An den Glastüren der Sonnengrundschule in Neukölln beschwört gelbes Krepppapier die Passanten. Da steht: „Für unsere inklusive, starke, friedliche und selbstbewusste Schülerschaft benötigen wir Lehrer*innen, Erzieher*innen und Sonderpädagog*innen!“ Denn hier, im Schatten der Weißen Siedlung, wo fast 80 Prozent der Kinder als arm gelten, hier will kaum ein Lehrer arbeiten.
Florian Münch musste keiner bitten. Seit vier Jahren arbeitet der 36-Jährige
in der Brennpunktschule, unterrichtet Sport, Englisch, Mathe. Florian Münch sagt: „Hier kann ich etwas bewegen.“ Aber er sagt auch: „Es fühlt sich nicht richtig an, was mit mir gemacht wird.“
Florian Münch ist „Lehrer ohne volle Lehrbefähigung“, ein LovL, wie es auf Senatsverwaltungsdeutsch heißt. Er hat weder eine pädagogische Ausbildung, noch hat er eines der Berliner Schulfächer studiert, um als Quereinsteiger Lehrer in Schnellausbildung zu werden.
Aber Florian Münch hat sich bewährt. Seine Schulleiterin attestiert ihm großes Engagement, schreibt in einer Empfehlung, die Schule wäre „ohne ihn aufgeschmissen“. Seine Kollegen haben ihn zweimal in die erweiterte Schulleitung gewählt. Sein Vertrag wurde inzwischen entfristet. Sein Arbeitgeber will also, dass er bis zur Rente hier unterrichtet – so versteht Münch das.
Und er würde das womöglich gern machen. Er will sich zum Lehrer mit Lehrbefähigung fortbilden lassen. Aber drei entsprechende Anträge wurden abgelehnt, eine Klage abgewiesen. Das versteht Münch so: Viel ist dem Land Berlin seine Arbeit nicht wert.
2700 Lehrer sind für das aktuelle Schuljahr eingestellt worden. Davon haben nur etwa 1000 eine Lehrerausbildung. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hat angekündigt, für LovLs wie Florian Münch Weiterbildungsprogramme aufzusetzen. „Kein Land kann es sich leisten, Lehrkräfte, die an den Schulen tätig sind, nicht zu qualifizieren“, heißt es aus der Senatsverwaltung.
Hunderte LovLs werden nicht vernünftig ausgebildet
So sieht das auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Im Moment haben wir Lehrkräfte zweiter oder dritter Klasse“, sagt Matthias Jähne, GEW-Fachmann für Lehrerausbildung. Man habe mit der Senatsverwaltung über Fortbildungen verhandelt. Aber: „Bisher kommt da wenig Konkretes.“ Die GEW befürchtet: Hunderte LovLs werden nicht vernünftig ausgebildet. Was das im Alltag bedeutet, weiß Florian Münch.
Er hat einen Master in Sportmanagement, ist lizenzierter Badmintontrainer. 2014 kam er als Honorarkraft an die Sonnengrundschule, 2015 wurde er befristet als Lehrer angestellt. Wusste er, worauf er sich da einlässt? „So halb“, sagt Münch. Seine erste Schulstunde – Englisch in der dritten Klasse – machte er mit der Kollegin, die er vertreten sollte. Die Drittklässler tanzten zum Lied „Head, Shoulders, Knees & Toes“. Ab der nächsten Stunde war Münch auf sich allein gestellt. Dazu kam der Wahlunterricht und die Fußball AG.
Wie er das Lehren lernte? Er hat einen befreundeten Lehrer um Tipps gebeten, sich von ihm in den ersten Stunden begleiten lassen. Und er schaute es sich bei Kollegen ab. Der Rest: Improvisation.
Schnell merkte er, so erzählt es Münch, dass er nicht an die Kinder herankommt, dass nichts von seinem Unterricht hängen bleibt. „Das war eine krasse nervliche Belastung“, sagt er. Man müsse sich das mal vorstellen: Da solle man teils verhaltensauffälligen Kindern in einer der härtesten Grundschulen Berlins Dinge beibringen, von denen man selbst wenig Ahnung hat – ohne zu wissen, wie man den Unterricht strukturiert. Münch fehlte das Handwerkszeug. Er wurde laut, die Schüler lauter.
Dabei kämpfte längst nicht nur der LovL Münch mit den Herausforderungen an der Sonnengrundschule. Im April dieses Jahres schrieb das Kollegium einen Brief an die Senatsverwaltung. Dort stand: Um ihren von „Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung, Lernstörungen, Schulversagen“ bedrohten Kindern beizustehen, verwendeten die Lehrer fast all ihre Kraft auf die Zusammenarbeit mit Psychologen, Polizei und Jugendamt. Die eigentliche Schularbeit laufe nebenher. Der Krankenstand sei enorm. „Wir halten es für grob fahrlässig, angehende Lehrer*innen an so belasteten Schulen wie der unseren auszubilden.“ Die Lehrer fordern weniger Pflichtstunden, kleinere Klassen, mehr Unterstützung. Derzeit hat von 29 Lehrern an der Schule nur die Hälfte eine pädagogische Ausbildung.
Florian Münch scheint heute seinen Weg zu den Schülern gefunden zu haben. Er sagt, die Arbeit mache „sehr viel Freude“. Inzwischen weiß er, wie wichtig der Mix aus Ruhe- und Arbeitsphasen ist, dass Mitmachunterricht effektiver ist als Frontalunterricht. Vom unbefristeten Vertrag von Ende Juli 2016 erzählt er mit Stolz – er spüre große Wertschätzung im Kollegium. Aber: Mit vier Arbeitstagen in der Woche verdient er nur rund 1500 Euro im Monat.
Nachdem Münchs Bewerbung um ein berufsbegleitendes Referendariat dreimal abgelehnt wurde, reichte er im April dieses Jahres Klage ein. Er fordert eine angemessene Bezahlung und erneut: die Ausbildung zum Lehrer.
„Wenn sich ein junger Kollege, den wir unbedingt brauchen, in einem der schwierigsten Berliner Bezirke mit seinem ganzen Engagement einbringt, dann bin ich über diese Entscheidung fassungslos“, schrieb seine Schulleiterin. Ein Mitarbeiter der Schulaufsicht beschreibt Münch als „wahnsinnig erfolgreich an der Schule“ und bittet um die Anerkennung seiner Erfahrung an der Sonnengrundschule.
Der Fall geht nun vors Arbeitsgericht
Ende Juli hat die Senatsverwaltung trotzdem erklärt, sich gegen die Klage zu wehren. Mehr Gehalt sei nicht möglich, da Münch keine volle Lehrbefähigung habe. Auch der Quereinstieg: nicht möglich, da er kein klassisches Studium der Sportwissenschaften nachweisen kann. Trainerlizenzen ersetzen keine Studieninhalte. So sähe es das Gesetz vor.
Die Senatsverwaltung ist in einer schwierigen Lage. Es gibt Kritik, weil Lehrer schlecht oder gar nicht ausgebildet sind. Aber bis neue Lehrer aus den Unis nachkommen, muss trotzdem unterrichtet werden. Dass LovLs wie Florian Münch sich zum Lehrer ausbilden lassen wollen und nicht können, sei im Einzelfall traurig, aber so seien die Regeln, heißt es aus der Senatsverwaltung. Ob man sich erlauben könne, dass jemand wie Florian Münch geht? „Ja. Bewerber ohne Lehrbefähigung haben wir mehr als genug. Was fehlt sind die ausgebildeten Lehrer“, so eine Sprecherin.
Ende November wird das Arbeitsgericht im Fall von Florian Münch verhandeln. An der Schule tritt Münch jetzt etwas kürzer. Für die Wahl in die erweiterte Schulleitung ist er nicht mehr angetreten. Und er liest jetzt regelmäßig Stellenanzeigen bei Sozialunternehmen.