Berlin. Hilde Schramm wird für die Förderung jüdischer Frauen geehrt. Damit grenzt sie sich von ihrem Vater Albert Speer ab.

Wer Hilde Schramm besucht, steht vor dem Dienstboteneingang. Die Tür ist klein im Vergleich zu der großen Villa in Lichterfelde, in der sie einige Räume bewohnt. Das passt. Hilde Schramm ist kein Mensch für ein Eingangsportal, für ein großes Foyer. Sie mag es lieber eine Nummer kleiner und darum sagt sie auch zu dem Preis, der ihr am Montag verliehen wird: „Er ist nicht für mich, er ist für die Stiftung.“ Im Vorfeld des Internationalen Holocaust-Gedenktages am 27. Januar bekommt Hilde Schramm als Mitgründerin der Stiftung Zurückgeben den German Jewish History Award der Obermayer Foundation verliehen. Mit dem Preis, der seit 2000 jedes Jahr vergeben wird, werden deutsche Nichtjuden geehrt, die die Erinnerung an das Wirken von Juden wachhalten und sich für das deutsch-jüdische Zusammenleben heute engagieren.

Die Stiftung Zurückgeben fördert Jüdinnen aus Kultur und Wissenschaft, die in Deutschland leben, und will damit dazu beitragen, dass sich neues jüdisches Leben in Deutschland entwickeln kann. Seit 1996 wurden bislang mehr als 150 Projekte finanziell unterstützt. Zu den Geförderten gehören bekannte Namen wie die in Berlin lebende Autorin Deborah Feldmann, deren Buch „Unorthodox“ über ihr Aufwachsen in einer ultraorthodoxen jüdischen Glaubensgemeinschaft zum Bestseller wurde. Aber vor allem sind es weniger bekannte Frauen, die am Anfang ihrer Arbeit stehen, „für die das Geld eine erste Anerkennung und Ermutigung sein soll“, erklärt Hilde Schramm. Im Beirat sitzen jüdische und nichtjüdische Frauen, in der Jury sind nur Jüdinnen.

Die Idee zu der Stiftung entstand in Hilde Schramms Villa, Anfang der 90er-Jahre. An diesem runden Tisch, an dem Hilde Schramm auch jetzt sitzt und erzählt. Über die Stiftung. Über ihre ersten Kontakte zu Juden. Über ihr politisches Engagement. Über den ersten Kinderladen in Lichterfelde, den sie 1969 in der Remise im Garten gegründet hat und in dem dieser Tisch auch schon gestanden hat. Nur über eines will sie nicht sprechen, das hat die 82-Jährige schon im Vorfeld des Treffens gesagt: „Ich möchte keine Fragen zu meinem Vater beantworten.“

Die älteste Tochter von Hitlers Architekt und Rüstungsminister

Adolf Hitler (2.v.r.) mit Albert Speer (2.v.l.)
Adolf Hitler (2.v.r.) mit Albert Speer (2.v.l.) © Corbis Historical/Getty Images | Getty Images

Und doch geht es auch um ihn, wenn es um die Stiftung geht. Und doch ist da auch immer die Frage, wieweit der Vater ihr Leben, ihren Werdegang geprägt hat. Und es geht ganz praktisch auch um das materielle Erbe, das sie nach seinem Tod 1981 nicht haben wollte, das aber letztlich die Anschubfinanzierung für die Stiftung wurde. Das Erbe waren Gemälde, Werke der Romantik vor allem, auch eines von Arnold Böcklin war darunter. „Ich bin mir sicher, dass mein Vater die Bilder mit Geld gekauft hat, das er im NS-Regime verdient hat, und ich kann auch davon ausgehen, dass es ihm egal war, ob sie einen jüdischen Vorbesitz hatten.“ Ihr Vater ist Albert Speer.

Hilde Schramm ist die die älteste Tochter von Hitlers Architekt und Rüstungsminister. 1936 wird sie als zweitältestes von sechs Geschwistern in Berlin geboren, da plante Albert Speer schon die Neue Reichskanzlei in Berlin und stand kurz vor seiner Ernennung zum Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt. Als Rüstungsminister war er ab 1942 für die Beschäftigung von sieben Millionen Zwangsarbeitern und für den Ausbau von Konzentrationslagern mitverantwortlich. Speer wurde bei den Nürnberger Prozessen als einer der Hauptkriegsverbrecher zu 20 Jahre Haft verurteilt, die er im Alliiertengefängnis in Spandau bis 1966 absaß.

Während der NS-Zeit hatte Albert Speer Bilder gekauft und diese kurz vor Kriegsende an seinen Freund Robert Frank übergeben, der nach Mexiko auswanderte. Frank erklärte den Kunstschatz offiziell für verbrannt. Das war er nicht, er soll über Jahrzehnte in zwei Containern in Mexiko gelagert haben. Erst nach Franks Tod wurden sie geöffnet, die Bilder nach Deutschland gebracht und aufgeteilt zwischen dem inzwischen aus der Haft entlassenen Albert Speer und Franks Erben. Bis zu seinem Tod 1981 soll Speer immer mal wieder ein Bild verkauft haben. Nach seinem Tod ging der Restbestand dann zunächst an seine Frau. Als diese sechs Jahre später starb, an Speers Kinder.

„Ich wollte diese Bilder nicht“, sagt Hilde Schramm. Auch wenn sie bei ihren eigenen Nachforschungen nichts über einen jüdischen Vorbesitz herausbekam, ausschließen konnte sie ihn auch nicht. „Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ich selbst profitiere, wenn ich die Bilder behalte, und die Reihe so fortsetze.“ Also hat sie Freundinnen eingeladen, jüdische und nicht-jüdische Frauen, die wie sie schon über die NS-Vergangenheit gearbeitet hatten. Gemeinsam überlegten sie, was mit den Bildern werden sollte. „Wir wollten keine einmalige Verwendung, sondern etwas Stabileres daraus entstehen lassen.“ So entstand schließlich die Idee zur Stiftung. Die Bilder wurden verkauft und brachten als Gründungskapital etwa 160.000 Mark, von drei anderen Frauen kamen noch mal etwa 30.000 Mark dazu. Über die Jahre hat Hilde Schramm über Lesungen und Bucherlöse noch mal eine ähnliche Summe in die Stiftung gesteckt. Insgesamt konnte die Stiftung bislang Projekte mit einer halben Million Euro fördern.

Ihre Arbeit wird ausschließlich aus Spenden finanziert

Der Name Zurückgeben ist in doppeltem Sinne gemeint: Zum einen geht es genau darum, nachfolgenden jüdischen Generationen etwas zurückzugeben, „zum anderen ist es durchaus provokativ gemeint: Deutsche Familien sollten sich überlegen, ob sie Dinge besitzen, die aus jüdischem Besitz stammen“, erklärt Schramm. In den seltensten Fällen könne man die zwar tatsächlich zurückgeben, weil die Menschen nicht mehr lebten oder die Nachfahren unbekannt seien. Aber eine Geste an die jüdische Gemeinschaft heute sei immer möglich, zum Beispiel auch in Form einer Spende an die Stiftung, ihre Arbeit wird ausschließlich aus Spenden finanziert.

Ihre Aufgabe sieht die Stiftung auch als ein Aufeinanderzugehen. Über die Jahre ist daraus ein großes Netz an Freundschaft und Unterstützung geworden. Anfangs war das nicht immer leicht, erinnert sich Hilde Schramm. Oft haben die jüdischen Frauen, die von der Stiftung gefördert wurden, ja nicht gleich gewusst, wer sie war. Erfuhren sie es dann, kostete manchen der Kontakt zu ihr erst einmal Überwindung. Hilde Schramm konnte das verstehen. „Man weiß doch nie, wo die Sensibilitäten liegen, aber man muss sie akzeptieren.“ Empathie, Besonnenheit und sich auch mal zurückzunehmen, das hat sie gelernt. Dazu passt auch ihre Art zu sprechen. Leise, sie wählt ihre Worte mit Bedacht. Jeder Satz hat einen Anfang und eine Ende und enthält keine überflüssigen Wörter, nichts dick Aufgetragenes. Es ist so, als würde sie auch beim Sprechen lieber durch die kleine Tür kommen als durch das große Eingangsportal.

Die Stiftung Zurückgeben ist nicht das erste bürgerschaftliche Engagement von Hilde Schramm und nicht das erste Mal, dass sie sich mit dem Unrecht beschäftigt, das Juden während der NS-Zeit widerfahren ist. Als Schülerin in Heidelberg hatte sie eine jüdische Geschichtslehrerin, Dora Lux, sie war die erste Jüdin, die sie bewusst kennengelernt hat. Das Leben dieser Frau, die die NS-Zeit in Deutschland überlebt hatte, ließ Hilde Schramm nicht mehr los, später hat sie ein Buch über die Lehrerin geschrieben. In der Familie aber wurde nur wenig über die NS-Zeit gesprochen, auch wenn sie natürlich immer präsent war, schließlich war er als Kriegsverbrecher im Gefängnis. Aber es wurde ja nach Kriegsende überhaupt wenig über die Vergangenheit gesprochen, in vielen Familien wurde geschwiegen, insbesondere dort, wo es Verstrickungen mit dem NS-Regime gab. Aber Hilde Schramms Art ist es nicht zu schweigen, sie wollte etwas verändern.

Während ihres Studiums und ihrer Lehrtätigkeit an der FU Berlin hat sich die promovierte Erziehungswissenschaftlerin in sozialen Bewegungen engagiert, insbesondere in der Friedensbewegung. Mitte der 80er-Jahre wurde sie Mitglied der Alternativen Liste, von 1985 bis 1987 und noch einmal von 1989 bis 1991 saß sie im Abgeordnetenhaus, war 1989/90 auch dessen Vizepräsidentin. Nach dem Mauerfall hat sie Projekte gegen Rassismus und Rechtsextremismus in Brandenburg geleitet und noch heute engagiert sie sich politisch in der parteiübergreifenden Initiative „Respekt für Griechenland“. Bereits 2004 wurde sie für ihr Lebenswerk, für die von ihr gelebte Toleranz und Zivilcourage mit dem Moses-Mendelssohn-Preis ausgezeichnet.

„Wir wollten ja etwas verändern, eine bessere Welt aufbauen"

Ihr Engagement reicht bis in ihr Privatleben hinein. „Wir wollten ja etwas verändern, eine bessere Welt aufbauen, diese Abgeschlossenheit der deutschen Gesellschaft nicht fortführen“, und dazu gehörte auch ein offenes Haus. Vom Erbe ihres Großvaters kaufte sie 1968 mit ihrem Mann und Gleichgesinnten die Villa in Lichterfelde, in der sie noch heute wohnt. Sie war hochschwanger, und zusammen mit anderen jungen Familien bauten sie eine Hausgemeinschaft auf, die zwar mit einigen Wechseln, aber vom Prinzip bis heute besteht. In der Remise im Garten gründeten sie einen Kinderladen, den auch die beiden Kinder der Schramms besucht haben. „Wir wollten die Kinder anders großwerden lassen als in traditionellen Familien.“ Von einer Kommune grenzten sie sich aber auch ab. „Wir wollten nicht übertreiben, der Einzelne sollte Freiraum haben.“ Seit 2015 wohnen auch Flüchtlinge in der Villa. Zuerst kamen zwei Syrer, die inzwischen aber eine eigene Wohnung gefunden haben. Zurzeit leben eine Syrerin und zwei Afghanen hier.

Freiraum, sich so zu entwickeln, wie sie es tat, habe sie schon als Jugendliche zu Hause gehabt, versichert Hilde Schramm. „Meine Mutter, die mit den sechs Kindern nach 1945 allein war, hat ihren Kindern viel Freiheit gelassen. Es gab kein rigides Regime zu Hause“, versichert Hilde Schramm. Sie hat nichts gemacht, wovon sie nicht auch überzeugt war – auch als sie sich nach ihrem Abitur 1955 bei Regierungsstellen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien für die vorzeitige Haftentlassung ihres Vaters einsetzte. „Die Aufgabe wurde von der Familie an mich delegiert und ich habe sie angenommen, ich hätte es nicht tun müssen“, sagt sie, „ich habe es meiner Mutter zuliebe gemacht, und es war ja schließlich mein Vater.“ Diese Loyalität der Familie gegenüber steht für sie nicht im Widerspruch dazu, dass sie die Verbrechen des Vaters verurteilt. „Ich habe ja auch nichts Falsches gesagt“, fügt sie noch an. Erreichen konnte sie ohnehin nichts, der Vater blieb im Gefängnis, bis zum Ende seiner Haftzeit.

Eine direkte Auseinandersetzung mit ihm hat es wohl nie gegeben. Während der NS-Zeit war er nie zu Hause und sie zu klein, danach war er im Gefängnis. Sie schrieben sich Briefe. Und als er draußen war, war es vielleicht zu spät, lebten sie beide in völlig verschiedenen Welten. Bis heute beschäftigt sie daher die Frage, wieso so ein sensibler Mensch, als den sie ihren Vater auch erlebt hatte, in diese unverzeihlichen Verbrechen so verstrickt war. „Er ist ein Beispiel für dieses Phänomen, dass es Menschen gibt, die Schreckliches zu verantworten haben, und daneben liebenswürdige Züge haben können, die gar nicht dazu passen.“ Eine Antwort hat sie bis heute nicht gefunden. Geholfen haben ihr aber die intensive Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und die vielen Begegnungen mit jüdischen Menschen.

Auch auf das Kennenlernen der jüdischen Familie Obermayer bei der Preisverleihung freut sie sich. Judith Obermayer, die Präsidentin der Obermayer Foundation und Frau des vor drei Jahren verstorbenen Preisstifters und amerikanischen Unternehmers Arthur Obermayer, und ihr Sohn werden im Abgeordnetenhaus sein, um die Preise zu überreichen. Und sie empfindet es als eine besondere Auszeichnung, dass sie den Preis einer jüdischen Stiftung bekommt.