Canisius-Kolleg

Missbrauchsopfer fordert Einblick in Akten und Namensnennung

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Uta Keseling
Matthias Katsch, Sprecher der Betroffenenvertretung Eckiger Tisch.

Matthias Katsch, Sprecher der Betroffenenvertretung Eckiger Tisch.

Foto: Foto: Arne Dedert / picture alliance/dpa

Missbrauch: Warum die Aufarbeitung noch nicht zu Ende ist, erklärt Matthias Katsch, Sprecher der Berliner Betroffenenvertretung Eckiger Tisch.

Matthias Katsch gehörte zu den zahlreichen Schülern, die in den 80er-Jahren von mindestens zwei Jesuiten-Patres am Berliner Canisius-Kolleg sexuell missbraucht wurden. Er ist Mitgründer und Sprecher der Betroffenenvertretung Eckiger Tisch, engagiert sich heute in zahlreichen Gremien für die Belange der Opfer und die Aufarbeitung.

Herr Katsch, der Papst hat im Februar seine Kirchenoberen zum Sondergipfel einberufen, Thema: sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Waren Sie auch zum Gipfel eingeladen?

Matthias Katsch Nein, aber wir waren da. Wir sind mit etwa 40 Betroffenen aus über 20 Ländern rund um den Petersdom unterwegs gewesen und haben zahlreichen Medien unsere Sicht geschildert. Immerhin hat man uns am Zaun des Petersplatzes nicht weggeschickt – so wurden wir von aller Welt gesehen und gehört.

Hatten Sie es anders erwartet?

Ich kritisiere nicht, dass man bei einer solchen Veranstaltung eine Auswahl treffen muss. Aber dass man kein Format findet, um zumindest einen Meinungsaustausch zu ermöglichen, kann ich nicht nachvollziehen. Stattdessen hat man drinnen per Video anonyme Statements einzelner Betroffener gezeigt. Es war ganz offensichtlich, dass man kein Interesse an Menschen wie uns hatte, die nicht nur ihre Opfergeschichten erzählen wollten, sondern mit konkreten Themen und Forderungen kamen.

Trotzdem haben Sie hinterher gesagt, dieser Gipfel sei auch ein Erfolg gewesen.

Ja, es war schon ein Erfolg, dass dieser „Krisen“-Gipfel, wie wir ihn genannt haben, überhaupt stattfand. Zum ersten Mal sah man, dass man es nicht mit nationalen Einzelfällen zu tun hat, sondern dass der Missbrauch ein weltweites Problem der katholischen Kirche ist. Dass es soweit kam, ist auch ein Erfolg der Betroffenenbewegungen weltweit.

Inwiefern?

2018 gab es nacheinander in Chile, den USA und Irland große Missbrauchsdebatten. Auf hartnäckigen Druck der Betroffenen sind in diesen Ländern Verbrechen aufgedeckt worden. Im Herbst stellte die katholische Kirche in Deutschland eine eigene Studie vor, die erstmals Zahlen nannte. Demnach haben nach Schätzungen etwa fünf Prozent der untersuchten katholischen Priester in Deutschland vermutlich Kinder missbraucht. Erst danach war man in der deutschen Bischofskonferenz erstmals so weit, nicht nur auf Einzeltäter zu verweisen, sondern einzuräumen: Wir haben als Struktur versagt. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse hat der Papst dann den Krisengipfel in Rom anberaumt. Leider ist dabei überhaupt nichts Konkretes herausgekommen.

Unter anderem will die Kirche jetzt mit den Staatsanwaltschaften zusammenarbeiten. Ist das nicht ein Fortschritt?

Nein, das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Ich dachte, dass macht die Kirche längst. Auch die 21 Punkte, die zum Auftakt der Beratungen vorgestellt wurden, waren Dinge, die schon seit Jahren angekündigt werden und die es in manchen Ländern längst gibt. Zum Beispiel unabhängige Anlaufstellen für Betroffene. Aus meiner Sicht war dieser Gipfel eine vertane Chance. Die Kirche und insbesondere der Papst hätten die Gelegenheit gehabt, den vielen guten Worten, die wir gerade auch von ihm seit vielen Monaten hören, Taten folgen zu lassen.

Was fordern Sie, also die Betroffenen?

Ein wichtiger Schritt wäre zum Beispiel, das sogenannte päpstliche Geheimnis abzuschaffen, nach dem Missbrauchstaten katholischer Geistlicher in kirchlichen Verfahren geheim gehalten werden müssen. Der deutsche Kardinal Reinhard Marx hat dies vorgeschlagen. Man muss klarstellen, dass dieses Geheimnis gar nicht für solche Fälle gedacht ist. Sicher, jedes Unternehmen kennt das Betriebsgeheimnis, das kann auch die Kirche beanspruchen. Aber bei der Aufklärung und Aufarbeitung von Missbrauch und dessen systematischer Vertuschung geht es ja um Verbrechen von Mitarbeitern. Wir fordern, die Zusammenarbeit mit den Behörden ausdrücklich im Kirchenrecht festzuschreiben – bis heute ist dies allein in den USA der Fall. Für andere Länder gilt: Es wird erstmal selbst geschaut. In diesen innerkirchlichen Prozessen fehlt jede Transparenz.

Sie fordern auch eine Verschärfung der Strafen durch die Kirchen.

Für Strafen ist der Staat zuständig. Das, was die Kirche an Sanktionen verhängt, ist ja eher symbolisch. Aber es geht um Kinderschutz: Ein Priester, der nach Überzeugung eines weltlichen Gerichts oder einer kirchlichen Instanz ein Kind missbraucht hat, darf aus unserer Sicht nicht länger Priester sein. Und eigentlich noch wichtiger: Dasselbe sollte für die Vorgesetzten gelten. Wer solche Taten als Bischof vertuscht hat, sollte keine Leitungsfunktion in der Kirche mehr haben. Das ist Null-Toleranz. Aber auch das steht nicht im Kirchenrecht.

Gibt es überhaupt einen Paragrafen zu sexueller Gewalt im Kirchenrecht?

Sexuelle Gewalt wird nach diesem Rechtssystem nicht als Tat gegen das Kind oder den Jugendlichen begriffen – sondern gilt nur als Verfehlung des Klerikers gegen seine Pflichten, hier also gegen den Zölibat. Es wird als Verstoß gegen das sechste Gebot betrachtet: „Du sollst nicht die Ehe brechen“. Das hat mit dazu beigetragen, die Taten zu relativieren. Wenn gleichgesetzt wird, ob ich als Kleriker eine Affäre mit einem Erwachsenen habe oder einem Kind sexuelle Gewalt antue, führt das zu genau dieser Täterschutzhaltung, die man in der Kirche beklagt. Wir erwarten, dass auch im Kirchenrecht das Opfer in den Mittelpunkt gestellt wird. Dass das nicht der Fall ist, damit haben wir ja auch in Berlin leidliche Erfahrung gemacht im Prozess gegen den ehemaligen Jesuitenpater des Canisius-Kollegs, Peter R.

Was hat das im Prozess gegen R. für Sie bedeutet?

In kirchenrechtlichen Verfahren ist man als Opfer nur ein rechteloser Zeuge. Wir fordern, dass man zum Beispiel als Nebenkläger am Verfahren teilnehmen kann, und dass man damit auch beispielsweise Schadensersatzklagen verbinden kann. Es muss für Opfer einen eigenen Status geben. All das ist in unserem Rechtssystem selbstverständlich. Ich verstehe nicht, warum die Kirche das nicht längst auch umsetzt

Erst im vergangenen Dezember hat es ja erstmals ein Urteil gegen Peter R. gegeben, das sich auf dessen Taten am Canisius-Kolleg in den 80er-Jahren bezieht. Was steht darin?

Leider ist das Urteil vom Vatikan noch nicht veröffentlicht und deswegen auch noch nicht wirksam. Wir warten darauf, dass dies nun endlich erfolgt. Man weiß also nur, dass es ein Urteil gibt – er soll aus dem Priesterstand entlassen werden, was sich auch auf seine Pension auswirken würde.

Warum hat es so lange gedauert, bis dieses Urteil fiel?

Die Gründe liegen in genau diesem Verhalten der katholischen Kirche – Dinge zu verschweigen und zu vertuschen. Die Taten in Berlin liegen Jahrzehnte zurück. Danach gab es jedoch immer wieder Meldungen über neuerliche Übergriffe in Pfarrgemeinden im Bistum Hildesheim, wohin man R. damals versetzt hatte – das allerdings, ohne die dortigen Gemeinden über den Verdacht zu informieren, den es in Berlin gegeben hatte.

Erst ab 2010 kam es zu Ermittlungen. 2013 erging ein erstes Urteil gegen R. Darin ging es um sexuelle Gewalt gegen ein Mädchen während R.’s Zeit in Hildesheim. Das Urteil von 2013 stellte wiederum den Zusammenhang zu früheren Fällen am Canisius-Kolleg nicht her, was ein Fehler war. Dies ist nun erstmals geschehen. Und wir hätten es nicht erreicht, wenn die Betroffenen nicht so hartnäckig darauf gedrungen hätten, dass unsere Fälle nicht unter den Tisch fallen dürfen.

Sind damit Ihre Forderungen in der eigenen Sache erfüllt?

Nein. Nach wie vor ist unsere Schadensersatzklage in der Schwebe. Nachdem die Kirche die Verjährung aufgehoben hatte, haben wir versucht, in dem Verfahren als Nebenkläger aufzutreten. Nach Kirchenrecht ist das möglich – strafrechtlich waren die Taten auch 2010 ja schon verjährt. Jetzt heißt es auf einmal, diese Aufhebung betrifft nicht die Schadensersatzforderungen, sondern nur die Bestrafung. Das hat die Glaubenskongregation in Rom veranlasst. Wir appellieren dagegen in Rom. Wenn es dabei bliebe, wäre es ein weiterer Schlag ins Gesicht der Betroffenen.

Was muss als Nächstes passieren, um die Aufarbeitung voranzubringen?

In der Aufarbeitung unseres eigenen Falls sind wir sehr weit gekommen. Aber was mich ärgert, dass es in Berlin keine institutionelle Aufarbeitung des Canisius-Skandals gegeben hat – auch wenn das häufig angenommen wird. Es gab 2010 zwei Berichte der Beauftragten für die Aufarbeitung der Missbrauchstaten, doch sie haben auch nur Zahlen genannt zu Opfern und Beschuldigten. Der Schwerpunkt der Arbeit an der Schule lag dann zunächst auf der Prävention, was ja richtig ist. Aber es hat eben nie eine wissenschaftliche Aufarbeitung gegeben wie etwa nach dem Fall der Odenwaldschule.

Wie sollte eine systematische Aufarbeitung aussehen?

Zentrale Fragen sind bis heute offen: Wie waren die Taten am Canisius-Kolleg möglich, warum konnten sie über drei Jahrzehnte geschehen, was war davor? Auch hier ist es wichtig, dass die Untersuchenden direkten Zugang zu den Akten erhalten. Auch die Opfer sollten Einsicht nehmen können, wie man das bei den Stasi-Akten gemacht hat. Damit endlich Fälle genannt werden, Geschichten von Opfern und Namen von Verantwortlichen an den Stellen, wo Dinge vertuscht und Täter geschützt wurden.