Berlin. Berlin schafft nicht genügend Schulplätze, Schulneubauten stocken. Der Mangel verschärft sich deutlich.
Senat und Bezirke kommen bei Planung und Bau der dringend benötigten Schulen in Berlin nicht wie geplant voran. Der Mangel an Schulplätzen droht deshalb schon in zwei Jahren noch einmal erheblich größer zu werden als bisher befürchtet. Nach dem neuesten Controllingbericht der Bildungsverwaltung zur Schulbauoffensive werden zum Schuljahr 2021/22 Plätze 26.000 fehlen. Diese verteilen sich auf 193 Züge.
Als Zug bezeichnet man eine durchlaufende Abfolge der Klassenstufen. In Grundschulen sind das sechs Klassen mit im Durchschnitt zusammen 144 Kindern, in Sekundarschulen und Gemeinschaftsschulen vier Jahrgänge mit 100 Schülern und in Gymnasien inklusive Oberstufen sechseinhalb Jahrgänge mit zusammen 166 Schülern.
Lichtenberg, Pankow und Treptow-Köpenick besonders betroffen
Der Mangel trifft alle Schularten. In Grundschulen fehlen 77 Züge für 11.200 Kinder, in Sekundarschulen 75 Züge für 7500 Schüler und in Gymnasien 45 Züge für 7470 angehende Abiturienten. Besonders groß wird demnach die Not in Lichtenberg, Pankow und Treptow-Köpenick sein.

Noch im vorhergehenden Controllingbericht mit Daten vom März 2017 hatte die Bildungsverwaltung den sich abzeichnenden Mangel mit nur 93 Zügen angegeben, 100 weniger als derzeit. „Wir haben eine extrem angespannte Lage“, räumte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) am Montag ein. Man befinde sich „in einem Wettlauf mit der Zeit“.
Diese Aussagen machte die Senatorin aber erst auf Nachfrage der Morgenpost und anderer Medien. Zuvor hatte sie in Marzahn die erste Sekundarschule eröffnet, die im Zuge der 2016 vom Senat ausgerufenen Schulbauoffensive zum Start des neuen Schuljahres eröffnet werden konnte. Weniger als ein Jahr hat es gedauert, das 34,8 Millionen Euro teure Holzgebäude für 500 Schüler fertig zu stellen. „Berlin kann schnell planen und bauen“, sagte Scheeres.
Interaktive Anwendung: Finden Sie die perfekte Schule für Ihr Kind
Krisentreffen für mehr Schulbauten
Offensichtlich stellt sich die Lage an vielen Orten aber anders dar als bei der neuen Schule im Ortsteil Mahlsdorf. Zahlreiche Grundstücke und Schulbau-Vorhaben, die die Beamten noch 2017 als „planerisch gesichert“ dargestellt hatten, haben in der neuesten Auflistung diesen Status eingebüßt, weil Grundstücke eben doch nicht zur Verfügung standen oder sich Verfahren verzögert haben. Dadurch ist die Zahl der absehbar nicht versorgten Schüler nun größer als kurz nach dem Start der Schulbauoffensive. Rot-Rot-Grün will 60 Schulen bauen und hat dafür sowie für Erweiterung und Sanierung bestehender Gebäude 5,5 Milliarden Euro vorgesehen.
Kommentar: Berlin läuft auf einen massiven Schulnotstand zu
In zwei Krisentreffen haben die Finanz- und Bildungsexperten der Koalitionsfraktionen von SPD, Grünen und Linken mit Senatsvertretern versucht, den Status Quo zu analysieren und mögliche Gegenmaßnahmen zu erörtern. Am 12. August ist man wieder verabredet und wartet auf Vorschläge der Senatsverwaltungen für Bildung und Bau, wie der Notstand doch noch einzugrenzen ist. „Die Situation ist sehr ernst“, sagte der Linken-Haushaltsexperte Steffen Zillich. Noch sei es aber schwer, angesichts der Zahlen sich ein realistisches Bild der Lage zu verschaffen. „Wir steuern auf einen erheblichen Engpass zu“, sagte SPD-Bildungsexpertin Maja Lasic.
860 Seiten Bericht - ohne übersichtliches Fazit
Bildungssenatorin Scheeres hatte die neuen Erkenntnisse Ende Mai in einem 860 Seiten dicken Bericht ans Abgeordnetenhaus untergebracht. Eine Zusammenfassung mit den wichtigsten Ergebnissen, die die Probleme auf einen Blick offenlegen, sucht man darin vergebens. Jetzt arbeiten Scheeres´ Beamte an einem neuen Bericht. Nach der zweimaligen Bitte um Fristverlängerung soll das Werk mit aktuellen Zahlen nun Ende Oktober vorgelegt werden.
Den Vorwurf, die Verwaltung habe nicht reagiert auf die Entwicklung, wies Senatorin Scheeres zurück. Sie habe für den nächsten Haushalt 100 Millionen Euro zusätzlich für modulare Ergänzungsbauten für Schulen durchgesetzt.
Lichtenbergs Schulstadtrat Wilfrid Nünthel (CDU), dessen Bezirk dem größten Mangel entgegensieht und schon heute dreizügige Grundschulen mit viereinhalb Zügen besetzen muss, setzt auf „Notbehelfe“ wie Container oder die Nutzung von Fachräumen als Klassenzimmer. „Das wird sich negativ auf die Qualität des Unterrichts auswirken“, hieß es.
Die Raumnot an Berlins Schulen nimmt zu

Johanna Rotsch hat mehr Glück als viele Berliner Schülerinnen. Das Mädchen aus Mahlsdorf beginnt ihre Oberschullaufbahn an einer neuen und noch nicht überfüllten Schule. „Ich freu’ mich am meisten auf die neuen Lehrer“, sagt die Zwölfjährige. Sie kommt nicht nur in die siebte Klasse. Sie ist auch eine der ersten Schülerinnen der neu gegründeten Integrierten Sekundarschule (ISS) Mahlsdorf, die am Montag zum Schulstart eröffnet wurde. „Eine neue Schule ist einfach eine gute Chance für die Kinder, mitzugestalten“, ergänzt ihre Mutter.
Rund 200 Schüler in fünf siebten und drei achten Klassen machen den Anfang. Langfristig soll die Schülerschaft auf 550 anwachsen. Die ISS Mahlsdorf, die als erste im Rahmen der Berliner Schulbauoffensive fertiggestellt wurde, ist keine normale Schule. Einzig die Außenfassade wurde mit Aluminium verkleidet.
Holzschule wurde in weniger als einem Jahr hochgezogen
Der eigentliche Bau mit knapp 9000 Quadratmetern Geschossfläche besteht fast vollständig aus Fichtenholz, das überall deutlich sicht- und riechbar ist. Dadurch habe man im Vergleich mit einem Zementbauwerk rund 6500 Tonnen CO2 gespart, sagte Architekt Andreas Krawczyk. Die Baukosten seien mit 34,8 Millionen Euro vergleichbar. „Aber die Schüler dürfen zwei Jahre früher rein.“ Denn die Bauzeit betrug weniger als ein Jahr.

Möglich macht das die Modulbauweise. Die Schule wurde aus vorgefertigten Holzteilen vor Ort nur noch zusammengesetzt. Schnelligkeit und Qualität seien kein Widerspruch, sagte Berlins Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke) bei der Eröffnungsfeier. „Mit diesem Schulbau ist uns ein großer Prototyp für die Schule in Berlin von morgen gelungen.“ Die gute Nachricht aus dem Bezirk Marzahn-Hellersdorf wird aber überlagert durch eine neue Debatte um den sich verschärfenden Mangel an Schulplätzen. Neue Zahlen der Bildungsverwaltung lassen darauf schließen, dass schon im übernächsten Schuljahr 2021/22 nicht weniger als 26.000 Plätze fehlen werden. Das sind gut doppelt so viele wie noch im März 2017 erwartet worden waren.
SPD-Bildungsexpertin Maja Lasic ist nicht überrascht davon, dass sich die Probleme beim Planen und Umsetzen der Schulbauoffensive nun zuspitzen. Sie schlage seit zwei Jahren Alarm, sagte die Sozialdemokratin. Gleichzeitig kämpfe sie an vielen Orten dafür, dass ins Auge gefasste Schulgrundstücke auch wirklich für die Bildung bereitgestellt und nicht anderweitig verplant würden. „Ich kloppe mich seit Langem mit lokalen Initiativen darum, das Gelände des früheren Diesterweg-Gymasiums in Wedding wieder als Schule zu nutzen“, sagte Lasic. Sie erwarte nun, dass alle in der Koalition sie in solchen Konflikten unterstützten.
Lichtenbergs Schulstadtrat Wilfried Nünthel (CDU) sagte, es werde auch in zwei Jahren keine unversorgten Schüler in der Stadt geben. Da stehe schon die Schulpflicht dagegen. Man müsse dazu aber die „Raumkapazität stärker ausnutzen“ und sich von bisher geltenden Normen verabschieden. Der Bezirk werde mehr Modulare Ergänzungsbauten aufstellen. Schüler müssten auch in Containern unterrichtet werden, das sei bereits jetzt an zwei Schulen im Bezirk der Fall, so der Stadtrat.
Aber auch bei den Plänen für neue Baugebiete müssten Schulen immer mitgedacht werden. Auch weil das nicht erfolgt sei, lägen nun zwei Bebauungspläne im Bezirk auf Eis. Erst seit Ende des letzten Jahres stelle er eine Konzentration der Planer auf den Schulbau fest, so der Christdemokrat. Bis dahin sei es immer wieder vorgekommen, dass andere Interessengruppen ihm Schulbaugrundstücke vor der Nase weggeschnappt“ hätten, sagte Nünthel. Bei den temporären Lösungen wie Containern oder Ergänzungsbauten sei Berlin ziemlich schnell, bei Neubauten eher nicht.
Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) verwies auf die „Dynamik der Stadt“, die eine Prognose und ein Monitoring schwierig mache. Es gebe auch Regionen, da werde der Bedarf an Plätzen niedriger ausfallen als erwartet, weil etwa neue Wohngebiete später bezogen würden. Insgesamt können es aber sein, „dass die Zahl der fehlenden Plätze ansteigt“. Die Struktur der Schulbauoffensive, in der Senatsverwaltungen und Bezirke in einer Task Force zusammenarbeiten, bestehe erst seit zwei Jahren, sagte Scheeres. Insgesamt habe man in den vergangenen Jahren in der Stadt 15.000 Schulplätze neu geschaffen. Für das gerade gestartete Schuljahr 2019/20 gebe es in den Oberschulen, die anders als die Grundschulen immer Schülern aus dem gesamten Stadtgebiet offen stehen, noch 1000 freie Plätze.
CDU fordert Bildungsgipfel beim Bürgermeister
Bildungspolitiker sind jedoch in Sorge, dass die zunehmende Enge an den Schulen die Qualität der Bildung weiter senken könnte. In begehrten Oberschulen würden fast nur noch Grundschüler mit einem Einser-Notendurchschnitt aufgenommen. Die weniger leistungsstarken sammelten sich in den übrigen Schulen, wo auch der überwiegende Teil der Quereinsteiger als Lehrer eingesetzt werden.
Unabhängig vom Neubaunotstand kommt Kritik vom Landeselternausschuss. Das neue Schuljahr startet aus Sicht des Vorsitzenden Normen Heise „katastrophal“. Zwar sei ausreichend Personal eingestellt worden. „Wir sind aber hochgradig unzufrieden mit der Bewegungslosigkeit beim Abschneiden Berlins in den Vergleichsarbeiten, bei der Schulabschluss-Quote und beim Thema Unterrichtsausfall.“ Seit Jahren würden in diesen Bereichen Verbesserungen angekündigt, ohne dass es sicht- und messbare Veränderungen gebe. „Die Senatorin hat bei diesen Themen für uns ihre Glaubwürdigkeit verloren.“
CDU-Fraktionschef Burkard Dregger sprach von einer „rot-rot-grünen Bildungskrise“. Die CDU fordert deshalb einen „Zukunftsgipfel zu allen Bildungsfragen“ mit Vertretern des Senats, der Bezirke, Gewerkschaften, Kita-Trägern und Eltern-Initiativen vor unter der Federführung des Regierenden Bürgermeisters. „Ein Weiter-So kann und darf es nicht geben“, sagte Dregger.