Berlin. Heute will Michael Putzolu mehr sehen als einen einfachen Foxtrott. Eine Rumba steht auf dem Programm, jener lateinamerikanische Tanz, in dem Mann und Frau mit sinnlichem Hüftschwung und verschlungenen Drehungen umeinander werben. „Links seitwärts, Wiege, ran, rechts seitwärts, Wiege, ran“, kommandiert der 48 jahre alte Tanztrainer seinen Anfängerkurs und lässt den Blick über die sieben Paare im Saal gleiten. Dann eilt er zu Hans-Peter.
Der 56-Jährige ist mit beiger Strickjacke und Fußballsocken zum Tanzkurs in Grunewald gekommen. Putzolu legt seine Hände hinter Hans-Peter stehend auf dessen Schultern, ruft die Schrittfolge erneut in den Raum und schiebt Hans-Peter sanft in die Bewegung. Und noch einmal. Beim dritten Durchgang steht Putzolu vor seinem Schüler, legt dessen Hände auf seine Hüften und tanzt vor ihm stehend die Figur. Hans-Peter versucht sie zu erspüren - und im Anschluss mit seiner Tanzpartnerin Elke (52) umzusetzen.
Der Trainer beobachtet die beiden und rollt gespielt dramatisch mit den Augen. Zwar stimmt jetzt die Schrittfolge, aber es mangelt am Ausdruck. „Oh nein! Nicht so!“, tadelt er. „Ich weiß, wir sind ein freies Land. Aber trotzdem!“ Kopfschüttelnd dreht er sich zu den anderen Kursteilnehmern. Diese grinsen, froh darüber, dieses Mal selbst davongekommen zu sein.
Körpereinsatz ist gefragt
In den Tanzkursen an der Auerbachestraße ist vieles wie in einer gewöhnlichen Tanzschule. Die Tanzschüler stolpern und lachen und verzweifeln bisweilen an den komplizierten Figuren und an sich selbst. Der Lehrer korrigiert unerbittlich und verteilt so unterhaltsame wie freche Sprüche. Mehr als anderswo sind vom Coach allerdings Körpereinsatz und genaues Erklären gefordert. Denn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kurse sind überwiegend blind oder sehbehindert. In der Anfängergruppe ist gerade einmal ein Drittel sehend.
Blind tanzen - das ist für Sehende nur schwer vorstellbar. Jeder, der sich schon einmal als Vertrauensübung mit geschlossenen Augen in die Obhut eines anderen Menschen begeben hat, weiß, wieviel Mut das erfordert. Wie soll das erst gehen, wenn man den Raum, durch den man sich bewegen muss, nie zuvor gesehen hat? Wenn man sich nicht langsam vorwärts tasten soll, sondern mit Schwung den Saal erobern? Wenn das Sehvermögen des Menschen, mit dem man tanzt, womöglich ebenfalls beeinträchtigt oder gar nicht mehr vorhanden ist?
Im Vereinshaus des Allgemeinen Blinden- und Sehbehinderten Vereins gegr. 1874 (ABSV), in dessen Saal die Tanzgruppe trainiert, funktioniert das ohne Probleme. Scheinbar mühelos erkennen die Tanzenden, wo sich andere Paare bewegen und wo die Grenzen des Raumes sind. Zusammenstöße gibt es selbst beim freien Eintanzen kaum. „Es wird viel mit dem Schall gearbeitet“, erklärt Tanztrainer Putzolu. Wo die Musik herkommt, ist die Bühne: Dort hängen die Lautsprecherboxen. Nützlich ist auch die große Fensterfront, die die Spiegelwand ersetzt. Hier scheint viel Licht herein. Das hilft denen bei der Orientierung, die noch ein wenig sehen oder zumindest hell und dunkel unterscheiden können.
Ilona ist der „Joker“ im Kurs
Die Anfängergruppe, eine der vier Tanzgruppen des Berliner Blindentanzclubs im Berliner Blinden- und Sehbehindertensportverein von 1928 e.V. (BBSV), besteht seit zwei Jahren. Ilona, im violett gemusterten Oberteil, und André, mit schützender Sonnenbrille vor den Augen, bewegen sich souverän gemeinsam durch den Raum. Im Anschluss an den Anfängerkurs wollen sie noch bei den Fortgeschrittenen mittanzen.
„Sport war immer mein Ding, die Bewegung macht mir einfach Spaß“, sagt Ilona. Seit 1998 ist die 70-Jährige, die seit ihren Kindertagen sehbehindert ist, schon im Blindentanzclub dabei. Sie mag es, dass beim Tanzen nicht nur der Körper, sondern auch der Kopf herausgefordert wird. „Man muss mit den Gedanken voll dabei sein“, sagt sie.
Als junges Mädchen besuchte Ilona die Blindenschule in Königs Wusterhausen. Dort habe sie viel Leichtathletik trainiert, erzählt sie. Heute betreibt sie neben dem Tanzen Rehasport und Showdown, auch Blindentischtennis genannt. Sie sei der „Joker“ im Anfängerkurs, sagt sie und lächelt - weil sie trotz ihres nur dreiprozentigen Sehvermögens Walzer, Foxtrott und Cha Cha Cha spielend meistert.
Auch Monika und Reinhard sehen beide kaum noch etwas, was man ihren Bewegungen nicht anmerkt. Auf dem Parkett bewegen sie sich sogar deutlich sicherer als zuvor im Vorraum. Monika und Reinhard kommen seit zwei Jahren zum Tanzen in den Grunewald, üben manchmal auch bei sich zu Hause. In den Tanzpausen, wenn Trainer Michael Putzolu etwas erklärt, legt Reinhard liebevoll seinen Arm um Monikas Schultern. Später, als die Rumba auch endlich einmal zur Musik getanzt werden darf, verdreht sich das Paar gleich bei den ersten Takten komplett. „Monika und Reinhard waren zuerst fertig“, kommentiert Michael Putzolu trocken und für alle gut hörbar. Die beiden lachen. Das korrekte Tanzen ist das eine. Doch noch mehr zählt der Spaß an der Sache.
Die Hilfsbereitschaft ist groß
Tanzen ist eine integrative Sportart. „Ganz ohne Sehende ginge das Tanzen nicht. Es hilft sehr, wenn man einen sehenden, sicheren Partner hat“, erklärt Sabine Elsäßer. Sie ist so etwas wie die Seele des Tanzsports im BBSV. Selbst sehend, kam sie mit ihrem Ehemann Wilhelm vor mehr als 30 Jahren über blinde Freunde in die Tanzsportgruppe. Sabine Elsäßer ist Organisatorin und Ansprechpartnerin für Interessenten, und wie ihr Mann fungiert sie als Unterstützung in den insgesamt vier Tanzgruppen am Freitag.
Für die beiden ist der Tanzclub längst viel mehr als Musik und Bewegung. Hier trifft man Freunde. Zu ihnen gehört auch Coach Putzolu, der die Gruppen seit 19 Jahren trainiert. „Über die lange Zeit sind viele persönliche Freundschaften entstanden, unsere Kinder sind zusammen groß geworden“, sagt er. Hauptberuflich als Trainer für Turniertänzer und Wertungsrichter tätig, schätzt Putzolu, dass unter den blinden und sehbehinderten Hobbytänzern Hilfsbereitschaft statt Konkurrenz herrscht. „Hier heißt es sofort: ,Komm, ich zeig’ dir das mal’“, freut er sich. Dabei habe er sich am Anfang nicht vorstellen können, wie das gehen solle, blind zu tanzen. Auch nicht, wie man Blinden und Sehbehinderten Rumba und Tango am besten vermittelt. „Aber es hat mir gleich Spaß gemacht und mich mitgenommen.“ Auch er, der Tanzlehrer, hat viel gelernt. Statt vorzutanzen, sucht er als Trainer beim BBSV den Körperkontakt und lässt seine Schülerinnen und Schüler die Bewegungen „abfühlen“. „Oder ich tanze mit und beschreibe genau, was ich mache.“
Manchmal hilft beherztes Eingreifen am besten. Miliana ist über das Rumba-Training ins Schwitzen geraten. Trotz ihres luftigen grauen Spitzenpullis muss sie zum Taschentuch greifen, tupft sich die Stirn. Auch die Orientierung hat gelitten. Sie steht seitlich zu den Herren, die sich gegenüber von den Damen in einer Reihe aufstellen sollten. Michael Putzolu nähert sich Miliana, dreht sie wortlos in die richtige Richtung und drückt ihr aufmunternd die Schulter. Dann geht das Training weiter.
Blind geboren werden die wenigsten
In Berlin leben schätzungsweise 20.000 sehbehinderte und 6000 blinde Menschen. Immer weniger werden blind geboren - dafür sorgen die medizinischen Fortschritte, zum Beispiel die bessere Versorgung von Frühgeborenen. Es sind vor allem Unfälle, Krankheit und das Alter, die eine Beeinträchtigung beim Sehen oder den kompletten Verlust des Sehvermögens verursachen. Das bedeutet allerdings nicht den Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben.
„Blinde und sehbehinderte Menschen können in Berlin sehr gut daran teilhaben“, findet Paloma Rändel vom ABSV. Im öffentlichen Raum gebe es viele Hilfen zur Orientierung, etwa die Leitstreifen an Bahnsteigen, mit Profil- und Brailleschrift versehene Handläufe in Bahnhöfen und Ampelanlagen mit akustischen Signalen. Weitere Projekte laufen: So arbeite man mit der BVG an der Einführung von sprechenden Bussen und Trams, damit Menschen mit Sehproblemen an Haltestellen wissen, in welches Fahrzeug sie einsteigen müssen. Museen böten Führungen speziell für Blinde an. Der ABSV bietet Unterstützung, Begegnungsmöglichkeiten, Training und Beratung, auch zu Hilfsmitteln wie dem weißen Langstock und Führhunden.
Smartphones als Helfer im Alltag
Vieles geht dem Verein aber noch zu langsam. Zwar hat Berlin bereits im Jahr 2013 den „Access City Award“ der Europäischen Kommission erhalten, mit dem die Bemühungen von Städten für mehr Barrierefreiheit ausgezeichnet werden. Barrieren: Das sind dabei nicht nur Rampen und sonstige Stolperfallen. Wenn das Sehvermögen beeinträchtigt ist, sind auch Dokumente Barrieren. Zu tun gibt es also noch viel. „Eigentlich müssten alle Ampeln barrierefrei sein“, sagt Paloma Rändel. „Doch bei dem derzeitigen Tempo der Umrüstung wird Berlin in 100 Jahren noch nicht damit fertig sein.“ Sorgen bereitet ihr auch die Zunahme von Elektrofahrzeugen, die durch ihre Geräuscharmut eine große Gefahr darstellten, insbesondere für blinde und sehbehinderte Menschen. Sie plädiert dafür, dass alle Elektrofahrzeuge mit künstlichen Geräuschen ausgestattet werden.
In den meisten Fällen sorgen die technischen Fortschritte allerdings für Erleichterungen. Computer und Smartphones ermöglichen die mühelose Kommunikation zwischen Blinden und Sehenden. Blindenspezifische Apps auf Smartphones helfen bei der Orientierung. Die Anzahl der barrierefreien Websites, die mit Vorleseprogrammen funktionieren, steigt stetig an.
Zum Tanzen braucht es mehr als Augenlicht
Hans-Peter, der Tänzer mit den Fußballsocken, findet Berlin „für Blinde optimal“. Er lobt, dass es viele Freizeitangebote und Hilfestellungen gebe. „Ich stamme aus einem kleinen Dorf in Franken, da gibt es das alles nicht“, sagt er. In Berlin lebt er seit 1998. Dank seines Langstocks und der Pflege von Routinen findet er sich in der Großstadt gut zurecht. „Ich wohne seit 30 Jahren in derselben Wohnung in Neukölln. Da ist mir alles vertraut, allein einkaufen gehen kann ich auch.“ Müsse er mal in einen anderen Kiez, nutze er den VBB-Begleitservice.
Der 56-Jährige hat von Geburt an eine Netzhauterkrankung. Bis 2014 konnte er noch 50 Prozent sehen. Dann büßte er bei einer Operation als Nebenwirkung der Narkose fast sein ganzes Sehvermögen ein. Heute kann er nur noch hell und dunkel unterscheiden. Trotzdem leitet er noch eine kleine Künstleragentur und hat viele Hobbys: Dienstags geht es zum Blindentischtennis nach Steglitz, mittwochs zum Schwimmen nach Tempelhof und freitags zum Tanzen in den Grunewald.
Am liebsten tanzt Hans-Peter Cha Cha Cha, Tango und Walzer. Seine sehende Tanzpartnerin Elke mag alle lateinamerikanischen Tänze. Die Figuren der Rumba allerdings, die machen auch ihr zu schaffen - Augenlicht hin, Augenlicht her. „Ich versteh’ das einfach nicht“, sagt sie verzweifelt nach dem dritten Scheitern an der Drehung. Michael Putzolu läuft zu ihr und zeigt ihr nochmal die Schrittfolge. Währenddessen vertraut sich Hans-Peter Sabine Elsäßer an und überlässt ausnahmsweise der Dame die Führung. Auch wenn es mal an der Orientierung mangelt - seinen Humor verliert Hans-Peter nie. „Das Schlimmste ist“, scherzt er, „dass ich die hübschen Frauen im Tanzkurs nicht mehr sehen kann“.
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Mit „Und es wurde Licht“ ist gerade eine erstaunliche und berührende Geschichte über das Blindsein im Trinity Verlag erschienen. Kevin Coughlin aus New York beschreibt darin, wie er mit 36 Jahren wegen einer bis dahin nicht erkannten Erbkrankheit innerhalb von fünf Tagen erblindete. Der Schicksalsschlag bedeutet für Kevin den Abschied von einem weitgehend sorglosen, unabhängigen Leben und der Hobbyfotografie. Doch trotz aller Verzweiflung gibt er nicht auf. Kevin beginnt, sein Leben zu hinterfragen, sich neu zu organisieren und seine Einstellung zu ändern. Darüber gelingt es ihm auf fast wunderbare Weise, sich Teile seines Sehvermögens zurückzuerobern.
Kevin Coughlin und Traci Medford-Rosow: Und es wurde Licht. Eine Reise in die Dunkelheit - und zurück. Trinity, 18 Euro.