Berlin hat noch mal einen schönen Spätsommertag erlebt, mit 20 Grad und viel Sonnenschein. Die SPD-Politikerin Mirjam Blumenthal kommt vom Einkaufen nach Hause. Blumenthal, 47 Jahre alt, lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in einem Reihenhaus in der Hufeisensiedlung in Britz. Im Flur sieht sie, dass der Anrufbeantworter blinkt. Sie stellt die Einkaufstaschen ab, drückt den Abhörknopf. Es macht Piep. Eine Computerstimme sagt, um 19.47 Uhr sei ein Anruf eingegangen. Kurze Pause. Dann meldet sich eine Männerstimme: „Ja, hier ist der faschistische Widerstand. So etwas wie dich hätten wir früher vergast. Wir sind überall. Nicht nur in Britz.“ Wieder ein Piep. Ende der Nachricht.
Nicht schon wieder, denkt Blumenthal. Die Männerstimme. Das rollende R. Die zackige Betonung. Blumenthal sitzt in ihrer Küche und scrollt durch Ordner in ihrem Computer, in dem sie die Bedrohungen und Angriffe gesammelt hat. Der Anruf aus dem Jahr 2012 ist einer von vielen. „Diese Attacken haben unser Leben verändert“, sagt sie. Es vergehe kein Tag, an dem sie nicht daran denke.
Seit auch ihr Auto brannte, fährt Blumenthal Umwege, wenn sie nach Hause will, schaut im Rückspiegel, ob ihr jemand folgt. Ihren Kinder hat sie Verhaltensregeln auferlegt, auch die Nachbarn sind informiert. Nach dem Brand diskutierte die Familie, wie sie im Notfall das Haus verlassen könnten.
Was Mirjam Blumenthal widerfuhr, machten auch der Buchhändler Heinz Ostermann und Ferat Kocak durch. Und Detlef Hanschmann und Karin Wüst. Und Christiane Schott und Claudia von Gélieu. Und viele andere. Alle leben in Neukölln. Alle engagieren sich gegen Rechtsextremismus. Und alle hätten niemals gedacht, in das Visier von Neonazis zu geraten. Und doch mussten sie erleben, wie ihre Autos in Flammen aufgingen, wie Steine durch die Scheiben ihrer Wohnungen flogen, wie sie mit Schmierereien auf den Fassaden ihrer Wohnhäuser bedroht wurden.
In den vergangenen drei Jahren 55 Anschläge in Neukölln registriert
Die „Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus“, eine öffentlich geförderte Anlaufstelle für Betroffene, registrierte in den vergangenen drei Jahren 55 Anschläge in Neukölln. 55 Anschläge, die offenbar von Rechtsextremisten verübt wurden. 55 Anschläge, die offensichtlich Teil einer Serie sind. Einer Serie, die in den Kiezen ein Klima der Angst gedeihen ließ – und über einen langen Zeitraum trotzdem kaum wahrgenommen wurde.
Das hat sich geändert. Bei der Polizei ermitteln nun 22 Beamte zur Neuköllner Anschlagsserie. Doch einen greifbaren Erfolg können sie nicht vorweisen. Kein Haftbefehl und keine Anklage. Von einer Verurteilung wagen Polizisten und Staatsanwälte nicht mal zu träumen.
Die Betroffenen geben unterdessen Pressekonferenzen, auf denen sie der Polizei vorwerfen, auf dem rechten Auge blind zu sein. Schlimmer noch: Die Beamten duldeten womöglich sogar Kollegen, die die Ermittlungen torpedierten und Neonazis mit Informationen versorgten, so der Vorwurf. Die Linke fordert einen Untersuchungsausschuss.
Hat die Polizei tatsächlich geschlampt? Kann es sein, dass ein Polizist tatsächlich Kontakt mit Neonazis pflegte? Oder welche Gründe könnte es sonst geben, die die Ermittler scheitern ließen?
Reporter der Berliner Morgenpost haben Betroffene der Anschlagsserie und Experten für Rechtsextremismus getroffen, Akten gesichtet und mit Polizisten und Staatsanwälten gesprochen. In der Gesamtschau ergibt sich ein Bild, das die Wut der Betroffenen, aber auch die Ohnmacht der Ermittler verständlicher erscheinen lässt. Es ist ein Bild, das die Grenzen des Rechtsstaates deutlich werden lässt. Ein Bild, das zeigt, dass es ein Zeitfenster gab, in dem die Ermittler die Täter hätten überführen können – wenn sie die Bedeutung dieses Zeitfensters rechtzeitig erkannt hätten.
Täter der ersten Anschlagsserie wurden nie überführt
Um die Wut der Betroffenen zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Neuköllner Anschlagsserie weit zurückreicht. Von 2009 bis 2012 wurde der Bezirk von einer Serie von Angriffen auf „linke“ Einrichtungen und Parteibüros erschüttert. Und schon damals vermutete die Polizei, dass Neonazis dahinter steckten, genauer: Aktivisten des Netzwerks „Nationaler Widerstand“. Doch Anstrengungen zur Aufklärung, wie sie die Polizei inzwischen unternimmt, waren bei dieser ersten Anschlagsserie nicht erkennbar. Die Täter wurden nie überführt.
Die Neonazis fühlten sich dadurch offenbar ermutigt. Seit Mai 2016 attackieren die Militanten nicht nur Vereine und Initiativen, sondern Privatpersonen. Nun geht es nicht nur um Sachbeschädigungen. In einem Fall gab es fast Tote.
Auch bei dieser zweiten Serie vermutet die Polizei die Täter im Umfeld der Südneuköllner Neonazi-Szene. Ihr wichtigster Treffpunkt: ein Imbiss am U-Bahnhof Rudow mit dem sinnfälligen Namen „Ketchup“. An der Bude treffen sich Busfahrer, deren Touren hier starten, oder Menschen, die vor dem Sprung in die U-Bahn etwas Fettiges vertilgen wollen. Boulette und Currywurst kosten 1,70 Euro. Die Propaganda gibt es gratis.
Das „Ketchup“ ist schon seit den 90er-Jahren ein Treffpunkt von Neuköllner Neonazis. Doch von der Szene ist nur ein überschaubarer Haufen übrig geblieben. Die Zeiten, in denen die Extremisten regelmäßig öffentliche Veranstaltungen abhielten, sind vorbei.
Vielleicht ist es gerade diese Schwäche, so vermuten Extremismus-Experten, die die Neonazis dazu gebracht hat, all ihre Energie für die Strategie der „Propaganda der Tat“ zu nutzen – für Gewalttaten, die in der menschenverachtenden Tradition des Terrortrios des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ keine Bekennerschreiben erfordern, sondern allein durch die Auswahl der Opfer für sich sprechen sollen.
Erst 2017 gründet die Polizei eine eigene Ermittlungsgruppe
Wie bei der ersten Anschlagsserie sind sich die Ermittler auch nach der Rückkehr der Gewalt ab Mai 2016 sicher, die Täter in der Rudower Szene zu finden. Konkrete Hinweise auf einen Tatverdächtigen fehlen ihn aber zunächst.
Anfang 2017 unternimmt die Polizeiführung dann jene Anstrengung, die Betroffene und Beobachter schon Jahre zuvor gefordert hatten: Sie begreifen die Gewalttaten stärker als Serie und mühen sich, Erkenntnisse zusammenzuführen. Der neue Ansatz manifestiert sich am 25. Januar 2017: Die Polizei gründet die Ermittlungsgruppe „Rechte Straftaten in Neukölln“, kurz „EG Resin“.
Der erste Erfolg kommt schnell. Die Ermittler vergleichen eine rechtsextreme Schmiererei mit einem Graffiti aus früheren Jahren. Ein Volltreffer. Die Schriftzüge seien wohl von derselben Person gesprüht worden, urteilt ein Gutachter. Mit der Sicherheit, die für eine Anklage nötig sei, könne er das nicht feststellen. Es sei aber wahrscheinlich.
Auf diesen Durchbruch haben die Ermittler lange gewartet. Denn den Verfasser der ersten Schmiererei kennen sie. Es ist ein alter Bekannter: Sebastian T., ein gewalttätiger Neonazi aus der Rudower Szene, vorbestraft und den Beamten bereits aus den Ermittlungen zur ersten Anschlagsserie bekannt. Nun scheint alles zu passen. Denn T. ist erst am 3. Mai 2016 aus der Haft entlassen worden. Nur wenige Wochen später flammt die Gewaltserie wieder auf, die während seiner Haftzeit zum Erliegen gekommen war.
Die Staatsschützer fahren jetzt das volle Programm – und der Verdacht erhärtet sich. Observationskräfte beobachten, wie T. Tatorte und potenzielle Opfer ausspäht. Wenn ein Auto in Flammen steht, stellen die Beamten danach fest, dass sich T. vor oder nach dem Anschlag in der Nähe des Tatortes aufhielt. Die Ermittler identifizieren auch mutmaßliche Mitstreiter. Etwa Julian B. Auch er ein vorbestrafter Gewalttäter, ein Neonazi, der 2011 erfolglos versuchte, für die NPD in die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung einzuziehen.
Frustrierende Monate für die Ermittler
Die folgenden Monate müssen für die Ermittler frustrierend sein. Denn es fehlen die Beweise. Kein Telefonat, in dem T. oder B. sagen: „Morgen fackeln wir die Karre ab!“ Keine Fingerabdrücke oder DNA-Spuren. Keine Observationsberichte, in dem die Beamten einen Satz notieren können wie einen solchen: „Um 2.32 Uhr platzierte T. den Grillkohleanzünder auf dem Autoreifen und entzündete ihn mit einem Feuerzeug.“
Dann kommt der 1. Februar 2018 – und die Nacht, in der die Anschlagsserie ihren traurigen Höhepunkt erreicht – und fast ein Menschenleben fordert.
Wenn Ferat Kocak davon berichtet, wirkt er noch immer aufgeregt. Als er das rötliche Flackern bemerkte, sei es 3 Uhr nachts gewesen, erzählt er. Er habe aus dem Fenster geblickt, da seien die Flammen schon aus seinem Kleinwagen geschlagen. Kocak schreit, weckt seine Eltern, in deren Haus er sich in dieser Nacht einquartiert hat, will das Auto mit einem Feuerlöscher löschen. Doch es ist zu spät. Das Feuer greift auf den Carport über. In der Hauswand daneben, keinen Meter entfernt, verläuft eine Gasleitung. In einem Untersuchungsbericht, den die Berliner Morgenpost einsehen konnte, heißt es, dass es „zu immensen Sach- und Personenschäden“ hätte kommen können. Übersetzt: Das Haus hätte in die Luft fliegen, Ferat Kocak und seine Eltern hätten sterben können.
Gut eineinhalb Jahre später sitzt Kocak in einem Café am Kottbusser Tor und sagt, dass in seinem Leben „etwas Normalität“ eingekehrt sei. „Aber die Bilder habe ich immer noch ständig im Kopf. Wenn ich unterwegs bin, schaue ich noch oft, ob mich jemand verfolgt.“
Der Verfassungsschutz hatte die Neonazis abgehört
Die Beamten der „EG Resin“ dürften am Morgen nach dem Brand in heller Aufregung gewesen sein. Nicht nur, weil ein Mensch hätte sterben können. Sondern weil ihnen klar geworden sein dürfte, dass sie den Anschlag womöglich hätten verhindern und die Tatverdächtigen auf frischer Tat hätten ertappen können.
Denn es gab eine Warnung: Der Verfassungsschutz hatte bereits zwei Wochen zuvor ein Telefonat mitgeschnitten. Darin war zu hören, wie Sebastian T. und der ebenfalls als Neonazi bekannte Tilo P. einen Mann ausspionierten: Ferat Kocak, das spätere Anschlagsopfer.
Die Neonazis beobachten den Politiker der Linkspartei an jenem Abend beim Kneipentreffen mit Parteifreunden. Als Kocak das Lokal verlässt, telefoniert Tilo P. mit Sebastian T. – und der Verfassungsschutz hört mit. „Ein roter Smart“, sagt P. laut Überwachungsprotokoll. T. erwidert: „Na, dann fahr hinterher.“ Nachzuhören war die Unterhaltung in einem Bericht des RBB, der die Überwachung öffentlich gemacht hatte.
Man sollte meinen, dass Beamte nach einer solchen Unterhaltung unter tatverdächtigen Neonazis alles stehen und liegen lassen. Um einen Anschlag zu verhindern. Um die Tatverdächtigen auf frischer Tat überführen und festnehmen zu können.
Überwachung der Extremisten sollte nicht auffliegen
Tatsächlich aber passiert erst mal nichts. Der Verfassungsschutz übermittelt die Erkenntnisse erst am 30. Januar 2018, fast zwei Wochen nach der Ausspähaktion, in einem sogenannten Behördenzeugnis an die Polizei. Doch die Verfassungsschützer bitten die Kollegen, keine Aktionen zu starten. Die Überwachung soll nicht auffliegen.
Die Polizisten ermitteln also zunächst im Stillen. Sie erstellen eine Liste mit Personen, die in Neukölln einen roten Smart besitzen. Auf der Liste steht auch Ferat Kocak. Ein Mitglied der Linkspartei. Ein Mann mit ausländischen Wurzeln. Eine Person, die sich gegen Rechtsextremismus engagiert. Kurz: eine Person, die eindeutig ins Zielraster von Rechtsextremisten passt.
Trotzdem halten die Beamten still. Keine Warnung an Ferat Kocak. Keine Rund-um-die-Uhr-Überwachung der Neonazis. Keine Streifenwagen oder heimlich positionierte Zivilautos vor dem Haus, auf das es die Neonazis offenbar abgesehen haben.
Als Kocaks Auto in Flammen steht, wird den Ermittlern klar, dass sie besser gehandelt hätten. Sie versuchen noch, gegen Sebastian T. und Tilo P. Haftbefehle zu erwirken. Doch die Beweise sind zu dünn. Ein konkreter Anschlagsplan ist aus dem abgehörten Telefonat nicht herauszuhören.
War es nicht fahrlässig, diese Chance zur Ergreifung der Täter verstreichen zu lassen? Frauke Jürgens-El-Hansali rutscht etwas unruhig auf ihrem Stuhl herum und wiegt den Kopf hin und her. Andreas Majewski schaut nachdenklich über den Konferenztisch. Die Leiterin des für Rechtsextremismus zuständigen LKA-Dezernats 53 und der Leiter der „Besonderen Aufbauorganisation“ mit dem Namen „Fokus“, deren Mitarbeiter die Kollegen der EG Resin unterstützen sollen, haben zum Gespräch geladen. Das ist ungewöhnlich. Denn Beamte der für Extremismus-Delikte zuständigen Abteilung für Staatsschutz im Landeskriminalamt der Polizei lassen sich eigentlich nur ungern in die Karten schauen. Zu groß ist die Gefahr, dass Ermittlungen gefährdet werden könnten. Zu groß scheint das Risiko, dass Extremisten die Methoden der Spezialisten ergründen könnten.
Auch im Gespräch mit den Reportern der Berliner Morgenpost sind die Staatsschützer vorsichtig. Doch sie sagen, was zulässig erscheint, wollen dem Eindruck entgegenwirken, nur Dienst nach Vorschrift gemacht zu haben. Angesprochen auf den Fall Kocak, sagt Jürgens-El-Hansali, dass Neonazis praktisch ständig Personen ausspähen würden, die sie als politische Gegner betrachteten. Auch das Ausspähen einer Person, die einen roten Smart fährt, sei daher weder ungewöhnlich noch spezifisch genug gewesen. Wann und ob jemand überhaupt angegriffen wird, sei nicht berechenbar. „Es gibt da keinen Algorithmus“, sagt Jürgens-El-Hansali.
Die Betroffenen konnte die Polizei nicht überzeugen, alles richtig gemacht zu haben. Von der verpassten Chance und der fehlenden Warnung im Fall Kocak erfuhren sie aus der Zeitung. Ferat Kocak sagt: „Mit mir hat bis heute niemand aus den Sicherheitsbehörden darüber gesprochen.“
Könnte es bei der Polizei eine undichte Stelle geben?
Bianca Klose, die Leiterin der „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus“, fasst das ungute Gefühl vieler Betroffener so zusammen: „Am Anfang hatten viele den Eindruck, die Polizei würde die Anschläge nicht ernst genug nehmen und sei womöglich auf dem rechten Auge blind. Jetzt sehen sie, dass ständig neue Ermittlungsgruppen eingesetzt werden, die Täter aber immer noch nicht gefasst wurden.“ Viele Betroffene treibe daher nun die Frage um, ob es in der Polizei womöglich ein Leck geben könnte, einen Beamten, der die Ermittlungen womöglich gezielt behindert und mit den Tatverdächtigen zusammenarbeitet.
Polizisten, die mit Neonazis gemeinsame Sache machen: Der Verdacht wiegt schwer, er ist sogar ungeheuerlich. Er ist auch nicht bewiesen. Er ist aber auch nicht aus der Luft gegriffen. Denn Vorfälle, in denen sich bei der Polizei rechtsradikales Gedankengut offenbarte, gab es einige. Da wäre der Beamte einer Anti-Terror-Abteilung, der im internen Chat mit Kollegen die Codeformel „88“ für den verbotenen Hitler-Gruß nutzte. Da wäre ein weiterer Beamter, der Daten aus dem Polizeicomputer nutzte, um Drohbriefe an tatsächliche und vermeintliche „Linke“ zu verschicken.
Das Vertrauen vieler Betroffener ist erschüttert
Seine Mandanten hätten die Berichte über diese Vorfälle aufmerksam registriert, sagt der Rechtsanwalt Sven Richwin, der die Interessen einiger Betroffener vertritt. Das Vertrauen in die Ermittlungsbehörden sei erschüttert. „Denn bei einigen dieser Vorfälle lässt sich ja sogar die Vermutung ableiten, dass Beamte Kontakte in die rechtsextreme Szene haben könnten“, sagt Richwin.
Rund ein Jahr nach dem Anschlag auf Ferat Kocak bekommt das Misstrauen neue Nahrung. Denn wie der RBB berichtet, observieren Verfassungsschützer nur wenige Wochen nach dem Brandanschlag Sebastian T. An jenem Abend besucht der Neonazi das Ostburger Eck, eine beliebte Hertha-Fankneipe in Rudow. Der Laden liegt nur wenige Hundert Meter vom Szenetreff „Ketchup“ entfernt. Dunkler Holztresen, Spielautomaten und jede Menge Fußballdevotionalien: Hier setzt sich T. an jenem Tag im April 2018 an einen Tisch. Die Verfassungsschützer beobachten die Szene – und sind erstaunt. Denn an dem Tisch entdecken sie auch den ihnen bekannten LKA-Beamten W., der bei der Polizei auch für Observationsmaßnahmen zuständig ist. In ihrem Bericht schreiben die Verfassungsschützer sogar, dass der Neonazi T. und der Beamte W. gemeinsam die Kneipe verlassen und im Auto von W. wegfahren.
Die Verfassungsschützer leiten den Verdacht an ihre Vorgesetzten weiter, der die Polizei informiert. Gegen W. wird intern ermittelt. Doch die interne Revision findet keine Hinweise auf Verstrickungen ins Neonazi-Milieu. Und auch die Verfassungsschützer, die Sebastian T. und seine Art sich zu bewegen, eigentlich bestens kennen, sind sich plötzlich nicht mehr sicher. Haben sie den Mann, den sie für Sebastian T. hielten, vielleicht doch mit einem Freund des LKA-Beamten W. verwechselt? Möglich ist das. Aus der Welt geräumt ist der ungeheuerliche Verdacht aber nicht.
Staatsschützer wie Frauke Jürgens-El-Hansali oder Andreas Majewski weisen Vorwürfe, Kollegen könnten mit Neonazis kooperieren, von sich. „Wir konnten die Tatverdächtigen bisher nicht überführen. Das schmerzt uns“, sagt Majewski. Die Ermittlungsergebnisse könnten die Betroffenen natürlich nicht zufriedenstellen. Aber um einen Verdächtigen in Untersuchungshaft nehmen zu können, bedürfe es eines dringenden Tatverdachts. Diesen hätten die Ermittler bisher nicht belegen können.
Und nun? Die Ermittler prüfen jetzt noch mal sämtliche Überwachungsprotokolle und Observationsberichte. Kann es sein, dass sie noch einen wichtigen Hinweis entdecken? Vielleicht schon. Vielleicht bleibt es aber auch dabei, dass sie ihre Chance in jenen Tagen vor dem Brandanschlag auf das Auto von Ferat Kocak hatten – und keine zweite erhalten werden.
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