Stadtführungen

Mauerstreifzug - Berlins politischster Radweg

| Lesedauer: 9 Minuten
Katja Wallrafen
Der Grünen-Politiker Michael Cramer (rechts vorn) setzte sich für den Erhalt des Mauerwegs ein, heute führt er hier Touren.

Der Grünen-Politiker Michael Cramer (rechts vorn) setzte sich für den Erhalt des Mauerwegs ein, heute führt er hier Touren.

Foto: Foto: Maurizio Gambarini

Klima, Landschaft, deutsch-deutsche Geschichte: Der Mauerstreifzug mit dem Grünen-Politiker Michael Cramer ist so schön wie informativ.

Berlin. Der Mann ist Überzeugungstäter. Seit 1979 ist Michael Cramer in Berlin autofrei unterwegs. Fahrrad, Bus, Bahn und Taxi bringen ihn überall hin. Carsharing gab es damals so gut wie nicht und wenn, dann sehr umständlich, das war keine Alternative. Hat er sein autoloses Leben je als Verlust wahrgenommen? „Im Gegenteil – als befreiend“, sagt Michael Cramer.

Seine Mission: Ökologisch verträgliche Mobilität, das Zusammendenken von Verkehr und Klima. Zudem die Erinnerung an die Grenze wachzuhalten, die Europa drei Jahrzehnte lang teilte. In Berlin ebenso wie im Böhmerwald, einer Bergkette an der tschechisch-deutsch-österreichischen Grenze, oder an der Barentssee zwischen Finnland und Russland.

In Berlin lädt der 70-jährige „Fahrradprediger“ – so in einem Porträt einer bayerischen Tageszeitung getauft – im Sommer zu „Mauerstreifzügen“ ein. Von Mai bis September fährt er mit Interessierten Etappen des Mauerradwegs entlang. Um 14 Uhr geht es los, eine Anmeldung ist nicht erforderlich, kostenfrei ist das Angebot zudem. Wir haben uns am 15. Juni, am Vortag seines 70. Geburtstages, angeschlossen und sind den Mauerradweg vom S-Bahnhof Adlershof bis zum S-Bahnhof Lichterfelde Süd mitgefahren.

Wüstes Klingeln der Tram, wildes Hupen der Autos

Eigentlich eine gemütliche Angelegenheit mit vielen informativen Stopps, doch der Start gestaltet sich etwas stressig: Die zirka 50- bis 60-köpfige Radfahrergruppe schafft es nicht, komplett beim Grün der Ampel vom Bahnhofsvorplatz auf die gegenüberliegende Straßenseite zu wechseln. Wüstes Klingeln der Tram, wildes Hupen der Autos – in diesem Moment wird deutlich, dass bei der Mobilitätsentwicklung dieser Stadt noch viel Luft nach oben ist. Die große Frage: Wie schafft man Platz für die steigende Zahl der Radfahrer? Wird es eine Politik geben, die vielleicht sogar dem Auto weniger Platz einräumt? Beim Losfahren jedenfalls überwiegt ein skeptisches Gefühl.

Wir fahren an der Rudower Chaussee entlang. Vorbei am Audi-Zentrum, am Porsche-Zentrum und dem gläsernen Smart-Turm, bevor wie auf den Mauerradweg einbiegen. Michael Cramer stoppt auf der Brücke über den Teltowkanal und zeigt auf das Kraftwerk westlich der Autobahnbrücke. „Eines der ersten Biomasse-Kraftwerke der Stadt. Es erzeugt aus dem nachwachsenden Rohstoff Holz umweltfreundlich Wärme und Strom für 19.000 Haushalte der Gropiusstadt. Möglich wurde das Projekt durch das Erneuerbare-Energie-Gesetz der rot-grünen Bundesregierung“, erläutert Cramer.

Unterwegs wird eingekehrt

Für den Radweg neben der Autobahnbrücke hat Cramer sich in Brüssel eingesetzt. Er war von 2004 bis zum Ende der Legislaturperiode in diesem Jahr Mitglied im Europäischen Parlament. 15 Jahre saß Cramer für die Grünen in Brüssel und Straßburg, zweieinhalb Jahre lang leitete er den Verkehrsausschuss. Davor zählte er zu den Spontis im Berliner Abgeordnetenhaus. Dort hat er sich damals für den Mauerweg eingesetzt. Es war harte Arbeit, den Senat und die andere Parteien von der Bedeutung des geschichtsträchtigen Weges zu überzeugen. In dieser Zeit entstand die grüne Idee der „Mauerstreifzüge“.

Gefahren werden entspannte 20 Kilometer, eine Tour dauert in der Regel vier Stunden, unterwegs wird eingekehrt. Ein kleiner Kreis von Getreuen ist von Anbeginn dabei. Bei unserer Tour, an einem schwülen Sommertag mit 33 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit fahren Familien mit ihren Kindern mit, ein Paar aus Lichtenberg, das „den Westen“ besser kennenlernen will, Touristen aus Österreich und Nordrhein-Westfalen.

„Ein Stück des historischen Monstrums stehen lassen“

„Der Mauer-Radweg macht Berliner Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar“, sagt Michael Cramer. Zum Beispiel zwischen Rudow und Altglienicke, wo ein 364 Meter langes zusammenhängendes Stück der sogenannten Hinterlandmauer am Originalstandort zu sehen ist. Dieser Mauerrest schlängelt sich um einen Kiesteich und steht unter Denkmalschutz.

Michael Cramer erinnert daran, dass der Umgang mit der Mauer damals die Gemüter bewegte. Viele wollten, dass sie schnell verschwindet. Einzelpersonen, Vertreter von Denkmalschutzbehörden und Bürgerinitiativen setzen sich für einen würdigen Umgang ein. Auch Willy Brandt, Regierender Bürgermeister in Berlin zur Zeit des Mauerbaus (1957-1966), regte am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus an, „ein Stück von jenem scheußlichen Bauwerk als Erinnerung an ein historisches Monstrum stehen zu lassen“.

Limousin-Rinder auf schönen Wiesen

Beim nächsten Stopp erfährt die Radlergruppe, dass im November 1996 alle 20 Straßen und Plätze in der Gartenstadt Rudow nach Frauen benannt wurden. Die damalige Frauenbeauftragte in Neukölln, Renate Bremmert, setzte sich dafür, das erste Frauenviertel in Deutschland entstehen zu lassen: Die Sozialreformerin und Gründerin des Müttergenesungswerks Elly Heuss-Knapp, die Spandauer CDU-Politikerin Lieselotte Berger, oder die SPD-Politikerin Helene Wessel (eine der „Mütter des Grundgesetzes“) zählen zu den Namensgeberinnen. Damals mussten Renate Bremmert und ihre Mitstreiterinnen hartnäckig Überzeugungsarbeit leisten – Skeptiker zweifelten, ob es überhaupt weibliche Persönlichkeiten gäbe, die sich als Namenspatroninnen eignen.

Dann wird es idyllisch. Wir passieren den „Milchhof Mendler“, einen der letzten landwirtschaftlichen Betriebe Neuköllns. Einst als „Abmelkbetrieb“ in einem Hinterhof in Schöneberg betrieben, musste der Hof 1982 der Stadtsanierung weichen. Für die Mendlers ging es an den Stadtrand nach Rudow, direkt an die Grenze. Heute genießen sie den freien Blick, lassen Limousin-Rinder auf den schönen Wiesen gedeihen und sorgen mit ihrem Hofladen für ländliches Flair am Rande der Großstadt. Vom ehemaligen Grenzstreifen an dieser Stelle künden allein die alten DDR-Peitschenlampen, unter denen wir strampeln. Dass im ehemaligen Grenzstreifen heute Kinder sich auf einem Ponyhof amüsieren, freut Michael Cramer.

Cramer hat den „Radweg Eiserner Vorhang“ initiiert

Der Politiker macht diese Tour, um an die Erinnerung an die Grenze wachzuhalten. Schon zu Zeiten der deutschen Teilung glaubte er immer an die Überwindung der Spaltung zwischen Ost und West, aber auch der Diktaturen in Europa. Als Verkehrspolitiker will Cramer Wege bereiten und Verbindungen schaffen – über physische wie ideelle Grenzen. „Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Wir haben die Teilung noch erlebt, deshalb müssen wir den jetzigen Generationen davon erzählen“, sagt er.

Nicht allein in Berlin, sondern auch in Europa. Beeindruckendes Zeugnis von Michael Cramers Leistungen ist der „Europa-Radweg Eiserner Vorhang“. Nach dem Vorbild des von ihm initiierten und konzipierten Mauerradwegs verbindet der „Iron Curtain Trail“ 20 Länder, von denen heute 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind. Viele der angrenzenden Länder arbeiten gemeinsam an seinem Ausbau. Seiner Beharrlichkeit ist es zu verdanken, dass die EU den 10.000 Kilometer langen Radweg fördert. Cramer wurde für sein Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

„Der einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist“

Von Europa zurück ins Hier und Jetzt auf dem Mauerradweg. Denn es gilt, sich zu konzentrieren. Auf einigen Teilstrecken ist er nicht wirklich leicht zu befahren. Wie auf vielen Radwegen in der Stadt haben sich Wurzeln ausgebreitet und für Dellen gesorgt. Manchmal ist es holprig. Frage an Michael Cramer: Wie geht das mit der Zuversicht? Er antwortet mit Theodor Heuss: „Der einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist.“

Cramer hat sich schon immer auch über kleine Erfolge gefreut. Als gebürtiger Westfale bringt er zudem eine gehörige Portion Sturheit mit. „Außerdem war ich Lehrer. Das heißt, wer die Wiederholung nicht mag, ist im falschen Job. Das gilt auch für Politik.“ Sein Mantra: „Ohne eine Veränderung der Mobilität werden wir den Klimawandel nicht bekämpfen können.“

Mit dem Rad rund um den Westen Berlins

Die Tour von Adlershof führt weiter in Richtung Mahlow. Man radelt durch einen kleinen Birkenwald, später vorbei am Naturpark Marienfelde, wo Kammmolch, Knoblauchkröte, Blutströpfchen oder Mäuseschwänzchen zu Hause sind. Traumschön ist der Mauerradweg entlang der Marienfelder Feldmark, die ökologisch so wertvoll ist.

Informationen zu den nächsten „Mauerstreifzügen“: www.michael-cramer.eu

Der Berliner Mauerweg verläuft über rund 160 Kilometer auf der Strecke der ehemaligen DDR-Grenzanlagen rund um West-Berlin. In den meisten Abschnitten liegt die Rad- und Wanderroute auf dem ehemaligen Zollweg (West-Berlin) oder auf dem so genannten Kolonnenweg, den die DDR-Grenztruppen für ihre Kontrollfahrten angelegt hatten. Es ist ein Weg der Kontraste: In der Innenstadt verläuft der Weg durchs längst wiedervereinte Herz Berlins, es gibt historisch interessante Abschnitte, in denen sich noch Mauerreste oder Mauerspuren finden lassen – und am Stadtrand viele landschaftlich reizvolle Strecken.

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