Berlin. Im Fall Amri arbeiteten die Behörden aneinander vorbei. Der Verfassungsschutz verschwieg V-Leute, die hätten helfen können.

Er verkehrte in der radikalsten deutschen Islamisten-Zelle, studierte Bombenbauanleitungen im Internet und prahlte damit, für einen Terroranschlag Kalaschnikows besorgen zu können. Ja, man könnte sagen, dass Anis Amri mindestens zu Beginn seiner Dschihadisten-Laufbahn wenig konspirativ agierte. Die Sicherheitsbehörden hatten den damals 23 Jahre alten Tunesier denn auch spätestens ab Anfang 2016 auf dem Radar. Ab Frühjahr hörten Polizei und Staatsanwaltschaft seine Telefonate ab und observierten ihn. Sie fuhren das volle Programm. Doch ab Sommer 2016 stockten die Ermittlungen. Die Beamten des Berliner Landeskriminalamtes (LKA) bemerkten, dass Amri ins Drogen-Milieu abrutschte. Hinweise auf Terrorplanungen fanden sie dagegen nicht.

Weil es diese Hinweise nicht mehr gab? Oder weil Amri nun konspirativer agierte und den Polizisten der Zugang fehlte, der die Informationen offenbart hätte? Die deutsche Sicherheitsarchitektur ist für den Fall, dass eine nicht mehr weiter weiß, eigentlich gut gerüstet. Jedenfalls auf dem Papier. Als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington wurde 2004 das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum, kurz GTAZ, etabliert. Hier sollen Polizei und Verfassungsschutzbehörden aus Bund und Ländern ihre Maßnahmen koordinieren. Sie sollen an einem Strang ziehen. Sie sollen sich helfen.

Verfassungsschutz hat V-Mann in der Fussilet-Moschee

Aber funktioniert das System auch? Ein Blick auf die Rolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) im Fall Amri: Der Nachrichtendienst hatte schon Jahre, bevor Amri im Jahr 2015 als Flüchtling nach Deutschland einreiste, eine Vertrauensperson (V-Mann) in die dschihadistische Fussilet-Moschee im Berliner Ortsteil Moabit eingeschleust. Hier verkehrte auch Anis Amri. Hier nächtigte er gelegentlich. Hier hielt er sich noch eine Stunde vor seiner Todesfahrt auf dem Breitscheidplatz auf.

Das BfV hätte den Kollegen des Berliner LKA also helfen können. Der V-Mann-Führer des BfV hätte versuchen könne, den informellen Zuträger aus der Fussilet-Moschee an Amri heranzuspielen. Halte die Augen auf! Versuche, Kontakt aufzunehmen! Versuche herauszufinden, was den Berliner Polizisten entgangen sein könnte!

Doch das Bundesamt verzichtete. Die Nachrichtendienstler zeigten ihrer Quelle zwar ein Foto von Amri. Als der informelle Mitarbeiter den Tunesier nicht auf Anhieb erkannte, beließen sie es aber dabei. Die Existenz ihrer Quelle behielten sie für sich. Kein Wort zu niemandem. Auch nicht zum Berliner LKA.

Unerklärlich sei das gewesen, monierte jüngst der Berliner LKA-Chef Christian Steiof im Amri-Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses. Das BfV habe schließlich gewusst, dass das LKA Amri über fast ein Jahr lang im Fokus gehabt habe. Trotzdem habe der Nachrichtendienst das LKA erst im Nachhinein, nach dem Anschlag also, über ihren V-Mann informiert – und auch nur deswegen, um das LKA aufzufordern, den Zuträger bei ihren Ermittlungen möglichst nicht zu behelligen. Quellenschutz über alles. Das war die Devise.

Berliner Amt hält sich mit Hilfsangeboten zurück

Selbst innerhalb des Bundeslandes Berlin existierte die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden nur auf dem Papier. Denn auch der Berliner Verfassungsschutz führte Vertrauenspersonen, die in der Fussilet-Moschee verkehrten. Auch sie hätten also womöglich Zugang zu Amri finden können. Doch auch der Berliner Nachrichtendienst hielt sich mit Hilfsangeboten zurück. Behördeninterne Dokumente zeigen, dass die Berliner Verfassungsschützer ihren Vertrauenspersonen – im Februar und im April 2016 – zwar Lichtbilder von Anis Amri zeigten. Als das Ergebnis negativ ausfiel, gaben sie sich damit aber ebenso zufrieden wie die Mitarbeiter des BfV.

Dabei hätte eine sogenannte „Quelle in Erprobung“ womöglich doch Informationen zu Amri liefern können. Dem Vernehmen nach gehörte sie zwar nicht zum innersten Zirkel der Fussilet-Moschee. Als dem V-Mann Fotos von Stammgästen des Dschihadisten-Treffs gezeigt wurden, erkannte er diese aber. Mehr noch: Die Quelle gab den Nachrichtendienstlern sogar Hinweise zu den Aufenthaltsorten der Islamisten. In einem Vermerk vom 24. Dezember 2016, den Reporter der Berliner Morgenpost, des Rundfunk Berlin-Brandenburg und des ARD-Magazins „Kontraste“ einsehen konnten, heißt es, dass der V-Mann eine der Führungsfiguren des Dschihadisten-Treffs „aus Besuchen der Fussilet-Moschee“ kenne.

Warum aber verzichtete der Berliner Verfassungsschutz darauf, die „Quelle in Erprobung“ an Amri heranzuspielen? Die Senatsinnenverwaltung, in deren Zuständigkeit der Verfassungsschutz fällt, teilte mit, dass man sich zu „operativen Maßnahmen“ nicht äußere. Woran lag es also? War es Nachlässigkeit? Oder eine bewusste Entscheidung, die Kollegen des LKA im Regen stehen zu lassen?

Vermutlich war es komplizierter. Denn einen V-Mann auf eine Zielperson anzusetzen, birgt Risiken. Ein plumper Versuch der Kontaktaufnahme kann dazu führen, dass die Quelle auffliegt. Schwierig ist das Heranspielen vor allem, wenn ein V-Mann wegen seiner Herkunft oder seines Alters oder anderer Eigenschaften für eine Kontaktaufnahme eher ungeeignet erscheint. Das Risiko einer Kontaktanbahnung war also zu groß – die Erfolgsaussichten zu gering. Das wäre die eine mögliche Begründung.

Die andere lautet: In den Sicherheitsbehörden gibt es ein Mentalitätsproblem. Kritische Geister der Ämter berichten, dass bei Polizei und Verfassungsschutz mitunter ein fragwürdiges Verständnis des Prinzips der Arbeitsteilung und des sogenannten Trennungsgebotes herrsche. Jeder macht seins. Das sei allzu oft die Arbeitsmaxime. Polizisten würden sich Einmischungen anderer Behörden verbitten und seien zu stolz, um Hilfe zu bitten. Verfassungsschützer würden Erkenntnisse von Vertrauenspersonen niemals aus eigener Initiative offenbaren, weil sie den Quellenschutz über alle stellten. Mögliche Folge: Die Anti-Terror-Fahnder der Landeskriminalämter ermitteln sich in eine Sackgasse – und Erkenntnisse von Vertrauenspersonen vergammeln zwischen Aktendeckeln. „Arbeiten für den Panzerschrank“: Bis zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz sei das bei den Nachrichtendiensten mitunter das unausgesprochene Arbeitsmotto gewesen.

Jeder macht seins. So arbeiteten Polizeibehörden und Verfassungsschutzämter auch im Fall des rechtsextremen Terrortrios „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Die Folgen sind bekannt. Haben die Sicherheitsbehörden daraus keine Konsequenzen gezogen?

Grüne kritisieren mangelnde Kooperation

Es ist ein großes Versäumnis, dass der Verfassungsschutz vorhandene Quellen nicht genutzt hat, um aktiv nähere Informationen zu Amri zu gewinnen“, sagt die Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic (Grüne), die Mitglied des Untersuchungsausschusses des Bundestags zum Fall Amri ist. Es stelle sich die Frage, „warum man das Instrument V-Leute hat und es nicht nutzt wenn es drauf ankommt.“ Auch der Berliner Abgeordnete Benedikt Lux (Grüne) moniert eine mangelhafte Zusammenarbeit. Die „fahrlässige Einschätzung“ zu Amris Gefährlichkeit und eine „mangelnde Kooperation“ hätten dazu geführt, dass nicht Alles unternommen worden sei, um den Anschlag zu verhindern.

Die Linke sieht sich in ihren grundsätzlichen Zweifeln am V-Leute-Wesen bestätigt. „Es heißt immer, dass V-Leute wichtig seien, um mögliche Terroristen zu erkennen“, sagte Niklas Schrader, für die Linke im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhaus. Im Fall Amri hätten V-Leute diese Informationen aber offenkundig nicht geliefert. Wenn man sich vergegenwärtige, dass der Staat den unter Extremisten angeworbenen V-Leuten mitunter viel Geld bezahle, zeige dies, dass der Einsatz von V-Leuten ganz grundsätzlich problematisch sei.

Die Sicherheitsbehörden halten die informellen Zuträger indes für unverzichtbar. Hätte es im Führungszirkel der Fussilet-Moschee einen V-Mann gegeben, hätte dieser auch Informationen über Anis Amri liefern können, heißt es. Leider habe man dort aber keine Top-Quelle platzieren können. Der harte Kern der Dschihadisten-Moschee sei einfach zu abgeschottet gewesen.

V-Leute, die die wirklich gefährlichen Zielpersonen nicht erreichen konnten, und Sicherheitsbehörden, die nebeneinander her arbeiteten: Profitieren konnte davon nur einer: Anis Amri.

Ende 2016 intensivierte er den Kontakt zur Terrormiliz „Islamischer Staat“. Die Behörden bekamen davon nichts mit. Dann schlug Amri zu. Am 19. Dezember 2016 tötete er erst den Fahrer eines Lkw, dann fuhr er mit dem Laster über den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz. Zwölf Menschen starben, mehr als 60 weitere wurden verletzt.