Berlin. Clärchens Ballhaus in Mitte muss schließen. Beim „letzten Schwoof“ wurde noch einmal gefeiert. Die Gäste hoffen auf die Wiedereröffnung

Der Anfang vom Ende des letzten Abends beginnt um kurz vor 22 Uhr. Während sich die Gäste auf die Tanzflächen stürzen wie Kinder ins Schwimmbad, manche hüpfend, juchzend und singend, manche zu zehnt, andere ganz für sich allein, während die wilde Party also ihren Lauf nimmt wie immer, ist in der Restaurantküche von „Clärchens Ballhaus“ schon alles vorbei.

Blitzblanke Stahltische, saubere Teller. Kein Fitzel, kein Krümel Leben ist mehr zu sehen. Unter die Flügeltüren hat jemand zwei Löffel geklemmt, sodass der Blick der Besucher weit in den Raum fällt. Auf den DDR-Radiorekorder „Babette“, den alten Kachelofen, die Wände mit dem olivgrünen Ölsockel, die beschlagen Sprossenfenster. Auf dem Whiteboard steht mit Filzstift noch das Silvestermenü. Doch menschenleer, wie die Küche jetzt ist, wirkt sie tot wie ein Museum.

107 Jahre ist „Clärchens Ballhaus“ an der Auguststraße in Mitte alt, und wenn man die Weltkriege nicht mitzählt, dürfte es wohl wenige Orte in Berlin mit vergleichbar ungebrochener Tradition geben. Seit 1913 wird hier getanzt.

Berlins bekanntestes Tanzhaus schließt seine Pforten, wird demnächst renoviert und vielleicht noch in diesem Jahr wieder einem tanzwütigen Publikum zugänglich.  
Berlins bekanntestes Tanzhaus schließt seine Pforten, wird demnächst renoviert und vielleicht noch in diesem Jahr wieder einem tanzwütigen Publikum zugänglich.   © Joerg Krauthoefer / Funke Foto Services 

Bis vor einer Stunde haben sie hier noch Schnitzel, Pizza und Würstchen über steile Treppe in die Säle balanciert. Das Besondere am „Clärchen“ war ja immer, dass man am Rande der Tanzsäle auch essen konnte. Und reden. Zwischen Lametta und Stuck, in Räumen, die schon aussahen wie Filmkulissen. Manchmal waren auch echte Filmstars da, Tom Cruise und Brad Pitt zum Beispiel, oder Max Raabe, der im Spiegelsaal im Sommer ein Album aufnahm. Nur dass das „Clärchens“ gar keine Kulisse ist, sondern echt. Nicht nur echt alt, sondern echt lebendig. Jedenfalls bis zu diesem Sonnabend, an dem die bisherigen Pächter, David Regehr und Christian Schulz, zum „letzten Schwof“ luden.

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„Clärchens Ballhaus“: Einer der letzten Orte, wo das authentische Berlin noch lebt

„Clärchens Ballhaus“ muss schließen. Ende 2018 hatte der Berliner Fotograf und Investor Yoram Roth das Areal an der Auguststraße 24 in Mitte gekauft, auf dem die Ballsäle liegen. Im Juli 2019 wurde bekannt, dass der Vertrag mit den bisherigen Betreibern nicht verlängert wurde. Weswegen allen Angestellten gekündigt worden sei. Es gab Proteste und Unterschriftensammlungen. Ausgerechnet in Mitte, so sah es aus, drohte einer der letzten Orte zu verschwinden, wo das authentische alte Berlin noch lebte.

Zwar versichert der neue Besitzer immer wieder, er wolle das Haus wieder öffnen und auch nur so weit instand setzen, wie es für Sicherheit und Technik notwendig sei, um Charme und Patina zu erhalten. „Ich will, dass das Gebäude hinterher so aussieht, als wäre es nie angefasst worden“, sagt Roth, der unter anderem zu den Gründungsinvestoren der „Genossenschaft für urbane Kreativität“ am Holzmarkt gehört. Schon in fünf bis sechs Monaten könne das „Clärchens“ wieder öffnen. Allerdings: Einen neuen Pächter habe er bisher nicht.

Vielleicht auch deswegen reicht die Warteschlange der Gäste schon diesem „letzten“ Abend bis weit auf die Straße. „Wir hoffen, dass aus ‘Clärchen’ kein überteuerter Schuppen wird“, sagen zwei Frauen, Mitte 40 und im Ostteil der Stadt großgeworden. Das Ballhaus sei einer der letzten Orte in Berlin, „wo sich noch ganz normale Menschen jeden Alters treffen und einfach tanzen, vom ersten Lied an“, sagt eine. Und die andere: „Es ist ein bisschen wie beim Dorfbums! Ja, wirklich!“ Die Umstehenden lachen.

Lisa, Marie und Elouis sind 18 Jahre alt, sie freuen sich auf die Oldie-Hits der 80er-Jahre, die Pizza und die „Glitzervorhänge“, wie sie sagen. Gemeint ist das ausufernde Lametta im unteren Tanzsaal, das Wände und Decken bedeckt. Unterwegs sind die drei Mädchen mit älteren Freundinnen, für die Hits von Abba und Queen die eigene Jugend bedeuten.

Essen und tanzen – das war in „Clärchens Ballhaus“ möglich.
Essen und tanzen – das war in „Clärchens Ballhaus“ möglich. © Joerg Krauthoefer / Funke Foto Services

An der Garderobe machen sich Rita und Maja aus Charlottenburg zum ersten Tanz bereit. Sie werden den Abend über erkennbar bleiben durch ihre roten Jacken, die schlohweißen Haare und ihr glückliches Lächeln. „Wunderbar!“, schwärmen sie über das Ballhaus. Sie haben es vor Jahren über Swing-Kurse kennengelernt, sagen sie, und kommen seitdem regelmäßig. Gern auch mal mit den Söhnen. „Die Atmosphäre erinnert mich an vergangene Zeiten, meine eigenen und die aus Filmen“, sagt Rita. Und Maja: „Man kommt schnell mit vielen Menschen ins Gespräch, auch mit skurrilen Typen. Die gibt es ja auch in unserer Generation.“ Die beiden sind über 70.

Tatsächlich wartet auf der Tanzfläche schon ab dem frühen Abend Siggi Markwart, der sich als „Tanzkönig von Berlin“ und „Medienstar“ vorstellt. Er ist Swingtänzer und elegant in Dreiteiler, Schal und Hut erschienen. Auch wenn der Großteil des Publikums an diesem Abend einfach nur tanzen will wie in der Disco – Walzer, Swing und Tango gehören auch dazu.

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An diesem Abend wird in „Clärchens Ballhaus“ getanzt und nicht getrauert

Auf einem alten Brokatsofa im Eingang zum Spiegelsaal sitzen René-Marcel und Constanze aus Schöneberg und wechseln Straßen- gegen Tanzschuhe. „Mit Ledersohlen gleitet man besser übers Parkett.“ Die beiden sind ein Tanz-Paar und lieben Walzer, Cha-cha-cha, Discofox oder Rumba. Bevor der Tanz beginnt, werfen sie sich für ein Foto schon mal in Positur. Es wird ein Abschiedsbild. „Dass ‘Clärchens’ schließt, ist wirklich traurig“, sagt Constanze. Abschied habe sie aber schon im Dezember genommen. „Seit ich von der Schließung wusste, war ich so oft wie möglich hier.“ An diesem Abend, sagen die beiden, wollen sie aber nicht trauern, sondern noch einmal tanzen.

Und dann ist es wahrscheinlich so, wie es alle kennen, die je an oder auf einer Tanzfläche standen. Es gibt die schüchternen Frauen, die nur am Rand mitwippen und gucken. Die Mittvierziger mit dem penetranten Scannerblick und den schlechten Witzen. Die älteren Paare, die völlig versunken im Engtanz über Stunden am selben Ort hin- und herschwingen und sich leichte Küsse zuhauchen. Am ersten Tisch im Saal sitzen Jan, Katja und noch ein paar andere Freunde mit Glitzer-Hütchen am Tisch. Sie habe die letzten Geburtstage hier gefeiert, sagt Katja. Und springt auf, um zu tanzen.

Im unteren Saal legt DJane „Clärchen“ auf, im oberen ihr Bruder DJ „Funky Henning“. Seine Anlage steht auf einer stuckverzierten Empore, genau da, wo vor 100 Jahren ein Stehgeiger zum Tanz aufspielte.

Familienbetrieb über zwei Kriege und die DDR hinweg

Über „Funky Henning“ wachen dieselben Gips-Putten wie einst, nur dass die, 100 Jahre später, eine braune Patina tragen, von der man nicht genau weiß, ob es Gold ist oder nur Staub. Ganz ähnlich geht es dem gesamtem Etablissement. Immer wieder zücken Gäste die Handy, um wenigstens noch ein Bild mitzunehmen. Man weiß ja nie. Dass Bruder und Schwester an den Mischpulten stehen, ist wiederum typisch fürs „Clärchen“. Es ist – war – ein Familienbetrieb. 91 Jahre, über alle Kriege und die DDR hinweg, wurde es von Nachfahren des Gründer-Ehepaars Fritz und Clara Bühler betrieben, die auch Namenspatin war. „Viele Mitarbeiter arbeiteten seit Jahrzehnten hier, teilweise in der dritten Generation“, sagt die Autorin Marion Kiesow, die über das Tanzlokal 2013 einen großen Bild- und Erzählband veröffentlicht hat. „’Clärchens Ballhaus’ wird auch für seine Originale an der Tür geliebt, in der Garderobe und auf dem Tanzparkett.“

2004 verkaufte der letzte Nachfahre der Familie das Gebäude. Dass die Pächter 2005 dann viele frühere Mitarbeiter suchten und wieder einstellten, sagt Kiesow, sei mindestens ein ebenso großes Verdienst wie der Erhalt des Gebäudes selbst. „Beides lässt sich nicht trennen. Die Besucher lieben dieses Vertraute, viele sind mit den Angestellten persönlich bekannt.“ Auch sie selbst, sagt die Autorin, komme seit Jahren zum Tanzen hierher. Einem ihrer „Tischherren“ hat sie im Buch ein Denkmal gesetzt. „Er kam selbst mit über 80 noch zum Tanzen. Inzwischen ist er leider gestorben.“

Auf der Empore beim DJ steht inzwischen ein Mann mit einem Cowboyhut – Christian Schulz, der 2005 gemeinsam mit David Regehr das Ballhaus zu dem machte, was es heute ist. „Wir versuchen, den Abschied so undramatisch wie möglich zu nehmen“, sagt Schulz. Er hat einmal Psychologie studiert, Regehr ist Maler und Bühnenbildner – was beide aber eint, ist ihr Gespür für „erzählende“ Orte mit Geschichte. Und für Theater. Gemeinsam haben die beiden das Theater im Monbijoupark und die benachbarten „Märchenhütten“ gegründet, sich über die Jahre zerstritten, getrennt und wieder zusammengetan.

„Clärchens“ Niedergang war schon fast besiegelt

„Clärchens Ballhaus“ habe er anfangs als Institution gar nicht gekannt, sagt Schulz. „Als ich dann darin stand, war mir sofort klar, um was für einen Juwel es sich handelt.“ Die Kunst, sagt er, sei es gewesen, möglichst viel zu belassen, wie es war. Mit Tanzkursen, Events und dem Restaurant wurde das Ballhaus schnell wieder erfolgreich.

Dabei schien der Niedergang schon fast besiegelt. Zu DDR-Zeiten galt das Haus als Tanzort der „reiferen Jugend“ und hatte auch wegen seiner NVA-Zulassung einen speziellen Ruf. Soldaten gingen hier aus, es soll Prostituierte gegeben haben, und die Stasi tanzte natürlich auch mit. Nach dem Mauerfall ging es bergab. Technoszene und Tanzpublikum entdeckten zunächst die Bunker und Industrieruinen Berlins für sich.

Möglicherweise trug auch der Retro- und Vintage-Trend zur Rettung des „Clärchen“ bei. Aber um Mitternacht spürt man, dass das nicht alles sein kann. Der Spiegelsaal, Herz des Ballhauses, schwingt samt Bodendielen im Takt der Tanzenden. Von der Empore aus gesehen wirken sie wie ein einziges riesiges Wesen, das atmet und lacht und schwitzt.