Lokführer: Manchmal denke ich, unser Unternehmen kann zwar schöne Pläne und Präsentationen machen. Aber das Kerngeschäft haben wir verlernt: Züge pünktlich fahren lassen.
8:56 Uhr. S-Bahnhof Raoul-Wallenberg-Straße, Marzahn. Ein Tag, wie gemacht für Eisenbahner. Bewölkt aber trocken, 24 Grad warm. Es ist Ferienzeit. Ein großer Teil der Fahrgäste ist im Urlaub, irgendwo weit weg vom Pendlerverkehr. Die Daheimgebliebenen laufen durch die Unterführung, am Blumenstand vorbei, die Treppen hoch auf den Bahnsteig.
Am Tag zuvor, das war der vergangene Mittwoch, hatte die S-Bahn-Geschäftsführung erneut eine Präsentation gemacht: Die lang angekündigte Qualitätsoffensive wurde vorgestellt. Man sei nicht immer zufrieden mit der eigenen Leistung, sagte da S-Bahnchef Peter Buchner. Probleme wurden benannt: störanfällige Signalkabel, hitzeempfindliche Elektronik oder zu lange Ein- und Ausstiegszeiten. Der bundeseigene Bahnkonzern, zu dem auch die S-Bahn Berlin GmbH gehört, kündigte an, bis 2025 rund 32 Millionen Euro in mehr Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der S-Bahn zu investieren.
Es scheint höchste Zeit für eine solche Offensive. Die Berliner Morgenpost hat über mehrere Monate mit jenen Menschen gesprochen, die dafür sorgen, dass die rubinrot-ockergelben Züge durch die Hauptstadt rollen: Lokführer, Ausbilder, Fahrdienstleiter. Sie erklären, warum im Unternehmen manches schiefläuft. Und wie es sich anfühlt, für ein S-Bahn-Unternehmen zu arbeiten, das seine Fahrgäste immer wieder zur Weißglut treibt.
Ehemaliger Lokführer: Warum ich aufgehört habe? Fahrgäste. Wirklich, die gingen mir so auf den Zeiger. Die regen sich schon bei drei Minuten Verspätung auf. Und du bist immer der Schuldige. Ich wurde beschimpft, bespuckt, geschubst. Warum soll ich mich ständig verteidigen für etwas, für das ich nichts kann?
Zurück zum Bahnsteig in Marzahn. Der Ausgangspunkt für eine Testfahrt quer durch die Stadt, von Nordost nach Südwest. Geplante Abfahrtszeit der S7: 9.04 Uhr. Umsteigen am Ostkreuz. Ringbahn bis Schöneberg. Ziel ist Zehlendorf, um 10.02 Uhr soll die S1 dort ankommen. Je sechs Minuten zum Umsteigen. Das ist machbar, sollte man meinen.
Eine Frauenstimme, warm und doch irgendwie blechern, durchbricht die Halstestellenstille: „Sehr geehrte Fahrgäste, wegen Verzögerungen im Betriebsablauf wird der Zug S7 nach Potsdam Hauptbahnhof, Abfahrtszeit 9 Uhr 4 Minuten heute leider entfallen. Wir bitten um Entschuldigung.“ Die Menschen an der Raoul-Wallenberg-Straße, wo die S-Bahn die wichtigste Verbindung zum Rest der Stadt ist, haben für die Durchsage nur ein Kopfschütteln übrig.
Lokführer: Störung im Betriebsablauf – das ist eine bescheuerte Ausrede. Bahnsprech. Keiner weiß, was das bedeutet. Nicht mal wir.
Es ist auch gar nicht so leicht, die Probleme der S-Bahn in einer einzigen Durchsage zu erklären. Klar scheint allerdings: Vieles, was heute für Ärger sorgt, hat bereits eine lange Geschichte. Eine Geschichte des Sparens etwa. Viele Jahre wurde zu wenig Personal ausgebildet, Weichen und Triebwagen nicht ausreichend gewartet, ältere, aber noch funktionstüchtige Züge verschrottet. Gleichzeitig stiegen aber die Fahrgastzahlen: Waren es im Jahr 2000 rund 290 Millionen, sind es heute schon mehr als 440 Millionen im Jahr. Doch der Fahrzeugpark ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht mitgewachsen: Die S-Bahn fährt permanent an ihrer Leistungsgrenze. Und: Die Fahrpläne wurden so lange optimiert, bis ein paar Minuten Verspätung das ganze System durcheinander würfeln können.
Lokführer: Die Wendezeiten sind zu kurz. Wenn man mit der S7 nach Ahrensfelde kommt, dann fährt man schon sechs Minuten später wieder ab. Fünf Minuten ist die Mindestzeit, um die Bahn für die Rückfahrt vorzubereiten. Wenn ich also mit Verspätung ankomme, fahre ich auch mit Verspätung wieder los.
Ein Bahnsprecher sagt dazu, Wendezeiten würden den Fahrplänen angepasst. Und verweist auf eine längere Pause am anderen Ende der S7 in Potsdam.
Heute sind die Probleme auf der Line aber ohnehin andere: Schaden an einem Fahrzeug und an etwas, das sich Zugbeeinflussungsanlage nennt, teilte die Bahn auf Anfrage mit. Für die Fahrgäste an der Raoul-Wallenberg-Straße heißt das weiterhin: „Störungen im Betriebsablauf“. Aber wer hier an den Schienen entlang ein paar Hundert Meter weiter schaut, zum S-Bahnhof Marzahn, der sieht Züge in Richtung Mitte abfahren. Warum fahren sie nicht von hier, wie es im Fahrplan steht?
Fahrdienstleiter: Wenn ein Zug mit Verspätung fährt, kann man ihn zum Beispiel im S-Bahnhof Marzahn enden lassen, damit er wenigstens pünktlich zurückfährt. Das heißt dann Teilausfall. Wenn keine Züge in Ahrensfelde ankommen, können sie dort auch nicht abfahren. Es gilt: Lieber den einen verspäteten Zug herausnehmen, als den ganzen Tag mit Verspätung fahren. Das hat auch wirtschaftliche Gründe. Beim Teilausfall zahlt man weniger Strafzahlungen an den Senat.
Ein Bahnsprecher sagt dazu, Ziel sei ein „stabiler und pünktlicher S-Bahnbetrieb“. Bei Störung handle man nach einem gültigen Regelwerk.
9.14 Uhr. Die Bremsen der S7 pfeifen, Fahrgäste steigen ein. Wo früher das Aufsichtspersonal am Bahnhof die Züge abfertigte, machen heute die Fahrer alles selbst. Sie sagen, es gäbe jetzt keine Sekunde mehr, in der sie sich nicht konzentrieren müssten. Oft sehe man über die Bildschirme im Führerstand nicht, wenn Fahrgäste die Treppen noch hoch rennen. Dann schließen die Türen, die Fahrgäste klemmten sich aber noch dazwischen und der Zug könne nicht abfahren. Auf eng getakteten Strecken könnte sich das mit der Zeit zu beträchtlichen Verspätungen aufsummieren. Oder die Türen gingen kaputt. Dann falle auch mal ein ganzer Zug aus. Das Signal am Bahnsteigende in Marzahn zeigt inzwischen Grün. Auf dem Weg nach Zehlendorf starten wir mit zehn Minuten Verspätung. Aber immerhin: Die Bahn summt, wir fahren.
Lokführer: Es gibt auch die netten Momente. Wenn einem Kinder von der Brücke zuwinken, wenn ich in den Sonnenuntergang fahre. Ich liebe meinen Beruf nach wie vor.
Dass der Zug jetzt nicht auf ein falsches Gleis fährt, darum wird sich am anderen Ende der Stadt gekümmert: In der Betriebszentrale Halensee, dritte Etage. Von hier aus werden Signale und Weichen für das gesamte Berliner S-Bahnnetz gesteuert. Im Drei-Schicht-Betrieb beobachten hier insgesamt 140 Fahrdienstleiter weiße, grüne und rote Striche auf Wänden aus Bildschirmen. Hin und wieder klingelt ein Telefon. Der Computer stellt die Weichen automatisch. Wenn nichts dazwischenkommt.
Die Berliner S-Bahn: Das ist ein Streckennetz von insgesamt 332 Kilometern, das sind 166 Stationen, rund 3500 Weichen und bis zu 1,4 Millionen Fahrgäste am Tag. Zusammengerechnet ergibt das jede Menge Ärger.
Seit Mai 2017 hat es die S-Bahn nicht mehr geschafft, den vertraglich zugesicherten Pünktlichkeitswert von 96 Prozent einzuhalten. Im Mai 2018 fuhren nur 94 Prozent der Züge ohne Verspätung. Klingt nicht so schlimm. Aber die Statistik verschweigt: Ein Zug, der weniger als vier Minuten vom Fahrplan abweicht, gilt noch als pünktlich. Und Züge, die gar nicht erst abfahren, werden nicht eingerechnet.
Häufig ist die alte Technik Grund für Ausfälle. In den Führerständen der Triebwagen der Baureihe 481 überhitzen sich zum Beispiel im Sommer regelmäßig die Computer, mit denen das Fahrzeug gesteuert wird. In so einem Fall wird der Zug zum Abkühlen aus dem Verkehr genommen. An manchen S-Bahn-Strecken ist zudem noch Technik aus den 20er-Jahren im Einsatz.
Fahrdienstleiter: Ich arbeite in einem der alten Stellwerke. Da muss man noch richtig hin und her laufen, Drehknöpfe umlegen. Das kann schon stressig werden. Die S-Bahn eben, irgendwas ist immer.
Umsteigen am Ostkreuz. Aus dem Unterleib des Bahnhofskolosses dröhnt der Lärm der vielen Baumaschinen. Der Ringbahn-Zug kommt. Bereits zehn Minuten Verzug auf dem Weg nach Zehlendorf. Hinter dem Fenster wischt die Spree vorbei, Neukölln, das Tempelhofer Feld. Irgendwann steht ein Mann mit Gitarre und Wollmütze in der Bahn, seine Stimme ist etwas zu brav für den Johnny-Cash-Song, den er singt: „And it burns, burns, burns; the ring of fire; the ring of fire.“
Lokführer: Die Ringbahn ist das Schlimmste. Immer in die gleiche Richtung. Rund 300 Signale pro Runde. In der letzten Runde wird es echt schwer mit der Konzentration. Dann fahren da sehr viele Linien, im engsten Takt.
Lange war die Ringbahn der unpünktlichste Teil der S-Bahn. Hier hat sich die Bahn zuletzt verbessert, es wurde Geld in die Infrastruktur gesteckt. Aber neue Technik bringt nicht immer mehr Pünktlichkeit. Wo die Lokführer früher bei Verspätungen einfach „mehr Gas“ gegeben haben, bremst sie heute das neue Zugsicherungssystem automatisch aus. Technik ist nicht alles.
Ausbilder: Aus meiner Sicht hat der Konzern 20 Jahre gepennt, hat es versäumt, Nachwuchs zu akquirieren. Das kann man nicht in zwei Jahren aufholen. Das Problem ist auch: Es fehlen Ausbilder und die räumlichen Kapazitäten.
Die S-Bahn sagt, seit 2015 hätten 550 Lokführer eine Ausbildung begonnen. Man bekomme mehr Bewerbungen als man einstellen könne. Auch in der Betriebszentrale sehnt sich so mancher nach Verstärkung.
Fahrdienstleiter: Wo früher mehrere Kollegen für einen Bereich da waren, bin ich jetzt allein zuständig. Ich sitze vor zehn Bildschirmen. Aber offiziell ist das kein Bildschirmarbeitsplatz. Also haben wir keine Bildschirmpausen. Die Acht-Stunden-Schicht sollen wir durcharbeiten, keine Pause machen. Wenn ich aufs Klo gehe, übernimmt ein Kollege den Bereich. Aber wenn etwas passiert, bleibe ich juristisch verantwortlich. Das ist schon ein ziemlicher Druck.
Die Bahn sagt dazu, man wolle in Zukunft mehr Fahrdienstleiter einstellen. Die würden nicht nur am Bildschirm arbeiten, sondern auch telefonieren oder Dokumente auf Papier lesen. Im Dienstplan seien Kurzpausen vorgesehen. Der Betrieb laufe sowieso automatisch – wenn es keine Störung gibt.
Fahrdienstleiter: Im Sommer ist das oft so: Die Anlage, die meldet, ob ein Gleis frei
wird, ist sehr hitzeanfällig. Da gibt es oft Störungen. Dann rufen wir die Meldestelle. An manchen Stellen darf der Techniker tagsüber nicht ins Gleis, wegen des Arbeitsschutzes. Dann kommt er nachts wieder, prüft, wenn es schön kühl ist und die Anlage funktioniert. Am nächsten Tag ist das Problem aber wieder da.
Die Bahn sagt, es liege im Interesse der Kunden, die Prüfung in der Nacht vorzunehmen. Denn tagsüber müsste man dafür dann den gesamten Zugverkehr anhalten.
Bahnhof Schönberg. Tauben flattern. Sonst ist es hier ruhig. Etwas zu ruhig. Kein Zug in Sicht. Ein Blick auf die Handy-App: die sieben Stationen bis Zehlendorf sind durchgestrichen. Keine Durchsage. Die S1 um 9:58 Uhr – hat sie nie existiert? Der Bahnsprecher sagt, ein Zug musste ausgetauscht werden. Vier Minuten später folgt der nächste. 58 Minuten Fahrt waren geplant von Marzahn bis hierher. 14 Minuten Verspätung kamen obendrauf. Zeit für eine Qualitätsoffensive.
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