Ausgrabungen

Ein Blick in 800 Jahre Berliner Geschichte

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Philipp Siebert
Am Molkenmarkt legen Archäologen Mauerwerk aus dem 18. Jahrhundert frei.

Am Molkenmarkt legen Archäologen Mauerwerk aus dem 18. Jahrhundert frei.

Foto: Annette Riedl / dpa

Auf Spurensuche in der Wiege der Stadt: Archäologen legen den Bereich um den Molkenmarkt frei.

Berlin. Rund um den Molkenmarkt zwischen Rotem Rathaus und Altem Stadthaus soll in den kommenden Jahren ein neues Stadtquartier entstehen. Wo heute noch die Grunerstraße als Relikt der sogenannten autogerechten Stadt aus den 60er-Jahren entlangführt, sind Wohnungen, Geschäfts- und Kultureinrichtung geplant. Dazu soll die Straße an das Rote Rathaus heran verlegt werden.

Klar ist, was dort einmal entstehen soll. Weniger weiß man darüber, was dort einmal war. Deshalb wurden erste Teile des Areals Anfang September von Archäologen in Beschlag genommen. Dort erhoffe man sich, viel über die Geschichte Berlins zu erfahren, sagte Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) am Montag bei einem Rundgang über die Ausgrabungsstelle. „Wir stehen hier in der Wiege unserer Stadt. Wir werden unterschiedliche Zeitschichten freilegen und 800 Jahre Stadtgeschichte Stück für Stück erschließen.“ Dafür stehen im laufenden Jahr 2,5 Millionen Euro bereit. Für 2020 habe man 3,6 Millionen und für 2021 weitere 3,1 Millionen Euro im Doppeletat angemeldet, so Lederer weiter.

In etwa zwei Meter Tiefe liegt eine Falltür aus Stahl frei

Insgesamt zwei Teams mit sieben Mitgliedern sowie einem Projektleiter arbeiten derzeit parallel auf zwei Feldern. Das eine liegt direkt am Roten Rathaus, wohin die Grunerstraße einmal verlegt werden soll. Die Brache wurde lange als Parkplatz genutzt. Jetzt wurde der Beton aufgerissen. In etwa zwei Meter Tiefe liegt nun eine Falltür aus Stahl frei. Sie führt zu den Inspektionsgängen des Elektrokraftwerks, das hier 1889 errichtet wurde und dessen Türme das danebenliegende Regierungsgebäude um Weiten überragten.

„Die vergangenen 100 Jahre ist hier nichts passiert“, sagte Eberhard Völker, der als leitender Archäologe für dieses Feld zuständig ist. Das Kraftwerk wurde 1919 nach nur 30 Jahren Betrieb aufgegeben und abgerissen. Die rasante technische Entwicklung habe es schnell obsolet gemacht, da Strom von außerhalb günstiger zu beziehen gewesen sei, so Völker weiter. In den Katakomben befänden sich allerdings noch die 130 Jahre alten Leitungen und Zugänge. „Das ist Technik, die wir sonst nur noch aus dem Bilderbuch kennen oder aus der Literatur von Jules Verne.“

Ein Bombenkrater aus dem Zweiten Weltkrieg wurde freigelegt

Während für die Ausgrabungen in diesem Bereich wegen der anstehenden Straßenverlegung nur acht Monate anberaumt sind, soll auf der anderen Seite der Grunerstraße deutlich länger gegraben werden. Dort lag bis zu seinem Abriss im Jahr 1937 ein dicht bebautes Wohnquartier. Es sollte einem großen Verwaltungsgebäude weichen, das nie realisiert wurde. Die Archäologen haben nun einen Bombenkrater aus dem Zweiten Weltkrieg freigelegt, in dem sich heute noch Überreste von geschmolzenen Gläsern, Vasen und Heizungsgerippen finden.

Einige Meter entfernt, in einer weiteren Grube, wurden bereits alte Straßenschilder, Eimer, Flaschen und Druckpaletten zutage gefördert. Dabei sind die Ausgräber auch auf Mauerwerk und Fußböden gestoßen. Sie stammen ersten Schätzungen zufolge aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. „Aber hier wird zweifellos auch noch das Mittelalter herauskommen“, sagte Michael Malliaris, der das Projekt beim Landesdenkmalamt (LDA) koordiniert. In vier Meter Tiefe erwarte man Überreste, die bis ins 13. Jahrhundert zurückgehen und die durch Aufschüttung, Staubablagerungen oder schlicht Abriss und Überbauung im Erdreich verschwanden. „Wir graben vom Jüngsten bis zum Ältesten hin.“

Bis 2023 werden 25.000 Quadratmeter untersucht

Noch stehen die Arbeiten ganz am Anfang. „Wir werden hier die ganze Vielfalt mittelalterlicher bis neuzeitlicher Stadtgesellschaft in ihren Hinterlassenschaften erfassen“, definiert Senator Lederer das Ziel. Dazu sollen bis 2023 insgesamt 25.000 Quadratmeter untersucht werden. Damit handele es sich um die größte innerstädtische Ausgrabung Deutschlands, so Lederer weiter. Dazu wollen sich die Archäologen vom Molkenmarkt Stück für Stück knapp 500 Meter in östlicher Richtung am Klosterviertel vorbei bis zur Franziskaner-Klosterkirche bewegen. Insgesamt 500.000 Kubikmeter Erde will man dabei versetzen.

Bereits seit einigen Jahren wird Berlins historische Mitte verstärkt archäologisch untersucht. Im Zuge der Verlängerung der U-Bahnlinie 5 wurden bis 2016 Überreste des alten Rathauses freigelegt. Bevor der Grundstein für das Humboldt Forum gelegt wurde, stießen Wissenschaftler auf die Überreste der mittelalterlichen Hohenzollernburg. Schon vor zehn Jahren wurden die Überreste der St. Petri-Kirche auf dem Petriplatz freigelegt.

Am Molkenmarkt erwarte man zwar keine wichtigen Gebäude, sagte LDA-Direktor Christoph Rauhut. Vielmehr gehe es um das Alltägliche. „Die Geschichte, die Berlin zur Großstadt werden lassen hat, hat hier irgendwo begonnen.“ Ausgewählte Befunde wolle man mit sogenannten archäologischen Fenstern sichtbar machen.