Berlin. Immer mehr Menschen wollen für das Klima weniger fliegen. Das könnte die Chance für ein bereits totgesagtes Verkehrsmittel sein.

Kurz vor sieben kommt Farbe in den Berliner Hauptbahnhof. Der Zug, der dann auf Gleis 11 einfährt, besteht aus einer bunten Mischung aus blauen, dunkelblauen, rot-weißen und grau lackierten Waggons. Doch nicht nur in seiner Zusammenstellung ist dieser Zug ein echter Exot. Der „Metropol“ – im Fahrplan als EN 457/477 ausgewiesen – ist einer der wenigen Nachtzüge, die in Berlin noch abfahren. Die Anzeige am Bahnsteig verrät als Ziel Wien. Doch auch Breslau, Budapest oder Bratislava können mit dem „Metropol“ bequem im Schlaf erreicht werden.

Nicht erst seit den „Friday für Future“-Demonstrationen gibt es in vielen Berliner Familien Diskussionen darüber, mit welchem Verkehrsmittel es denn auf Reisen gehen sollte. Das eigene Auto ist bequem, das Flugzeug schnell und zudem billig. Doch wegen der von den Jets verursachten hohen Umweltbelastung ist inzwischen viel von der Flugscham die Rede, die die Menschen vom Fliegen abhält. Zumindest theoretisch. In der Praxis sprechen etwa die an den Berliner Airports zuletzt um mehr als zehn Prozent gestiegenen Fluggastzahlen noch eine ganz andere Sprache. Dennoch: Immer mehr Menschen denken zumindest über Alternativen zum Flug nach.

Zehn Stunden oder mehr in einem Zug ist für viele tagsüber keine Option

Gerade für Reisen innerhalb Europas empfehlen Klimaschützer dann gern den Zug, der im günstigsten Fall von Loks gezogen wird, die zu 100 Prozent aus Ökostrom gespeist werden. Doch ist das auch eine Option für längere Reisen? Zehn Stunden oder mehr in einem Waggon zu verbringen, ist für viele keine erstrebenswerte Aussicht. Etwas anders fällt die Bewertung aus, wenn die Reise über Nacht geht und die zehn oder zwölf Stunden bequem auf einer Liege oder in einem komfortablen Bett verbracht werden kann. Vielleicht gar noch mit einem leckeren Frühstück, mit dem der nächste Tag am Zielort beginnt.

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© BM

Genau das ist das Konzept des Nachtzugs. Dumm nur, dass ausgerechnet der selbst ernannte Öko-Vorreiter Deutsche Bahn sich 2016 aus dem traditionellen Nachtzugverkehr mit Liege- und Schlafwagenzügen komplett zurückgezogen hat. Zu teuer, zu aufwendig, zu defizitär sei der Betrieb der unter der Marke City Night Linie betriebenen Züge, begründete der damalige Bahnchef Rüdiger Grube diesen radikalen Schritt. Der Eigentümer der Bahn, der Bund, verhinderte den Schritt damals trotz lautstarker Proteste von Bahnkundenverbänden und engagierten Nachtzugfans nicht.

Trotz des Kahlschlags von 2016: Ganz ist Berlin vom Nachtzugverkehr nicht abgehängt. Im Gegenteil. Er erlebt – öffentlich noch weitgehend unbeachtet – gerade eine kleine Renaissance. So bauen etwa die Österreichischen Bundesbahnen, die vor zweieinhalb Jahren einen Teil der Strecken und fast alle Schlaf- und Liegewagen von der Deutschen Bahn übernommen haben, ihr Angebot langsam, aber kontinuierlich aus. Nahtlos weitergeführt wurde die Nachtzugverbindung von Berlin nach Basel und Zürich. Heute fährt täglich gegen 21 Uhr ein sogenannter Nightjet (kurz NJ), wie die ÖBB ihre Nachtreisezüge nennt, am Berliner Ostbahnhof ab. Er fährt dann über Potsdam, Frankfurt am Main, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg bis in die Schweiz, wo der NJ 471 um laut Fahrplan kurz vor 10 Uhr im Züricher Hauptbahnhof eintrifft. Die Verbindung gehört zu den am stärksten nachgefragten im gesamten Netz, sagen die ÖBB-Verantwortlichen.

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Mit fast 20 Zwischenstopps von Berlin nach Budapest

Zum Fahrplanwechsel im vergangenen Dezember hat die ÖBB nun auch die tägliche Nachtzugverbindung zwischen Berlin und Budapest wiederbelebt. Anders als sein Vorgänger fährt der als EN (EuroNight) bezeichnete Zug nicht über Dresden und Prag, sondern über Frankfurt (O.) und Breslau. Was vor allem damit zusammenhängt, dass die Österreicher das Projekt nicht allein stemmen. Ohne Partner lasse sich eine solche Verbindung nicht wirtschaftlich betreiben, sagt Kurt Bauer, Leiter Fernverkehr bei der ÖBB Personenverkehrs AG.

Und so ist der EN 457/477 „Metropol“ ein Gemeinschaftsprojekt der ÖBB mit der PKP und der MAV, den Staatsbahnen von Polen und Ungarn. Was wiederum die anfangs beschriebene bunte Wagenmischung erklärt. Und weil Schlafwagen in Europa inzwischen ein überaus rares Gut sind, rollen in dem Zug auch noch Wagen der slowakischen Staatsbahn mit. Unterwegs gibt es fast 20 Zwischenstopps, unter anderem im polnischen Breslau und im tschechischen Ostrau, was wiederum die Möglichkeit bietet, einige Wagen ab- und andere neu anzuhängen. Auf diese Weise entstehen Verknüpfungen, etwa mit dem Nachtzug Wien–Warschau oder mit dem ÖBB-Railjet Express, der über Bratislava Wien mit Salzburg und Zürich verbindet. Das seien notwendige Synergien, die das Produkt erst rentabel machen, so die ÖBB-Verantwortlichen.

Noch ist das erst vor gut einem halben Jahr gestartete Angebot davon ein Stück entfernt, insgesamt aber würde das Projekt im Business-Plan liegen und werde daher auch im nächsten Fahrplan stehen, versicherte Fernverkehrschef Kurt Bauer im Interview der Berliner Morgenpost. Und kündigte kräftige Investitionen in den ÖBB-Nachtzugverkehr an, der im Vorjahr von immerhin 1,4 Millionen Reisenden genutzt wurde. Etwa in neue Fahrzeuge. Die alten, von der Deutschen Bahn übernommenen Liegewagen sind teilweise mehr als 35 Jahre alt. Sie versprühen noch den Charme alter Zeiten, als vor allem Teenager mit dem günstigen Interrail-Ticket Europa per Zug bereisten. Schmale Abteile mit sechs Liegen ließen Jugendherberge-Stimmung aufkommen, heutigen Komfortansprüchen genügen sie aber nicht mehr.

Interview: „Der neue Zeitgeist gibt uns perspektivisch recht“

Für insgesamt 365 Millionen Euro hat die ÖBB bei Siemens 21 neue Züge eingekauft, 13 Züge (bestehend aus je zwei Schlaf-, drei Liege- und zwei Sitzwagen) werden speziell für den Nachtzugverkehr gebaut. Die ersten „NJneu“ will die ÖBB ab 2022 in Dienst stellen. Mit ihnen, so verspricht Bauer, werde der Kunde ein ganz neues Reiseerlebnis erhalten. Die Devise lautet: „Mehr Komfort, mehr Angebot, besseren Service.“ So sollen alle Abteile mit eigener Dusche und WC ausgestattet sein. Aktuell gibt es dies lediglich bei den teuren Deluxe-Kabinen. Neu sind auch Familienabteile, die Platz für bis zu drei Erwachsene und zwei Kinder bieten, sowie sogenannte Mini-Suiten - kleine Abteile mit nur einem Bett, um das Angebot für die zunehmende Zahl von Einzelreisenden zu verbessern. All das soll den Nachtzugverkehr auch für die interessant machen, die heute vielleicht zum Städtetrip innerhalb Europas noch lieber in den Flieger steigen.

Zur Wahrheit gehört auch: Derzeit ist speziell die Reise im komfortablen Schlafwagen vor allem etwas für überzeugte Fans – und die etwas zahlungskräftigere Kundschaft. So kostet etwa die Fahrt im Nachtreisezug von Berlin nach Wien am 25. Juli bei Buchung auf der ÖBB-Webseite (www.oebb.at) für zwei Reisende im Liegewagen ab 238 Euro und im Schlafwagen (Double-Abteil) ab 318 Euro (Abfrage am 11. Juli). Für weniger nachgefragte Tage gibt es auch Sonderangebote, die die ÖBB Sparschiene nennt: Dann können zwei Reisende im Schlafwagen bereits für 188,90 Euro (Double) beziehungsweise 239,80 (Double Deluxe) unterwegs sein. Wer die fast elfstündige Fahrt (planmäßige Ankunft in Wien um 7 Uhr) im normalen Sitzwagen absolviert, bezahlt dafür nur ab 29 Euro pro Platz.

Nachtzug kann mit dem Flieger preislich meist nicht mithalten

Doch selbst mit diesem Preis kann der Nachtzug mit dem Flugzeug preislich häufig nicht mithalten. Bei Billigflieger Easyjet etwa kann der Flug von Berlin nach Wien für den 25. Juli bereits für 28,71 Euro ab Schönefeld gebucht werden, die zum Lufthansa-Konzern gehörende Fluggesellschaft Austrian bietet den gerade mal 80-minütigen Flug von Berlin-Tegel nach Wien-Schwechat für diesen Tag ab 59 Euro pro Passagier an. Selbst, wer dann nicht die U-Bahn, sondern das Taxi für die Fahrt in die Innenstadt nimmt, kommt nach Wien mit dem Flieger meist preisgünstiger als mit dem Nachtzug.

Die großen Preisunterschiede hängen nicht zuletzt mit einer anhaltend starken Ungleichbehandlung beider Verkehrsmittel zusammen. So wird bei Flugtickets ins Ausland keine Mehrwertsteuer fällig – bei Bahntickets dagegen noch immer der volle Steuersatz von 19 Prozent. Auch Flugbenzin wird nicht besteuert, die Bahn dagegen zahlt Steuern für Strom und Diesel – und oben drauf noch eine Umlage zur Förderung erneuerbarer Energien. Weiterer Preisvorteil des Flugzeugs: Es müssen zwar Start- und Landegebühren an den jeweiligen Flughäfen gezahlt werden, die Nutzung des Luftraums ist dagegen gebührenfrei. Die Bahn hingegen zahlt für jeden Meter Schiene sogenannte Trassenpreise und für jeden Halt auch noch Stationsgebühren.

Verbände wie der Deutsche Bahnkunden-Verband oder Pro Bahn, aber auch Umweltorganisationen wie der BUND kritisieren die Benachteiligung des nachweislich deutlich umweltfreundlicheren Verkehrsmittels schon seit Langem – bislang vergebens. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hat im April zwar angekündigt, die Mehrwertsteuer für Bahntickets wenigstens auf den ermäßigten Satz von sieben Prozent senken zu wollen. Passiert ist das bislang allerdings nicht.

Immerhin. Auf europäischer Ebene tut sich was. Dort hat sich die parteiübergreifende Bewegung „Back on track“ (Auf dem richtige Weg) formiert, die sich insbesondere für den Erhalt der Nachtzüge in der EU einsetzt. Ihr erster Erfolg: Im Februar vorigen Jahres fand im Europa-Parlament eine Konferenz zum Nachtzugverkehr statt. Das Interesse war groß. Mehr als 60 Experten waren nach Brüssel gekommen. Dort wurde auch deutlich: Es geht nicht allein um Geld. Auch die Bahninfrastruktur entspricht in vielen EU-Ländern nicht mehr den aktuellen Anforderungen, vor allem die Bahnknoten behindern einen Ausbau des umweltfreundlichen Angebots auf der Schiene. „Das Problem mit den Trassen ist nicht die Fahrt durch die Nacht, sondern die Ankunft am nächsten Morgen“, wird Libor Lochmann, Cheflobbyist der europäischen Eisenbahnen, zitiert.

Nicht zu vergessen: Die noch immer weitgehend nationalstaatliche Begrenztheit der Eisenbahnverkehrssysteme. Bevor ein Zug grenzüberschreitend fahren kann, bedarf es oft jahrelanger Abstimmungs- und Genehmigungsprozesse. Und wer mit dem Zug etwa bis nach Portugal oder Rumänien fahren will, kommt ohne die Hilfe von speziell qualifizierten Reisebüros wie der Bahnagentur Schöneberg (www.bahnagentur-schoeneberg.de) oder Kopfbahnhof (www.kopfbahnhof.info) nicht aus.

Matthias Gastel, Verkehrsexperte der Grünen im Bundestag, setzt sich seit Langem für eine Renaissance des Nachtzugs ein. Gemeinsam mit seinen Parteifreunden Cem Özdemir, Michael Cramer und Franziska Brantner hat er im Mai eine Initiative für ein europäisches Nachtzugnetz gestartet. „Wir wollen den Nachtzug in Europa wiederbeleben. Nicht aus Nostalgie, sondern weil ein modernes europäisches Nachtzugnetz eine attraktive Alternative zum europäischen Flugverkehr bieten kann.“ Dabei gehe es ihm nicht darum, wieder Nachtzüge zwischen Berlin und München fahren zu lassen. Die Strecke könne man im ICE in weniger als vier Stunden zurücklegen. Im Entfernungsbereich zwischen 1000 und 2000 Kilometer könne der Nachtzug jedoch seine Stärken voll ausspielen, sagt Gastel. Die Initiative fordert unter anderem mehr Investitionen der EU-Länder in den Ausbau und die Digitalisierung des Schienennetzes, eine Senkung der Mehrwertsteuer für Bahntickets und die komplette Streichung von Subventionen für den Luftverkehr.

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Der "Nightjet" verkehrt auch von Berlin nach Zürich. © ÖBB/Wegscheider | ÖBB/Wegscheider

Während die ÖBB sich derzeit darauf vorbereitet, etwa mit Verbindungen in die Niederlande und nach Schweden ihr Nachtzugnetz international weiter auszubauen, will die Deutsche Bahn an ihrer Haltung nichts ändern. Eine Bahnsprecherin verwies auf Nachfrage der Berliner Morgenpost auf die ICE und Intercity-Züge, die seit 2016 mit Sitzwagen auch nachts verkehren. Zudem würden die Angebote von Partnern wie der ÖBB unterstützt. Einerseits, „indem wir Triebfahrzeugführer und teilweise die Loks für die Züge stellen sowie die Trassen-, Stations- und Energienutzung organisieren“. Des Weiteren würde die Bahn klassische Nachtzugreisen der Partnerbahnen über ihre Vertriebskanäle mit anbieten. Ein eigenes Angebot mit Schlaf- und Liegewagen sei derzeit nicht geplant, teilte die Bahn auf Nachfragte mit.

Von Berlin nach Wien, Budapest, Paris oder Moskau

Einst galt die Fahrt im Nachtzug als exklusivste Form des Reisens. Legendär war der Orient-Express. Der aus Schlaf- und Speisewagen zusammengesetzter Luxuszug der Compagnie Internationale des Wagons-Lits (CIWL) verkehrte zwischen Paris und Istanbul und fand dank Agatha Christie sogar Eingang in die Weltliteratur. Doch in den 60er-Jahren war Schluss. Das Auto und später das Flugzeug verdrängten in Europa die Eisenbahn als Verkehrsmittel für Fernreisen.

Spätestens seit dem Ausstieg der Deutschen Bahn führt der klassische Nachtzugverkehr mit Schlaf- und Liegewagen in Deutschland ein Nischendasein. Dennoch gibt es auch heute noch einige attraktive Verbindungen. Das sind die Angebote der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), die Ende 2016 nicht nur ein Großteil des Wagenmaterials, sondern auch einige Nachtzug-Strecken von der Deutschen Bahn übernommen hat. Die Züge fahren unter dem Markennamen Nightjet mit Schlaf-, Liege- und Sitzwagen, zum Beispiel täglich zwischen Berlin und Zürich. Abfahrt des NJ 471 regulär um 20.56 Uhr im Berlin Ostbahnhof, Zwischenstopps werde unter anderem in Potsdam, Frankfurt am Main, Mannheim, Karlsruhe und Basel eingelegt. Planmäßige Ankunft in Zürich ist um 9.05 Uhr. In der Gegenrichtung fährt der NJ 470 um 20 Uhr in Zürich ab und trifft am nächsten Morgen um 7.54 Uhr am Berliner Hauptbahnhof ein. Zum letzten Fahrplanwechsel im Dezember 2018 belebte die ÖBB auch den Nachtzug zwischen Berlin und Wien wieder. Die Fahrt des NJ 457 beginnt in Berlin-Charlottenburg 18.22 Uhr, Ankunft in Wien ist planmäßig am nächsten Tag um 7 Uhr. Der Zug ist eine Kooperation mit der polnischen und der ungarischen Staatsbahn, daher gibt es Kurswagen, die bis nach Budapest oder nach Przemyśl bis an die Grenze zur Ukraine rollen.

Wer nach Norden will, kann auch in den Berlin Night Express einsteigen. Der Zug mit Sitz- und Liegewagen fährt um 19.25 Uhr im Berliner Hauptbahnhof ab, nutzt die Fährverbindung Sassnitz–Trelleborg und trifft um 7.30 Uhr in Malmö ein. Von dort fahren Schnellzüge weiter nach Schweden und Dänemark. Mehrmals in der Woche halten in Berlin zudem Züge der Russischen Eisenbahnen. Jeden Sonnabend und Montag etwa ein Express, der mit klimatisierten Sitz- und Schlafwagen von Berlin über Minsk nach Moskau fährt (in rund 22 Stunden). Auch der Zug, der Moskau mit Paris verbindet, macht Halt in Berlin. Dienstags Richtung Paris, freitags dann in die Gegenrichtung.