Berlin. Nach den tödlichen Schüssen auf den 36-jährigen Nidal R. am Sonntagabend am Rande des Tempelhofer Feldes in Neukölln befürchten Sicherheitsexperten und Politiker Rachetaten und eine weitere Eskalation der seit Monaten schwelenden Auseinandersetzungen zwischen kriminellen Mitgliedern arabischer Großfamilien. „Wer die Szene halbwegs beobachtet, weiß, dass die tödliche Attacke am Sonntag ein klares Ausrufezeichen war, das bei allen Clans verstanden und garantiert nicht ungesühnt bleiben wird“, sagte der Berliner Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Norbert Cioma.
Der Leiter der Abteilung Organisierte Kriminalität im Landeskriminalamt (LKA), Sebastian Laudan, sagte am Montag im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses, dass man eine zunehmende Tendenz zur Bewaffnung beobachte. Ein Schwerpunkt sei dabei die Rapper-Szene. Dort gebe es ständig wechselnde Allianzen und immer mehr Personen. Prominentestes Beispiel ist der Berliner Rapper Bushido, der sich kürzlich von Geschäftspartner Arafat A.-C. trennte. „Die Rapper-Szene wächst stark“, so Laudan. Grund dafür sei, dass in dem System viel Geld stecke.
Die Polizei ist nun in Alarmbereitschaft
Man befürchte, dass es nach den Schüssen auf Nidal R. zu Racheakten kommt. Nach Informationen der Berliner Morgenpost führt die Polizei derzeit im Milieu Gefährderansprachen bei Personen, denen sie eine Gewalttat zutraut. Gleichzeitig hält die Polizei auch Gefährdetenansprachen bei Menschen, die in Gefahr seien könnten. Auch Nidal R. erhielt nach Informationen dieser Zeitung vor wenigen Tagen so eine Ansprache – am vergangenen Sonntag gegen 17.40 Uhr wurde er am südöstlichen Rand des ehemaligen Flughafen Tempelhof an der Oderstraße erschossen. Die nach rund sieben Minuten eintreffenden Rettungskräfte der Feuerwehr brachten ihn ins Benjamin-Franklin-Klinikum in Steglitz, wo er infolge innerer Blutungen verstarb. Wie die Staatsanwaltschaft am Montag mitteilte, wurde Nidal R. von acht Schüssen getroffen.
Von den Tätern fehlte am Montag offenbar noch jede Spur. „Wir haben Ermittlungsansätze, zu denen aber keine Einzelheiten genannt werden können“, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner. Es würden Zeugen vernommen und Bildmaterial vom Tatgeschehen ausgewertet. Darunter dürfte ein Video sein, das ein Zeuge kurz nach der Tat in das Internet einstellte. Der Urheber der Aufnahmen berichtete der Berliner Morgenpost, in der Nähe des Tatorts Schüsse gehört zu haben. Wenig später habe er zwei Männer mit gezogenen Waffen an ihm vorbeirennen sehen.
Offenbar fühlten sich der oder die Täter sicher
GdP-Chef Cioma sagte, angesichts der aktuellen Rivalitäten zwischen den Clans sei es eine „Frage der Zeit“ gewesen, wann es das erste Todesopfer geben würde. „Dass sie ihre Auseinandersetzungen gewalttätig und ohne Skrupel auf Berlins Straßen austragen, ist die Folge dessen, dass sie jahrzehntelang keinen durchsetzungsstarken Rechtsstaat gespürt haben.“
Die SPD sprach von einer „neuen Dimension der Auseinandersetzung“. Er hoffe, dass Polizei und Justiz schnelle Ermittlungserfolge erzielten. „Sonst folgt womöglich eine Blutrache oder Selbstjustiz“, sagte SPD-Innenexperte Tom Schreiber. Die Tat vom Tempelhofer Feld könne „neue Allianzen zwischen arabischen Großfamilien in Berlin zementieren“.
Der Innenexperte und Fraktionschef der Berliner CDU, Burkard Dregger, sagte, der „Mord“ an Nidal R. erinnere an eine „Hinrichtung“. Der Vorfall werde den Clan-Krieg weiter eskalieren lassen und zeige, wie sicher sich der oder die Täter fühlten. „Deshalb müssen wir alles daransetzen, den Verfolgungsdruck zu erhöhen. Dazu wären auch Belohnungen und Schutzprogramme für Kronzeugen eine gute Wahl“, so Dregger.
Der FDP-Innenpolitiker Marcel Luthe monierte, dass es in Berlin kein Lagebild zur organisierten Kriminalität gebe. Der Innenexperte der Grünen, Benedikt Lux, sagte, der Rechtsstaat dürfe nicht zurückweichen und man müsse einen Bandenkrieg verhindern. Lux wies zugleich auch auf die „vielen erfolgreichen Maßnahmen“ der vergangenen Wochen hin. Die Polizei hatte zuletzt vermehrt Razzien im Clan-Milieu durchgeführt.
Die Polizei hat derzeit drei Familien im Visier
Es ist alles andere als ein Titel, auf den eine Stadt stolz sein könnte. „Hauptstadt der Clan-Kriminalität“ möchte keine Kommune genannt werden. Sicherheitsexperten können sich derzeit auch nicht einigen, wem der zweifelhafte Titel gebührt: Berlin oder den Metropolen des Ruhrgebiets, allen voran Essen. Hier wie dort haben kriminelle Großfamilien inzwischen Machtpositionen erreicht, die viele Fachleute zweifeln lassen, ob diese Kriminalitätsform noch in den Griff zu bekommen ist.
Polizei und Justiz gehen in Berlin von knapp 20 Großfamilien aus, einige verfügen über 500 bis 700 Mitglieder, bei anderen bewegt sich die Zahl der Familienangehörigen gar im vierstelligen Bereich. Dabei sind keinesfalls alle Angehörigen dieser Clans kriminell. Die polizeibekannten Gruppen innerhalb der Familien sind in allen Deliktfeldern aktiv, in denen lukrative Geschäfte winken. Sie beherrschen sowohl den Drogenhandel in der Stadt als auch das Rotlichtmilieu. Schutzgelderpressungen gehören ebenso zu ihren gewinnträchtigen Geschäftsfeldern. Hinzu kommen Einbrüche, Diebstähle und Raubtaten, häufig besonders spektakuläre Fälle, die für Schlagzeilen sorgen und den „Ruhm“ des Clans in der Szene fördern. Wenn Revierstreitigkeiten ausgefochten werden, kommt es auch zu Gewalttaten bis hin zum Mord.
Auffällig sind derzeit vor allem drei Familien. Mitglieder der Familie A.-C. waren an dem Überfall auf das Pokerturnier im „Hyatt“-Hotel 2010 beteiligt. Nicht minder spektakulär war der Überfall auf das KaDeWe im Dezember 2014, begangen von Angehörigen der Familie El-Z., die am längsten in Berlin aktiv ist.
Dritte im Bunde ist die Familie R. Zwei Mitglieder der Familie wurden wegen Beteiligung an einem Einbruch in eine Sparkassenfiliale (Beute knapp eine Million Euro) verurteilt. Auch mit dem Diebstahl einer 100-Kilo-Goldmünze aus dem Bode-Museum wird Familie R. in Verbindung gebracht. Die Familie ist derzeit Ziel zahlreicher Razzien und Sicherstellungen von Vermögenswerten durch Polizei und Justiz.
Gegen kriminelle Clans muss konsequenter vorgegangen werden
Acht Schüsse am Tempelhofer Feld
Die Akte Nidal R. alias „Mahmoud“