Berlin

Rock im Rotlichtviertel

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Eine Legende an der Potse: Das Quatier Latin (Archiv)

Eine Legende an der Potse: Das Quatier Latin (Archiv)

Foto: Marco Saß

Wo heute der „Wintergarten“ ist, spielten früher Bands. Ein neues Buch zeigt den Konzerclub „Quartier Latin“.

Berlin. Papa stand nachts hinterm Zapfhahn, Mutter wischte morgens feucht durch, wenn von Band und Publikum nur noch der Geruch ihrer Zigaretten übrig geblieben war. Sieht so ein Leben für den Rock ’n’ Roll aus? In West-Berlin schon. Marco Saß wuchs im „Quartier Latin“ an der Potsdamer Straße auf, das seine Eltern Manfred und Christa zu einer der heißesten Konzerthallen der Stadt machten. Jetzt veröffentlicht Saß, 53, sein Buch darüber.

Von Hamburg nach Berlin – der Liebe wegen

Es gibt Club-Chefs, die machen einen Laden auf, um jene Musik auf die Bühne zu bringen, die sie lieben, und sonst nirgendwo zu hören bekommen. Im Quartier, wie man in Berlin bald sagte, war es anders. Christa Saß hasste elektrische Gitarren, Manfred „Manne“ Saß mochte eher Hans Albers. Aber das Paar – sie Jahrgang 1925, er 16 Jahre jünger – wollte nach Berlin, in Christas Heimatstadt. Also wurde die Kneipe, die man in Hamburg führte, geschlossen und Hanseat Manne schaute sich ein paar polternde Blues-Nächte lang dieses zwei Jahre zuvor eröffnete Etablissement an der „Potse“ an, das einer Annonce zufolge zum Verkauf stand – und war begeistert. 1972 wurden er und Christa Chefs im Quartier Latin.

Sohn Marco Saß ist für unser Gespräch dorthin zurückgekehrt. „Das war mein Zuhause.“ Das Quartier heißt heute „Wintergarten“, der Saal, auf dessen Bühne er noch einmal steigt, ist samtig-rot herausgeputzt und statt dreckigem Rock wird hier Cappuccino erster Güte serviert. „Aber den Lichterkranz an der Decke gab es schon bei uns.“

Die Strahler sind wie die mondänen Treppen und ein Garderobentisch im Foyer Relikte aus der Zeit, als dies die „Biophon-Lichtspiele“ waren. 1913 in bester Lage von Filmdiva Henny Porten eröffnet, bedeutete nach dem Mauerbau die Nähe zum Potsdamer Platz nur die Nachbarschaft zu Todesstreifen und Rotlichtmilieu. 1967 schloss das Kino. „Irgendwann fand ich in unserem Kassenhäuschen ein Schild aus der Ära vor 1961“, erzählt Saß. „Ostbewohner zahlen zur 1. und 2. Vorstellung halbe Preise“, liest er vor und schmunzelt. „Die Ironie der Geschichte war: Kurz nach dem Fall der Mauer hing hier ein ähnliches Schild am Eingang – für die neuen Gäste aus dem anderen Teil Berlins.“

Die Gestaltung des Musikprogramms nahm ein Freund in die Hand. Konzertveranstalter mieteten sich ein, Bands buchten den Laden selbst – „auf die Gefahr hin, dass keiner kommen würde“, erzählt Journalist Henry Steinhau, 56, mit dem Saß seine Hommage geschrieben hat. Herbert Grönemeyer etwa habe dort zunächst vor zehn Zuschauern gespielt. 1984 musste sein Quartier-Konzert dann bereits ins größere „Metropol“ verlegt werden

So war der Club Sprungbrett und Auffangbecken zugleich: Die einen präsentierten sich dort erstmals dem lokalen Publikum, etwa Nina Hagen und die Eurythmics. Andere, wie Jazzer Chet Baker und Art Blakey, hatten ihre besten Tage längst hinter sich. Aber bei Manne und Christa konnten sie zeigen, wie viel noch in ihnen steckte.

Von ihrem Sound umgeben, verbrachte Marco Saß die Nächte im Quartier, packte mal an am Pizzastand, hörte den zechenden Erwachsenen zu. „Mein Leben war anders, als das meiner Mitschüler“, sagt er. „Die abendlichen Fernsehprogramme, über die sie sich auf dem Schulhof unterhielten: Die kannte ich alle gar nicht.“ Privilegiert fühlte er sich nicht. „Dadurch, dass ich Musik frei Haus bekam, hatte das nicht die große Faszination für mich.“

Da war Fotografie schon viel fesselnder. Als Marco nachts wieder einmal im Verkauf aushalf, kam er ins Gespräch mit einem der Pressefotografen. „Am Ende wies er meinen Vater an, wo und welche Kamera für den Sohn zu kaufen sei – und dann ging’s los.“ Bald übernahm er erste Zeitungsjobs. „Die Abende sahen dann so aus: Künstler im Quartier fotografieren, Bilder nachts entwickeln, morgens in den Redaktionen der Stadt abliefern – und dann bloß pünktlich in die Schule.“ Jahre später kehrte Saß aber doch wieder zu Kulisse und Bühne zurück. Inzwischen ist er Betriebsingenieur im Potsdamer Hans Otto Theater.

Das große Geld haben sie mit ihrem Club nie verdient

Seine Eltern dagegen machten im Showgeschäft, mit ihrem Quartier nie so recht ihr Glück. 1989 schlossen sie den Laden, die Miete war unbezahlbar geworden, „Finanziell war es zu keinem Zeitpunkt ein Erfolg“, sagt ihr Sohn. „Was sie mit einem Konzert verdienten, verloren sie beim nächsten.“

Nachdem Manfred 1995 gestorben war, führte Christa eine Kneipe am S-Bahnhof Schöneberg, lebte in einer Wohnung ohne Heizung und Bad. 2013 starb sie. Sich vom beliebten Quartier immer mehr zu verkleinern sei für die Eltern „eine tragische Entwicklung“ gewesen, sagt Saß. Der Wandel im Konzertbusiness hatte sie einfach fortgespült. „Bei ihnen wurden Geschäfte noch schlicht per Handschlag besiegelt“, sagt Henry Steinhau, „es gab keine Security im Saal, keine umständlichen Versicherungsdeals, und wenn man einen Auftritt nicht annehmen konnte, rief man eben bei anderen Clubmachern an und sagte: Willst du das übernehmen?“

Das Buch von Saß und Steinhau wartet nun auf Veröffentlichung. Es soll durch Crowdfunding finanziert werden. Bis zum Mittag des 27. Juni müssen genug Interessenten und Weggefährten unter visionbakery.com/quartierlatin-berlin ihren Beitrag hinterlassen, für den sie in den kommenden Monaten dann ein Buch von der Größe einer Langspielplatte bekommen. Und dass es kommt, davon sind Saß und Steinhau fest überzeugt: Für die Veröffentlichungsparty am 24. September ist der Club, der früher Quartier Latin hieß, fest gebucht.