Die Lage war dramatisch. Am 9. November 1989 hatten die DDR-Bürger die Öffnung der bis dahin fast unüberwindbaren Grenzanlagen erzwungen. Seither strömten sie zu Hunderttausenden in den anderen, ihnen bis dahin versperrten Teil Deutschlands. In endlosen Kolonnen tuckerten Trabis und Wartburgs in Richtung Westen. Denn Zugverbindungen gab es zwischen beiden deutschen Staaten damals so gut wie keine. Und die wenigen Interzonenzüge, die von Berlin nach Hamburg, Frankfurt am Main, Köln und München fuhren, waren schnell hoffnungslos überfüllt.
Doch zur Weihnachtszeit 1989 drohte der Kollaps. Angesichts des zu erwartenden Ansturms könnte der Verkehr auf der Schiene komplett zusammenbrechen, befürchteten damals nicht wenige Experten. Dass es dazu nicht kam, ist einer inzwischen weitgehend vergessenen organisatorischen Meisterleistung der heute so oft gescholtenen Bahn zu verdanken.
Experten aus Ost und West besprachen Sofortmaßnahmen
Bereits am 13. und 14. November 1989 hatten Experten der Deutschen Bundesbahn (West) und der Deutschen Reichsbahn (Ost) erste Sofortmaßnahmen für den Reiseverkehr besprochen. Zu den 70 Fernzügen, die damals zwischen Ost und West fuhren, kamen bereits am 16. November 28 tägliche Verbindungen hinzu.
Unter der Überschrift „Mehr Züge über deutsche Grenze“ vermeldete die Bundesbahn am 1. Dezember, dass allein zwischen dem 13. und 26. November insgesamt 210 Sonderzüge im Fernverkehr und rund 700 Sonderzüge im „kleinen Grenzverkehr“ kurzfristig eingesetzt worden waren. Möglich war das nur, weil Grenzübergänge wie Walkenried-Ellrich auf der Bahnstrecke Northeim–Nordhausen, die bis dahin nur von Güterzügen passiert werden durften, für Reisezüge geöffnet wurden.
Doch klar war den Verantwortlichen auch: All das wird in der Weihnachtszeit, wenn sich viele Ostdeutsche aufmachten, ihre lange nicht gesehenen Familienangehörigen oder Bekannten zu besuchen, nicht ausreichen. Bundesbahner wie Reichsbahner mobilisierten also alles, was irgendwie rollen konnte. „Das war eine einmalige logistische Leistung, wie man sie sich heute kaum noch vorstellen kann“, sagte dazu Klaus-Dieter Josel. Der heute 59 Jahre alte Bahnmanager hatte im November 1989 gerade seinen ersten Job bei der Bundesbahn angetreten.
„Das Hauptproblem waren die fehlenden Telefonverbindungen. Vieles mussten Mitarbeiter von Bundesbahn und Reichsbahn direkt vor Ort klären.“ Dass dies gut gelang, habe vor allem an der riesigen Einsatzbereitschaft aller gelegen. „Da wurde nicht nach Dienstschluss und Feierabend gefragt“, so Josel. Wichtig sei auch gewesen, dass es nicht nur keine Sprachprobleme gab. „Auch die Denke war dieselbe“, erinnert sich der Bahnmanager, der heute Konzernbevollmächtigter für Bayern ist. Deutschlands südlichstes Bundesland stand damals besonders im Fokus des Reiseverkehrs. Nicht zuletzt, weil die DDR-Bürger dort mit höherem „Begrüßungsgeld“ rechnen konnten. Zusätzlich zu den 100 D-Mark pro Person legten die bayrischen Kommunen damals noch einmal 40 D-Mark für jeden Besucher drauf. Am Ende sollten es 1500 weitere Züge sein, die vom 15. bis 31. Dezember zusätzlich zwischen West und Ost fuhren.
Zur Wahrheit gehört auch: Deutsche Bundesbahn und die DDR-Reichsbahn waren damals Staatsunternehmen, für die Wirtschaftlichkeit keine große Rolle spielte. Vor allem personell waren die Unternehmen bestens aufgestellt. So zählte allein die Bundesbahn Mitte der 80er-Jahre mehr als 320.000 Mitarbeiter, sie war damit drittgrößter Arbeitgeber in der alten Bundesrepublik. 1989 fuhr das Verkehrsunternehmen allerdings auch einen Verlust in Höhe von 3,8 Milliarden D-Mark ein. Die Deutsche Reichsbahn war mit rund 220.000 Beschäftigten größtes Einzelunternehmen in Ostdeutschland. Heute hat die Deutsche Bahn mit einer vielfach höheren Verkehrsleistung als vor 30 Jahren nur noch rund 210.000 Mitarbeiter.
Der Fuhrpark von Bundesbahn und Reichsbahn war zwar Ende der 80er-Jahre mit Ausnahme der ersten ICE-Hochgeschwindigkeitszüge stark überaltert, wies aber einen ganz anderen Fahrzeugbestand auf als in der heutigen Zeit. Dies machte es überhaupt möglich, in kürzester Zeit so viele Züge zusätzlich auf die Schiene zu bringen wie es rund um Weihnachten 1989 geschah.
Bahn hoffte auf mehr Geld für den Schienenverkehr
Groß war die Hoffnung der Verantwortlichen damals, dass mit der Überwindung der Teilung auch ein neues Zeitalter für den vom Auto stark bedrängten Schienenverkehr beginnen würde. „Wir sehen in der jüngsten Entwicklung eine zusätzliche Chance für die Eisenbahn, die uns alle im kommenden Jahrzehnt vor zusätzliche gewaltige Aufgaben stellen kann“, schreiben die damaligen Bundesbahn-Vorstände am 6. Dezember 1989. Doch statt neuer Eisenbahnstrecken wurden zunächst erst einmal neue Autobahnen gebaut.
Gerade auch sichtbar auf der Verbindung zwischen Berlin und München, auf der Bahnmanager Josel weiterhin regelmäßig unterwegs ist. Während die Autobahn durch den Thüringer Wald (A71) bereits seit 2005 durchgefahren werden kann, ging die knapp 190 Kilometer lange Bahntrasse zwischen Erfurt und Ebensfeld bei Bamberg nach einem zwischenzeitlich von einer rot-grünen Bundesregierung verhängten Baustopp erst im Dezember 2017 in Betrieb. Erst diese moderne Schnellfahrstrecke ermöglicht es, dass Züge zwischen Berlin und München inzwischen weniger als vier Stunden Fahrtzeit benötigen.
Josel verweist darauf, dass keine Bahnstrecke in Deutschland solche Zuwachsraten aufweist wie die neue Verbindung zwischen Berlin und München. Seit dem Fahrplanwechsel Anfang Dezember fahren nicht nur täglich fünf ICE-Sprinter zwischen beiden Städten, durch den Einsatz neuer ICE4-Züge sei auch die Kapazität auf der Strecke nochmals erhöht worden: von anfangs 20.000 Sitzplätzen am Tag auf heute 26.000 Plätze. „Was Weihnachten 1989 so großartig begann, findet jetzt seine Fortsetzung“, so der Bahnmanager.