Berlin. Die bunten Werbebanner mit der Aufschrift „Campus Berlin-Buch – Der Gesundheit verpflichtet“ flattern im Wind, auch das große Giebelgemälde von Gert Neuhaus an der Wohnzeile entlang der baumreichen Robert-Rössle-Straße wirbt für die Gesundheitsregion Buch – Ute Linz, Ärztin und Wissenschaftlerin, besucht an diesem Tag jedoch in anderer Mission den biomedizinischen Wissenschaftsstandort in Buch: Sie will, dass die Robert-Rössle-Straße, die zum Campus führt, schnellstens umbenannt wird. Dazu hatte sie einen Termin im Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin an der Robert-Rössle-Straße 10. Unter dieser Adresse firmieren alle Einrichtungen des Campus Buch, darunter auch das Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie, die Charité und der Biotech Park.
Bis heute sind in Berlin zahlreiche Straßen nach Menschen benannt, die in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt waren. Robert Rössle (1876–1956), der 1929 einen Lehrstuhl an der Charité bekam, gehört dazu. Als Oberkriegsarzt, Professor für Pathologie an der Charité und kooperierender Pathologe der Luftwaffe war er in einige Versuchsreihen der Ärzte der Luftwaffe während der NS-Zeit involviert.
Im damaligen Deutschen Reich, sagt die Historikerin Beate Winzer, „hat er sich zahllose Menschen, darunter viele Kinder, aus der Krebsforschung histologisch in vitro (lebendes Gewebe) und post mortem (nach dem Tod) zur Untersuchung schicken lassen. Er hatte ein eigenes Netzwerk, damit ihm ,die Tumore nicht ausgingen‘“. Diese Menschen seien meist im sogenannten Endstadium gekommen, Betten hätten nur die „wissenschaftlich Interessanten“ erhalten. Den Ärzten der Luftwaffe seien Tausende Patienten angeboten oder von ihnen selbst ausgewählt worden.
Es sei schwierig, zuverlässige Zahlen zu nennen
Innerhalb des Deutschen Reichs einschließlich der besetzten und annektierten Gebiete könnten, so Winzer, der Euthanasie, also der gezielten Ermordung von Kranken und Behinderten, etwa 200.000 Menschen zum Opfer gefallen sein. Von diesen Patienten sei eine erhebliche Zahl aus „wissenschaftlichem Erkenntnisstreben“ getötet worden. Es sei schwierig, aufgrund des weit verstreuten Aktenmaterials zuverlässige Zahlen zu nennen, zumal die Forschungsreihen zu Embryologie, Sauerstoffmangel, Hirntumoren, Demenz oder Apoplexie sich hinter der Euthanasie „versteckten“.
Das ist nur eines der Ergebnisse, das die Berliner Historikerin mehr als fünf Jahre lang für ihre Doktorarbeit über die „Geschichte des Luftfahrtmedizinischen Forschungsinstituts der Luftwaffe“ in internationalen Archiven recherchierte.
Trotz solcher Verstrickungen in die NS-Verbrechen wird Robert Rössle in Berlin seit 1974 mit der nach ihm benannten Straße im Pankower Ortsteil Buch geehrt. Auch das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC), wo Ute Linz nun zu Besuch ist, hat dort seinen Sitz. Dort wird ihre Initiative begrüßt, einer Umbenennung der „Robert-Rössle-Straße“ steht das MDC aufgeschlossen gegenüber. „Die Rolle des Pathologen Robert Rössle in der Zeit des Nationalsozialismus ist wissenschaftlich jedoch bis heute nicht vollständig geklärt. Deshalb sind weitere medizinhistorische Untersuchungen notwendig. Das MDC wird sich dafür einsetzen, dass diese zeitnah erfolgen“, sagt der Wissenschaftliche Direktor des Zentrums, Professor Martin Lohse. Die Doktorarbeit von Beate Winzer sei noch nicht veröffentlicht. Sie könnte für diese Informationen sorgen.
Auch Ute Linz hat bereits viele Jahre in Archiven über Rössle geforscht. Die Robert-Rössle-Klinik gibt es auf dem Gelände in Buch bereits seit fast zehn Jahren nicht mehr – seitdem die Helios Kliniken GmbH unter anderen diese Einrichtung übernahm und eine Neufirmierung und Umstrukturierung erfolgte. Auf den Wegweisern auf dem Campus ist die Robert-Rössle-Klinik trotzdem immer noch vermerkt. In einem Teil des alten Gebäudes, vor dem eine Büste an Robert Rössle erinnert, forschen heute Wissenschaftler der Charité und des MDC.
Das Klinikareal hat eine lange Tradition. Zwischen 1900 und 1920 wurden dort Krankenhäuser mit mehr als 5000 Betten errichtet. Das klinische Umfeld war attraktiv für wissenschaftliche Einrichtungen. 1930 siedelte sich das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung (KWI) dort an. Rössle gehörte dem Kuratorium an. 1937 wurde das KWI der Luftwaffe unterstellt und bearbeitete zusätzlich Aufträge vom Heer.
Ein Ort der Forschung, früher aber auch Ort des Verbrechens
Berlin-Buch – ein Ort der Forschung, während der Nazizeit aber zugleich ein Ort des Verbrechens. In den Heilanstalten, in denen Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen untergebracht waren, fanden auch menschenverachtende Versuche statt. Wie die Historikerin Winzer herausfand, wurden an Patienten mit bestimmten Diagnosen in mobilen Kammern Versuche durchgeführt, während anderen Substanzen injiziert wurden. So sollte beispielsweise herausgefunden werden, wie bei den Piloten der Luftwaffe Krampfanfälle verhindert werden konnten. Auch in diese Forschungsprojekte war Rössle nach den Recherchen der Historikerin eingebunden, indem er beispielsweise Gewebeproben untersuchte.
„Die Herren Spitzenforscher haben gewöhnlich nicht selbst getötet. Sie haben meist nur auf ihr ,Material‘ gewartet“, so Winzer. Das Euthanasie-Programm der NSDAP sei insofern auch ein Deckmantel gewesen, „da es von den Gliederungen der NSDAP ausging und ausgeführt wurde“. Entsprechend seien weitestgehend nur Mitglieder dieser Gliederungen später verurteilt worden.
Von den Menschenversuchen der Luftwaffe seien besonders intensiv die Versuchsreihen im KZ Dachau untersucht worden. Aber die Dimension der Versuche sei erheblich darüber hinaus gegangen. „So wurde Rössle, der für die Luftwaffe ,Material‘ untersucht hat, nicht ein Mal als Zeuge geladen und ging nach dem Krieg als anerkannter Wissenschaftler und freier Mann aus dieser Geschichte hervor“, sagte Beate Winzer im Gespräch mit der Berliner Morgenpost weiter.
Im Gegenteil: Die DDR dekorierte ihn mit dem Nationalpreis I. Klasse für Wissenschaft und Technik und 1952 erhielt er auch noch das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Das ist auch oberhalb des Namens auf dem Straßenschild zur Erläuterung von Rössle zu lesen. Eine 80-jährige Anwohnerin weiß aus der Nachkriegsgeschichte zu berichten: „Die Rössle-Klinik war sehr bekannt und gut. Mein Mann ist dort sehr gut medizinisch betreut worden.“
Immerhin: Auf dem Gelände in Buch erinnert seit 2012 ein Mahnmal der Künstlerin Anna Franziska Schwarzbach an die Schuld, die die Forscher dort auf sich geladen haben. Gleichzeitig steht es als Mahnmal der Verpflichtung zum ethischen Handeln und der gesellschaftlichen Mitverantwortung.
Ute Linz reicht das aber nicht. Sie fordert nun schon seit drei Jahren, dass die Straße einen neuen Namen erhält. Und besonders ärgerlich findet sie es, dass ihre Schreiben an das Bezirksamt Pankow und die Bezirksverordneten so gut wie unbeantwortet blieben. „Ich möchte niemandem unterstellen, dass er etwas unter den Teppich kehren möchte, aber dieser unkritische Umgang mit so einem Straßennamen ist schon sehr enttäuschend, eine wirkliche Trägheit diesem doch wichtigen Thema gegenüber“, kritisiert sie das Verhalten der Politiker im Bezirk, die für Straßen-Umbenennungen zuständig sind. „Meine Großmutter, Katharina von Kreutz, war eines von Tausenden Opfern der T4-Aktion“.
Die Abkürzung T4 steht für die Berliner Adresse Tiergartenstraße 4, wo in der NS-Zeit die Tötung von Heiminsassen beschlossen wurde, die man als körperlich oder geistig behindert klassifiziert hatte. „Auch meiner Großmutter bin ich es schuldig, dass ich mich dafür einsetze, dass niemand, der mit diesen abscheulichen Taten in Verbindung stand, heute noch geehrt wird“, appelliert Linz an die für Straßennamen Verantwortlichen im Bezirk.
Rössle habe beispielsweise die Zwangssterilisation und die Tötung „lebensunwerten Lebens“ gerechtfertigt. Als Mitherausgeber der „Zeitschrift für menschliche Vererbungs- und Konstitutionslehre“, dem wissenschaftlichen Sprachrohr der NS-Rassenlehre, habe er zudem die „Unfruchtbarmachung von Erbkranken“ und das „Ausmerzen von Erbübeln“ unterstützt. Und der Leiter des Krankenhauses am Untersuchungsgefängnis Moabit, so recherchierte Ute Linz zudem, soll Rössle für seine Forschungen mit „lebenswarmen“ Hoden versorgt haben. Die Strafrechtsnovelle von 1933 sah die Möglichkeit der Zwangskastration für sogenannte „Sittlichkeitsverbrecher“ vor. Dazu zählte man auch Homosexuelle.
Professor Thomas Beddies, stellvertretender Leiter des Charité-Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, sagte auf Anfrage dieser Zeitung, er sei am Anfang davon ausgegangen, eine Tafel zu Rössle mit Hinweisen zu seinem Wirken in der NS-Zeit auf dem Klinik-Campus in Buch könne ausreichend sein. „Wir wissen jetzt aber mehr, auch dank der Recherchen von Frau Linz“, sagte Beddies jetzt. Nach jetzigem Kenntnisstand spreche auch er sich für eine Straßen-Umbenennung aus.
Bezirk will das Thema nachder Sommerpause angehen
Das Bezirksamt Pankow will sich, so Bezirksbürgermeister Sören Benn (Linke), mit dem Thema nach der Sommerpause beschäftigen. Der Stand der Diskussion sei nicht eine Entlastung von den Vorwürfen, die gegen Rössles Tun erhoben werden, sondern der Nachweis für seine Täterschaft.
„Frau Dr. Linz hat eine beeindruckende Sammlung von Indizien zusammengetragen, die jedoch nicht jene Nachweisqualität besitzen, die Historiker für eine abschließende Beurteilung benötigen“, so Benn. Dennoch sei es natürlich möglich, politisch zu entscheiden, dass die Verdachtsmomente für Rössles Verstrickung in die Medizinverbrechen des Nationalsozialismus so schwer wiegen, dass eine Würdigung seiner Person mit einer Straße nicht mehr angemessen erscheine, auch vor dem Hintergrund seiner sonstigen Verdienste. Aber auch Benn kennt die Dissertation von Beate Winzer noch nicht. Würde die Historikerin die Rössle-Straße sofort umbenennen? „Natürlich“, sagt sie.
Der umstrittene „Turnvater Jahn“: Der Bezirk Pankow will seinen „Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark“ umbenennen
Er ist eine der bekanntesten und umstrittensten Figuren der deutschen Geschichte: Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) – bekannt auch als Turnvater Jahn. Er begründete Anfang des 19. Jahrhunderts in Berlin die Turnbewegung. Allerdings sah er den Sport als Mittel der körperlichen Ertüchtigung des Volks für den Krieg. Und: Er äußerte sich abwertend über Juden.
„Die Benennung von Sportstätten nach dem Turnvater und bekennenden Antisemiten Friedrich Ludwig Jahn wird inzwischen allgemein kritisch beurteilt“, heißt es deshalb im Beschluss der Pankower Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Anfang Juni. „Deshalb sollte der Senat diese Benennung überprüfen“, heißt es darin weiter. Den Antrag dafür hatte die Linksfraktion gestellt.
Bereits seit mindestens 2011 schwelt die Debatte um den umstrittenen Turnvater. Damals drängte die Initiative „Sport ohne Turnvater“ auf eine Umbenennung. Jahn habe sich in seinem Buch „Deutsches Volksthum“ völkisch und antijüdisch geäußert.
Anlass der neuerlichen Debatte ist der Umbau der Sportstätte zum „Inklusionssportpark“. Für 170 Millionen Euro soll das Gelände zum Stützpunkt des Behindertensports umgebaut werden.
Einen Vorschlag für einen neuen Namen gibt es auch schon: Rudolf Mosse. Die BVV Pankow will das Engagement des jüdischen Verlegers „durch die Benennung eines Weges/Ortes oder einer Sportanlage“ ehren, heißt es. Mosse spendete Geld für viele Sportstätten in Berlin. Bereits 1920 wurde eine Straße durch den heutigen Sportpark nach ihm benannt. Die Rudolf-Mosse-Straße wurden von den Nationalsozialisten 1935 aber wieder umbenannt.
Weitere potenzielle Namensänderungen:
Gutachter mit Für und Wider: Der Namensgeber der Beuth-Hochschule wünschte einst den Juden den Tod
Christian Peter Beuth (1781–1853) war ein Antisemit. Der preußische Ministerialbeamte und Namensgeber der Beuth-Hochschule wünschte Juden in einer Rede den Tod – und war damit am Beginn des 19. Jahrhunderts aber auch Kind seiner Zeit .
Die Weddinger Hochschule diskutiert nun seit knapp einem Jahr, ob sie den Namen trotzdem behalten will. Hochschulpräsidentin Monika Gross sagte dieser Zeitung, man befinde sich „am Anfang der Debatte“.
Erst 2009 hatte die einstige „Technische Fachhochschule Berlin“ Beuths Namen erhalten. Der preußische Beamte wurde damit als „geistiger Vater der Ingenieurausbildung in Deutschland“ geehrt. Im Juni hat es dann eine Diskussionsveranstaltung gegeben, auf der Gegner und Befürworter der Umbenennung der Hochschule zu Wort kamen. Achim Bühl, Professor für Soziologie der Technik, stellte auf der Veranstaltung ein Gutachten vor, in dem Beuth als „völkischer Antisemit“ bezeichnet wurde. Er plädierte daher für die Umbenennung. Der Historiker Jörg Rudolph, Archivar am Deutschen Historischen Museum, erstellte im Auftrag der Hochschulleitung ein weiteres Gutachten, in dem er zu dem Schluss kam, den Namen beizubehalten.
Nun hat eine Arbeitsgruppe „Diskurs Beuth“ ihre Arbeit aufgenommen. Die Gruppe arbeitet derzeit an einer Empfehlung für ein weiteres Vorgehen. Im Laufe des kommenden Wintersemesters 2018/19 sollen Empfehlungen ausgesprochen werden. „Sicher ist, dass wir als Hochschule den ehrlichen Weg einer transparenten Auseinandersetzung mit dem Namenspatron und der Marke „Beuth Hochschule“ gehen“, heißt es aus der Hochschulleitung.
Maji-Maji-Allee statt Petersallee: Umbenennungen im Afrikanischen Viertel sind noch nicht rechtskräftig
Nach mehr als zehn Jahren Diskussion soll es für drei Straßen im Afrikanischen Viertel in Wedding neue Namen geben. Wie berichtet haben die Bezirksverordneten von Mitte (mit den Stimmen von SPD, Grünen, Linken und Piraten gegen die der CDU und AfD bei Enthaltung der FDP) beschlossen, dass die Lüderitzstraße künftig Cornelius-Frederiks-Straße heißt und der Nachtigalplatz nun Bell-Platz. Die Petersallee von der Müllerstraße bis zum Nachtigalplatz wird künftig Anna-Mungunda-Allee heißen und der Abschnitt vom Nachtigalplatz bis zur Windhuker Straße Maji-Maji-Allee.
Statt Täter der Kolonialzeit zu ehren, so die Begründung, sollen auf den Straßenschildern künftig Menschen geehrt werden, die sich gegen Kolonialismus und Rassismus eingesetzt haben. Auch mehr als drei Monate nach diesem Beschluss sind die Namensänderungen aber noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht und damit noch nicht rechtskräftig.
Die Weddinger Initiative Pro Afrikanisches Viertel (IPAV) hat derweil Anwohner und Geschäftsleute (insgesamt erhalten rund 3000 Betroffene eine neue Adresse) ermutigt, den Beschluss rechtlich anzugreifen. Die Initiative protestiert insbesondere dagegen, dass auch die Petersallee einen neuen Namen erhalten soll. Das Bezirksamt Wedding hatte sie nämlich bereits 1986 umgewidmet. Mit ihr wird seither nicht mehr Carl Peters (1856–1918), Begründer der Kolonie Deutsch-Ostafrika, geehrt, sondern der Widerstandskämpfer Hans Peters (1896–1966).
Doch die Änderung war nie veröffentlicht worden. Die CDU-Fraktion der BVV Mitte hat Beschwerde bei der Bezirksaufsicht gegen die jetzt geplante Umbenennung eingelegt.
Interview mit dem Berliner Kulturhistoriker Wolfgang Kaschuba:
Verschiedene Initiativen in der ganzen Stadt haben es sich zur Aufgabe gemacht, Straßen oder Orte umbenennen zu wollen. Es wird über den kolonialen Kontext der Straßen im Afrikanischen Viertel diskutiert, die rassistische Konnotation der Mohrenstraße oder antisemitische Äußerungen der Namensgeber der Beuth-Hochschule und des Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportparks. Häufiges Ziel: Die Namen sollen aus dem Stadtbild getilgt werden. Der Berliner Kulturhistoriker Wolfgang Kaschuba hält das nicht immer für das beste Mittel.
Warum wird in Berlin momentan so leidenschaftlich darüber diskutiert, die Namen von Straßen und Orten zu ändern?
Wolfgang Kaschuba: Wir erleben gerade eine Welle der Beschäftigung mit Namen – das ist richtig. Es wird darüber nachgedacht, dass da teils hochproblematische Personen und Anlässe bedacht wurden. Nun wird es nicht reichen, dass wir lauter Blumen auf die Namensschildchen setzen und sagen: Jetzt ist das nicht mehr problematisch. Wir sind also in einer Phase, in der wir über Historizität nachdenken.
Das heißt?
Wir sind es gewohnt, an historische Figuren oder Situationen zu erinnern. Das ist auch nicht falsch, aber da finden wir natürlich ganz selten den reinen Sonnenschein, wie wir jetzt bei der Diskussion um die Beuth-Hochschule und den Jahn-Sportpark sehen. Da haben wir den Konflikt zwischen dem kollektiven Gedächtnis, dass wir uns an diesen Namen orientieren auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite, dass wir plötzlich an den Namensgebern viele Schattenseiten erkennen.
Sollte man also alle problematischen Namen aus dem Stadtbild tilgen und dann haben wir reinen Sonnenschein?
Nein, wir müssen über jeden Einzelfall nachdenken. Natürlich könnte man sich solche Horrorszenarien vorstellen, dass sich sämtliche Tierschützer vereinigen und alle Tiernamen aus dem Straßenland getilgt werden, weil das Jagdtrophäen seien. Oder sämtliche Veganer, die stellen ja in Berlin auch schon eine Macht dar. Dann könnten wir im Grunde unsere historische Topografie permanent umschreiben. Wir werden damit aber auch nicht glücklich werden. Wichtig ist, unter welchen Vorzeichen die Straßenbenennung erfolgt und wie das Bewusstsein der Menschen vor Ort ist. Wenn hundert Anwohner sagen, sie würden gern bei einem Namen bleiben, aber nur einer ihn verändern will, dann hat man natürlich ein Legitimitätsproblem, wenn man da ein anderes Straßenschild anschraubt. Ich denke immer, es ist viel wichtiger, dass Nachdenken über Geschichte und Nachbarschaft zu nutzen, als zu meinen, dass wir die alle paar Jahre umschreiben können.
Ist das eine neue Debatte?
Die Politik der Straßenbenennungen in Deutschland war immer schon ein ideologisches Projekt. Das waren ja lange Zeit nationale Geistes- und Kriegsheroen, die da geehrt wurden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Verdenkmalisierung etwas aufgebrochen – insofern sind wir da in rutschendem Terrain.
Wie sehen Sie das im Fall der aktuellen Diskussion über „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn und den preußischen Beamten Christian Peter Beuth?
Gerade bei Friedrich Ludwig Jahn sind die antisemitischen Äußerungen unübersehbar. Er ist da aber natürlich Kind seiner Zeit und bewegt sich im Jargon eines weitgehend konservativen Bürgertums am Anfang des 19. Jahrhunderts. Auch die Turnbewegung, die Jahn initiiert hat, und die wir als gesund und kräftigend sehen, war natürlich auch eine militaristische: Die deutsche Jugend sollte fit gemacht werden für den Kampf gegen Napoleon. Aber man muss sich schon überlegen, ob man den Sportpark, der ja schon ein Weilchen so heißt, aus dem kollektiven Gedächtnis reißt.
Und die Beuth-Hochschule?
Vielleicht tut man sich mit einem Beuth, einem Zeitgenossen von Jahn, leichter. Auch er fiel ja zu seiner Zeit mit antijüdischen Ressentiments auf. Das ist keine altbewohnte Straße, sondern hat Studierende als Kundschaft, die sich kritisch mit Geschichte auseinandersetzen. Die wollen nicht unter dieser Flagge marschieren. Da kann sich die Hochschule ein eindeutiges Mandat holen.
Aber wer entscheidet, welche Namen kritisch genug sind, um sie zu entfernen? Also wo fängt man an und wann sind wir bei den Veganern, die Sorge um Tiernamen haben?
Man wird sich immer überlegen müssen, was kritische Geschichtsbetrachtung bedeutet. Für mich bedeutet das, sich auseinanderzusetzen mit der eigenen Geschichte und gerade dort hin zu schauen, wo man bisher ein oder beide Augen zugedrückt hat. Aber die Frage nach den Konsequenzen ist damit nicht beantwortet: Man kann die Geschichte ja nicht umschreiben.
Das heißt?
Man sollte es nicht so machen wie unser Innenminister Horst Seehofer seine Heimatpolitik. Nach dem Motto: Wenn wir nur alles Schlechte ausbürgern, haben wir am Ende die reine deutsche Republik und Geschichte. Damit sind schon andere angetreten und gescheitert. Das ist eine sehr dumme Sicht auf die Gesellschaft, alles Schlechte einfach zu externalisieren.
Aber können Namensumbenennungen nicht genau solche Externalisierungen sein?
Ich würde solche Namensumbenennungen in der Tendenz – wenn sie überhastet gemacht werden – immer Externalisierungen nennen. Das Problem wird verdrängt.
Nach dem Motto: Was ich nicht mehr sehe, interessiert mich auch nicht mehr.
Ja, deshalb bedeutet Internalisieren für mich: einen Diskussionsprozess in Gang setzen. Am Ende so einer Debatte kann dann auch stehen, dass ein „falscher“ Straßenname als Stolperstein im Stadtbild bleibt. Solche Namen können ja auch die Wirkung haben, dass das Berufen auf alles alte Deutsche eben sehr viele solcher Stolpersteine enthält. Diese Orts- und Straßennamen sind also Stachel im kollektiven Gedächtnis.
Okay, daraus könnte man schließen: Die Namen einzuordnen und zu kontextualisieren ist meist besser, als sie zu tilgen.
Ein Problem ist zumindest, dass jede Stadtgesellschaft das Rad gerade neu erfinden will. Jahn-Straßen zum Beispiel gibt es ja in ganz Deutschland. Hinzu kommt: Wer weiß, was bei vielen bislang unbelasteten Namen noch rauskommt.
Ihr Fazit der momentanen Diskussion?
Was man begrüßen muss, sind alle Debatten. Was man zurückweisen muss, sind schnelle Inanspruchnahmen und Verbote. Die Berliner Stadtgesellschaft muss jetzt diskutieren, wie sie damit umgeht. Das ist doch eine wunderbare Volkshochschule der Demokratie, wenn sich verschiedene Gruppen jetzt mit diesem Erbe auseinandersetzen. Welche Schlussfolgerungen wir also ziehen, mit welchen Namen wir in die Zukunft ziehen, das ist noch mal eine andere Frage. Ich wäre immer dafür, dass wir in diese Debatte reingehen, aber dass wir uns überlegen, wie wir damit unsere Umwelt gestalteten. Bloß keine vorschnellen Umbenennungsaktionen. Davor warne ich