Virusbefall

Kammergericht Berlin seit drei Wochen im Notbetrieb

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Alexander Dinger und Hans H. Nibbrig
Das Kammergericht befindet sich am Kleistpark in Schöneberg.

Das Kammergericht befindet sich am Kleistpark in Schöneberg.

Foto: Sascha Steinach / picture alliance / ZB

Der Computervirus „Emotet“ hat Berlins höchstes Gericht lahmgelegt. 150 Richter und 370 Justizbeamte arbeiten im Notbetrieb.

Der Computervirus „Emotet“, laut Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) eine der größten Bedrohungen durch Schadsoftware weltweit, ist eigentlich auf das Abfangen von Zugangsdaten für Online-Banking spezialisiert. Opfer der gefährlichen Software sind in aller Regel Bankkunden, die ihre Transaktionen am Computer abwickeln. Zu ihnen hat sich ein Betroffener von ungleich größerem Gewicht gesellt: das Berliner Kammergericht. Das in der allgemeinen Rechtsprechung höchste Gericht der Hauptstadt mit 150 Richtern und 370 Justizbediensteten arbeitet seit nunmehr drei Wochen im Notbetrieb.

Die Diskussion erreicht nun auch Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne). Der rechtspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Sven Rissmann, forderte am Mittwoch Aufklärung und kündigte an, im kommenden Rechtsausschuss das Thema auf die Tagesordnung heben zu lassen.

Emotet im Kammergericht: CDU fordert Aufklärung

Rissmann wirft dem Justizsenator vor, die Situation falsch einzuschätzen. Es stelle sich ernsthaft die Frage, wie unter diesen Bedingungen das ohnehin schon überlastete Gericht sicherstellen soll, dass Geschäftsvorgänge ordnungsgemäß abgewickelt werden. „Den Justizsenator Dirk Behrendt scheinen diese katastrophalen Zustände am höchsten Berliner Gericht offensichtlich nicht zu interessieren“, schreibt Rissmann. „Nicht nur, dass er es versäumt hat, den Rechtsausschuss umgehend über die Vorgänge zu informieren. Bisher hat er sich nur unzureichend und auch nicht öffentlich zu den Vorgängen geäußert“, so Rissmann in einer Stellungnahme weiter.

Die CDU-Fraktion fordert nun eine umfassende Aufklärung über die aktuellen Zustände am Kammergericht und vor allem auch darüber, wie schnell und wie umfassend die Arbeitsfähigkeit des Gerichts wiederhergestellt werden kann. „Wir werden daher für die nächste Sitzung des Rechtsausschusses einen Besprechungspunkt zu dem Thema beantragen“, schreibt CDU-Politiker Rissmann

Kammergericht: Alle Rechner wurden vom Netz genommen

Am 25. September entdeckten die Frühwarnsysteme des ITDZ, des Internetdienstleisters der Berliner Verwaltung, den Virus und schlugen Alarm. Sofort wurden sämtliche Rechner des am Kleistpark in Schöneberg ansässigen Gerichts vom Netz genommen. Seither fühlen sich die Beschäftigten zurückversetzt in die Zeit, als Computer noch ein Hauch von Exotik umgab und Internet ein Begriff war, mit dem kaum jemand etwas anfangen konnte. Das Haus sei ausschließlich telefonisch, per Fax oder auf dem Postweg erreichbar, teilte Gerichtspräsident Bernd Pickel in der vergangenen Woche mit. An diesem Zustand dürfte sich Insidern und IT-Spezialisten zufolge so schnell auch nichts ändern.

Zu der Befürchtung, der eingedrungene Virus könne auf weitere Systeme der Berliner Verwaltung übergreifen sowie an sensible und vertrauliche Daten gelangen, konnten eine Sprecherin der Berliner Datenschutzbeauftragten und der Sprecher des Kammergerichts, Thomas Heymann, inzwischen Entwarnung geben. Eine Übergreifen sei durch „schnelles Handeln“ verhindert worden, sagte Heymann. Die Sprecherin der Datenschutzbeauftragten teilte mit, es gebe bislang keinen Hinweis, dass Daten aus dem System des Kammergerichts abgeflossen seien. Bislang wertet man den Virusbefall bei den Datenschützern als erfolglosen Versuch, Daten abzugreifen.

Belastung für die Mitarbeiter ist sehr groß

Das ändert allerdings nichts daran, dass ein halbwegs geregelter Arbeitsablauf des Gerichts – wenn überhaupt – derzeit nur unter großer Belastung der Mitarbeiter möglich ist. Aber selbst dazu bedarf es eigentlich ausreichender Voraussetzungen. Nahezu jedes größere Unternehmen hält mittlerweile mit Computern ausgestattete Räume bereit, von denen aus der Betreib weitergeführt werden kann, wenn die Rechner an den regulären Arbeitsplätzen der Mitarbeiter wegen eingedrungener Viren ausfallen. So weit sind die öffentlichen Verwaltungen, insbesondere die in Berlin, offenbar noch lange nicht, auch wenn den Verantwortlichen im Kammergericht und in der Senatsverwaltung für Justiz attestiert werden muss, dass sie mit Hochdruck an der Lösung der Probleme arbeiten.

Die Attacke mit dem Virus „Emotet“ hat keine mit zehn Mitarbeitern besetzte Außenstelle eines Amtsgerichts in der tiefsten Provinz getroffen, sondern das Berliner Kammergericht. Hier werden vor den Strafsenaten Fälle im Bereich Terrorismus verhandelt, bei Zivilsenaten sind Klagen anhängig, bei denen ein Streitwert in Millionenhöhe keine Seltenheit ist. Und in diesem brisanten Umfeld werden im Kammergericht nun sämtliche Rechner von IT-Spezialisten auf möglichen Virenbefall untersucht.

Rechner werden komplett neu aufgesetzt

Demnach sollen die Rechner nach Angaben von Gerichtssprecher Heymann komplett gelöscht, heruntergefahren und neu aufgesetzt werden. Bis dahin versuchen die Verantwortlichen, zumindest einem Teil der Richter und Angestellten Büroräume und Computer zur Verfügung zu stellen. Die Rechner mussten aber zunächst einmal beschafft werden. Und die benötigten Arbeitsplätze sollen vor allem im Gebäude der Senatsverwaltung für Justiz bereitgestellt werden.

Mit der Suche nach freien Räumen wurde aber offenbar erst am Mittwoch vergangener Woche, 14 Tage nach Entdeckung des Virus, begonnen. Infrage für eine Nutzung durch das Gericht kämen vor allem Arbeitsplätze von Mitarbeitern, die derzeit im Urlaub oder für längere Zeit krankgeschrieben seien, hieß es aus der Justizverwaltung. Zwei solcher Büros seien bereits „untervermietet“ worden.

Allerdings lässt sich eine improvisierte Krisenbewältigungsmaßnahme in der öffentlichen Verwaltung nicht so einfach durchführen. Zunächst einmal müsse das Einverständnis der Mitarbeiter eingeholt werden, die normalerweise dort arbeiten. Die entsprechenden Anfragen seien „angelaufen“, wurde kürzlich dem „Tagesspiegel“ mitgeteilt.

Richter bezweifeln, dass genug Notfall-Arbeitsplätze gefunden werden

Aus den zwei gefundenen Büros dürften inzwischen mehr geworden sein. Ob es allerdings genug für einen Notbetrieb werden, daran äußerten mehrere Richter und Justizbedienstete gegenüber der Berliner Morgenpost Zweifel. Das Kammergericht verfügt über sieben Straf- und 28 Zivilsenate. Zu jedem Senat gehören drei Berufsrichter und eine angeschlossene Geschäftsstelle. Zwei Arbeitsplätze mit Computer pro Senat würden mindestens gebraucht, äußerte ein skeptischer Richter.

Die Erkenntnisse aus den Maßnahmen nach dem entdeckten Virenbefall würden ausgewertet und auch zu Konsequenzen führen, sagte Gerichtssprecher Heymann der Berliner Morgenpost. Eine Konsequenz gibt es bereits: Den Mitarbeitern des Gerichts sei untersagt worden, an dienstlichen Computern künftig private Speichermedien wie etwa USB-Sticks zu verwenden, so Heymann. Ob der Virus womöglich auf diese Weise auf den Computern des Gerichts landete, dazu wollte sich kein Verantwortlicher äußern.