrechtler fühlten sich am Runden Tisch ausgetrickst
Erst im Nachhinein haben Bürgerrechtler wie Wolfgang Templin erkannt, dass der zuweilen idealisierte Runde Tisch vor allem ein Versuch der DDR-Machthaber war, die Friedliche Revolution wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Wir haben nicht begriffen,“ resümierte der Mitbegründer der Initiative Frieden und Menschenrechte, „dass Modrow uns am Runden Tisch von hinten bis vorn ausgetrickst hat.“ Vor einem geschlossenen Vorhang hätte er für die Bürgerrechtler „Theater und Firlefanz“ aufgeführt, während die Stasi dahinter ihr Überleben organisiert hätte.

Tatsächlich tat die neue DDR-Führung unter Egon Krenz und Hans Modrow alles, um den Stasi-Apparat zu retten. Das in der Bevölkerung diskreditierte Ministerium für Staatssicherheit wurde deshalb bereits am 17. November 1989 in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) umbenannt. Leiter wurde der weitgehend unbekannte Generaloberst Wolfgang Schwanitz, der unter Mielke zuletzt für operative Sicherstellung und Technik verantwortlich gewesen war. Die Regierung kündigte zudem an, die Zahl der Mitarbeiter deutlich zu reduzieren – wobei dies in erster Linie dadurch erfolgen sollte, dass bestimmte Aufgaben nun in andere Institutionen verlagert werden sollten.
Die umbenannte Stasi machte sich nun vor allem daran, die Spuren ihrer Tätigkeit zu verwischen. Auf zentrale Anweisung wurden systematisch belastende Akten beseitigt. Die mehr als 200 Kreisdienststellen galten dabei als besonders vordringlich, da sie immer häufiger Ziel lokaler Demonstrationen wurden. Wie groß der Druck auf die Stasi damals war, zeigt eine Äußerung Schwanitz‘, der kurz nach seiner Berufung seinen Mitarbeitern einschärfte: „Was das Vernichten anbetrifft, Genossen, macht das wirklich sehr klug und sehr unauffällig. Wir werden stark kontrolliert.“
Es wurde bekannt, dass die Stasi Akten vernichtete
Trotz aller Vorsicht wurde bald bekannt, dass die Stasi im großen Stil Akten vernichtete. Am 4. Dezember 1989 begaben sich deshalb etwa 300 Demonstranten in Begleitung von Staatsanwälten und Journalisten zur Erfurter Stasi-Filiale und verlangten Einlass. Sie sorgten dafür, dass die Türen zu wichtigen Räumen versiegelt wurden, und richteten sogenannte Bürgerwachen ein. Nach ihrem Vorbild wurden noch am selben Tag auch die Bezirksverwaltungen in Leipzig, Suhl und Rostock sowie 20 Kreisdienststellen besetzt; am nächsten Tag verdoppelte sich noch einmal die Zahl der besetzten Gebäude.
Als der Zentrale Runde Tisch am 7. Dezember zu seiner ersten Sitzung zusammenkam, war der Staatssicherheitsdienst in einem Teil der DDR dadurch praktisch bereits entmachtet worden. Die Demonstranten bildeten in den Dienststellen vielfach Komitees, die sich dauerhaft dort einrichteten. Nur um die Stasi-Zentrale in Berlin machte die Friedliche Revolution einen Bogen – sei es aus Angst, in das festungsartige Areal einzudringen, sei es, weil die Oppositionellen in der Hauptstadt der DDR zu sehr auf die politische Auseinandersetzung mit der SED und der Regierung fixiert waren. Der Runde Tisch jedenfalls beschränkte sich darauf, die Regierung aufzufordern, das neue Amt für Nationale Sicherheit unter ziviler Kontrolle aufzulösen.
Auch Gregor Gysi, der damals zum neuen Vorsitzenden der SED-PDS gewählt wurde, hatte dem Beschluss zugestimmt. Wie sein Stellvertreter Wolfgang Berghofer später zu Protokoll gab, hatte sich die Parteispitze zuvor darauf geeinigt, die Stasi zu opfern, um politisch aus der Defensive zu kommen. Auch wenn Gysi seine Teilnahme an dem Treffen später bestritt, teilte Modrow dem neuen Stasi-Chef am 8. Dezember mit, dass das AfNS aufgelöst werde. An dessen Stelle sollten allerdings ein Verfassungsschutz und ein Auslandsnachrichtendienst entstehen, womit zumindest Teile der Stasi weiterexistieren würden.
Tatsächlich beschloss der DDR-Ministerrat am 14. Dezember, das Amt aufzulösen und zwei getrennte Dienste mit zusammen 14.000 Mitarbeitern zu etablieren. Chef des DDR-Verfassungsschutzes wurde eben jener Generalmajor Heinz Engelhardt, den der Bürgerrechtler Wolfgang Templin am Abend des 15. Januar unerwartet in der Stasi-Zentrale traf.
Den Wendepunkt brachte erst die Arbeiterschaft
Wie wenig Einfluss der Runde Tisch auf die politische Entwicklung hatte, zeigte sich in den darauffolgenden Wochen. Obwohl die Oppositionsvertreter verlangt hatten, vor den ersten freien Wahlen in der DDR keinen neuen Geheimdienst zu bilden, ignorierte Modrow ihre Forderung. Und als sie einen schriftlichen Bericht über den Stand der Stasi-Auflösung verlangten, schickte er am 8. Januar 1990 seinen Regierungsbeauftragten vor, der die Anwesenden mit nichtssagenden Auskünften hinhielt. Die Oppositionsvertreter setzten Modrow damals ein Ultimatum, umgehend selbst vor dem Runden Tisch zu erscheinen – was er nicht tat, weil er bereits im Flugzeug nach Bulgarien saß. Auch in seiner Regierungserklärung vor der Volkskammer am 11. Januar 1990 zeigte sich Modrow fest entschlossen, die Pläne umzusetzen.
Den Wendepunkt brachte erst ein Akteur, der in den Berichten zum Ende der SED-Herrschaft nur selten Erwähnung findet: die Arbeiterschaft. Bereits am 3. Januar kam es in Suhl und Dessau zu Warnstreiks, um gegen die hohen Zahlungen zu protestieren, die Modrow den ausscheidenden Stasi-Mitarbeitern zukommen lassen wollte. Am 11. Januar traten Ost-Berliner Bauarbeiter in den Streik und demonstrierten vor der Volkskammer, einen Tag später veranstalteten Taxifahrer ein ohrenbetäubendes Hupkonzert um das DDR-Parlament.
Als dann auch noch Vertreter der bis dahin so folgsamen Blockparteien CDU und LDPD in der Volkskammer androhten, die Regierung zu verlassen, wenn vor den ersten freien Wahlen ein neuer Geheimdienst gebildet werde, lenkte Modrow ein. Am 13. Januar beschloss der DDR-Ministerrat, die Bildung eines Verfassungsschutzes bis zu den Wahlen ad acta zu legen.
Damit war den Forderungen der Oppositionsbewegung eigentlich Genüge getan. Doch das Misstrauen gegenüber der Regierung war inzwischen so groß, dass niemand den Ankündigungen traute, solange sich die Stasi in ihrer Zentrale unkontrolliert selbst auflösen durfte. Bei einem Treffen der Bürgerkomitees, die die Stasi-Dienststellen in der Provinz besetzt hielten, wurde deshalb am 14. Januar vereinbart, das fast zwei Quadratkilometer große Areal in Lichtenberg am nächsten Tag mit den „bewährten Methoden“ ebenfalls unter Kontrolle zu bringen. Zuvor hatte bereits das Berliner Neue Forum dazu aufgerufen, am selben Tag vor der Stasi-Zentrale zu demonstrieren sowie den Eingang mit Steinen und Mörteln symbolisch zu vermauern.
Bis heute ranken sich Mythen um die Ereignisse
Um das, was sich an diesem 15. Januar 1990 ereignete, ranken sich bis heute diverse Mythen. Nachdem sich gegen 17 Uhr eine wachsende Zahl von Demonstranten vor dem Tor in der Berliner Ruschestraße versammelte, öffnete sich dieses plötzlich, sodass rund 2000 Menschen auf das Gelände drängten. Statt die wichtigsten Büros zu besetzen, strömten die Demonstranten jedoch in den Versorgungstrakt, wo Scheiben eingeschlagen, Möbel demoliert und Papiere zerrissen wurden. Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ sprach anschließend von einem „schwarzen Montag“, die DDR-Regierung von „unverantwortlichen Kräften“, die die anbrechende Dunkelheit genutzt hätten, um das Gebäude zu besetzen und zu verwüsten.
Die Bürgerrechtler am Runden Tisch waren von der Entwicklung ebenso überrascht worden wie die Regierung. Schnell verbreitete sich deshalb die Theorie, die Erstürmung sei vom Staatssicherheitsdienst selber inszeniert worden. Als Beleg dafür wurde ins Feld geführt, dass das Tor von innen geöffnet worden war und die Demonstranten ausgerechnet in den unwichtigen Versorgungstrakt gezogen waren.
Verschwörungstheorie trifft nicht zu
Heute gilt als sicher, dass diese Verschwörungstheorie nicht zutrifft. In Wirklichkeit war bereits gegen 14 Uhr eine Abordnung der Bürgerkomitees in der Stasi-Zentrale erschienen und sofort eingelassen worden. Vertreter der Volkspolizei und der Militärstaatsanwaltschaft hatten – wie zuvor vereinbart – die wichtigsten Räume schon versiegelt. Um 15 Uhr wurden die meisten der rund 7000 Mitarbeiter vorsorglich nach Hause geschickt. Als sich dann am frühen Abend die Demonstranten vor dem Tor stauten, gab der katholische Geistliche Martin Montag, der mit zu der Abordnung gehörte, im Inneren einem Polizisten die Anweisung, das Tor zu öffnen, damit niemand zu Schaden käme.
Dass die Stasi es bewusst auf einen Eklat anlegte, ist ebenfalls äußerst unwahrscheinlich. Bereits am 12. Januar hatte sich deren Führung mit der geplanten Demonstration befasst. Dabei war festgelegt worden, „im Fall von Objektbegehungen sachkundig Auskunft zu geben“. Ein Sitzungsteilnehmer hatte sich notiert: „Es gibt nunmehr keine Tabus mehr bis auf den Quellenschutz.“ Aus den Unterlagen geht hervor, dass die Führungsspitze jede Eskalation vermeiden wollte. Dafür spricht auch, dass die Oppositionsvertreter, die den ganzen Tag am Runden Tisch verhandelt hatten, mit Regierungsfahrzeugen zum Geschehen gefahren wurden, um die Menge zu beruhigen.
Warum die Demonstranten gerade in die Shoppingmall der Stasi strömten, hatte vermutlich ganz profane Gründe: Niemand von den Demonstranten kannte sich auf dem Areal aus und die anderen Gebäude waren kaum beleuchtet. Auch Wolfgang Templin geriet nur zufällig in Mielkes ehemaliges Hauptquartier.
Für die Geschichte der Friedlichen Revolution ist etwas anderes viel bedeutender: Noch am selben Abend sorgten verschiedene Demonstranten dafür, dass die Menge wieder aus dem Gelände geleitet und die Zugänge bewacht wurden. Noch in der Nacht rekrutierte sich aus ihren Reihen ein Bürgerkomitee wie in den anderen Stasi-Dienststellen. Seine etwa 100 Mitglieder waren fortan damit beschäftigt, die Selbstauflösung der Stasi zu überwachen – ein Beitrag zur Überwindung der SED-Herrschaft, der viel zu selten gewürdigt wird.
Der Autor ist Historiker und leitete 18 Jahre die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen