Sexueller Missbrauch

Am Canisius-Kolleg bricht das Schweigen langsam auf

| Lesedauer: 5 Minuten
Sabine Flatau
Am katholischen Canisius-Kolleg in Tiergarten wurden Schüler über Jahrzehnte sexuell missbraucht. Die Eliteschule bemüht sich um Aufklärung.

Am katholischen Canisius-Kolleg in Tiergarten wurden Schüler über Jahrzehnte sexuell missbraucht. Die Eliteschule bemüht sich um Aufklärung.

Foto: imago stock / imago/Jürgen Ritter

Schüler wurden am Canisius-Kolleg in Tiergarten von einem Geistlichen sexuell missbraucht. Rektor setzt jetzt auf Aufklärung und Prävention.

Berlin.  Das Canisius-Kolleg in Tiergarten geriet vor neun Jahren in die Schlagzeilen. Damals wurde bekannt, dass es in den 70er- und 80er-Jahren zu einer Vielzahl sexueller Übergriffe gekommen war. Lehrer hatten sich an Schülern vergangen. Im Januar 2010 berichtete die Berliner Morgenpost als erste Zeitung darüber.

Damals hatte sich der Rektor des Elite-Gymnasiums, Jesuitenpater Klaus Mertes, öffentlich zu den Vorfällen geäußert. Er wolle „die Mauer des Schweigens“ von Kirche und Schule brechen, sagte er. Die Übergriffe waren vom Orden jahrzehntelang vertuscht worden. Vorwürfe von Schülern wurden nicht ernst genommen. Weil sich immer mehr ehemalige Schüler an Rektor Mertes wandten, die in den 70er- und 80er-Jahren von Lehrern missbraucht und geschlagen worden waren, richtete er ein Schreiben an alle Schüler der betroffenen Jahrgänge.

Etwa 100 Betroffene meldeten sich bei Opferbeauftragten, Anwälten und Initiativen. Seit 2010 läuft die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. Als einer der Haupttäter wurde Pater Peter R. ermittelt. Er war bis Anfang der 80er-Jahre Leiter der außerschulischen Jugendarbeit am Canisius-Kolleg und soll sich in dieser Zeit an Dutzenden Schülern vergangen haben.

Viele Übergriffe gelten als verjährt

Doch laut Staatsanwaltschaft gelten diese Taten als verjährt. Der Geistliche war nach seiner Zeit im Canisius-Kolleg in das Bistum Hildesheim versetzt worden. Dort war er von 1983 bis 2003 tätig, ebenfalls im Jugendbereich. Auch in dieser Zeit soll es zu Übergriffen gekommen sein. 2016 nahm ein unabhängiges Institut im Auftrag des Bistums eine Untersuchung vor. In seinem Bericht aus dem Jahr 2017 listet es elf Fälle auf. Auch diese sind aus Sicht der Staatsanwaltschaft verjährt.

Ein weiterer Übergriff des Geistlichen ereignete sich 2010. Opfer war ein elfjähriges Mädchen, das den Pater in seiner Berliner Wohnung besuchte. Das Kirchengericht des Erzbistums Berlin verurteilte den Geistlichen 2013 zum lebenslangen Ausschluss vom Priesterdienst und zu einer Geldstrafe von 4000 Euro. Das Geld floss in den Kirchenfonds für Missbrauchsopfer.

Vatikan muss Urteil des Kirchengerichtes zustimmen

2018 wurde durch eine Fernseh-Dokumentation bekannt, dass auch chilenische Jugendliche zu den Missbrauchs-Opfern von Peter R. gehören. Im Herbst 2017 begann am Berliner Kirchengericht ein Verfahren gegen ihn, in dem es um die Vorfälle am Canisius-Kolleg ging. Im Dezember 2018 erließ das Gericht ein Urteil. Das Strafmaß wurde noch nicht öffentlich bekannt. Auch die Zustimmung des Vatikans zum Urteil ist erforderlich.

Unter den Opfern des Missbrauchs war Matthias Katsch, der das Canisius-Kolleg von 1973 bis 1981 besuchte. 2010 gründete er mit anderen Betroffenen die Initiative „Eckiger Tisch“, die sich um Aufklärung der Vorfälle bemüht und um Hilfe und Entschädigung für die Opfer. Als Sprecher der Initiative, als Betroffener und als Kläger sei er „erleichtert, dass dieses Verfahren nach acht Jahren nun endlich abgeschlossen ist“, so Katsch auf der Homepage der Initiative „Eckiger Tisch“.

Initiative fordert unabhängige Kommission

Die enormen Anstrengungen der Betroffenen, die am Verfahren mitwirkten, hätten sich gelohnt. „Bitter ist jedoch die Erkenntnis, dass es nicht zu einem weltlichen Urteil kommen wird. Das hätte ganz andere Auswirkungen gehabt.“ Katsch und Vertreter der Initiative „Eckiger Tisch“ nahmen auch am Anti-Missbrauchs-Gipfel der katholischen Bischöfe in Rom teil. Die Initiative fordert seit Jahren, dass eine Gerechtigkeits- und Wahrheitskommission eingerichtet wird, die sich in staatlichem Auftrag um die Aufklärung von Missbrauchsfällen kümmert und unabhängig von der Kirche ist.

Das Canisius-Kolleg in Tiergarten führt auf seiner Internetseite die Rubrik „Aufklärung der Missbrauchsfälle“. Jedes Jahr am 21. Januar jähre sich der Tag, an dem Pater Klaus Mertes, Rektor der Schule von 2000 bis 2011, einen Brief an ehemalige Schüler schrieb, heißt es da.

So sei die Aufklärungswelle über den Missbrauch von Schülern am Canisius-Kolleg in den 70er- und 80er-Jahren ausgelöst worden. Der Mut einiger Opfer habe die umfassende Aufklärung durch zwei unabhängige Untersuchungen ermöglicht. Auch die Links zu den Untersuchungsberichten der Rechtsanwältin Ursula Raue und der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer sind angegeben.

Rektor des Kollegs setzt auf Prävention

Das Canisius-Kolleg arbeite mit einem Präventionskonzept, „das immer wieder reflektiert wird und mehrfach optimiert wurde“, schreibt der derzeitige Rektor Tobias Zimmermann. Teil dieses Konzepts ist auch der „Schutz des Kindeswohls bei sexualisierter Gewalt“. Schüler sollten möglichst viele offene Türen in der Schule und außerhalb kennenlernen, damit sie sich Rat und Hilfe holen könnten, so der Rektor. Deshalb würden auch Präventionsveranstaltungen in Beratungsstellen außerhalb der Schule durchgeführt. Zur Erinnerung wird am Canisius-Kolleg jährlich der Friedrich-Spee-Preis für ziviles Engagement und Zivilcourage ausgelobt.