Berlin. Wenn eine Partei zu einer Demonstration aufruft und 10.000 Teilnehmer erwartet, dann sollte man meinen, dass einer der wichtigsten Politiker dieser Partei auf Anhieb sagen kann, warum denn die Leute auf die Straße gehen sollten. Doch Georg Pazderski wiegt erst mal bedächtig den Kopf. Ja, da gebe es doch ein offizielles Motto, sagt er. Dann nestelt er an seinem Smartphone herum und ruft die Internetseite auf, auf der die AfD für die Demonstration am Sonntag in einer Woche mobilisiert. Richtig, da stehe es ja: „Zukunft Deutschland“.
Ziemlich allgemein, Herr Pazderski, oder? Der starke Mann der Berliner AfD – Pazderski ist Vorsitzender der Landespartei und steht auch der Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus vor – rutscht im Sessel der Abgeordnetenhaus-Kantine herum. Dann sagt er Sätze wie: „Ziel ist es, deutlich zu machen, dass vieles in Deutschland nicht so läuft, wie es laufen sollte.“ Oder: „Die Menschen sollen eine Möglichkeit erhalten, ihren Unmut gegenüber der Bundesregierung deutlich zu machen.“
Je länger man ihm zuhört, desto mehr verstärkt sich der Eindruck, dass der einstige Bundeswehroberst mit dem Aufruf seiner Partei fremdelt. Auch wenn er das als Mitglied des Bundesvorstandes natürlich nie zugeben würde.
Pegida-Schreihälse und viele Gegendemonstranten
Die Skepsis hat einen Grund. Denn Pazderski ist zwar kein Liberaler. Für AfD-Verhältnisse steht er aber für einen vergleichsweise gemäßigten, vor allem aber für einen parlamentsorientierten Kurs. Er will die Partei koalitionsfähig machen und auch in linksliberal geprägten Großstädten wie Berlin neue Wählerschichten erschließen.
Fotos von Pegida-Schreihälsen, die AfD-Fahnen schwenken, dürften dem gewieften Taktiker dabei ebenso wenig ins Konzept passen wie Bilder von vielen, vielen Gegendemonstranten, die zeigen, dass der Rückhalt der Partei, die so gern für sich in Anspruch nimmt, „das Volk“ zu repräsentieren, so groß dann doch nicht ist.
Teile der AfD wollen eine Republik mit weniger Ausländern und Muslimen
Aber die Entscheidung ist gefallen – und Pazderski macht als Politprofi gute Miene zum aus seiner Sicht nicht ganz so guten Spiel. Dabei ist seine Sorge verständlich. Denn die AfD ist längst nicht mehr nur eine Kraft, die sich als „Alternative“ im bundesrepublikanischen Parteienpluralismus versteht.
Seit dem Abgang ihres Parteigründers, des Euro-skeptischen Wirtschaftsprofessors Bernd Lucke, ist sie zum parlamentarischen Arm einer Bewegung geworden, in der sich Gruppierungen tummeln, deren Aktions- und Organisationsformen teils sehr unterschiedlich sind – die aber doch ein gemeinsames Ziel verfolgen: Sie wollen eine andere Republik.
Eine Republik mit weniger Ausländern und weniger Muslimen. Eine Republik, in der die „versifften 68er“ und der „linke Mainstream“ ebenso zurückgedrängt werden sollen wie vermeintliche oder tatsächliche Minderheiten, die „dem Volk“ angeblich diktieren wollen, was es zu denken hat.
Einen nennenswerten Einfluss hatte die „Neue Rechte“ lange nicht
Wirklich neu ist diese „Neue Rechte“ nicht. Sie wurde nur über Jahre und Jahrzehnte kaum beachtet, verweilte im Windschatten „prominenterer“ Neonazi-Gruppen, die im Unterschied zur „Neuen Rechten“ angesichts ihrer Verherrlichung des Nationalsozialismus mehr Aufmerksamkeit erregten.
Die so lange im Verborgenen gebliebenen Wortführer der „Neuen Rechten“ pilgerten weder zu Grabstätten verstorbener Naziführer noch organisierten sie Fackelläufe oder Wehrsportübungen. Sie trafen sich bei meist schlecht besuchten Vorträgen und studierten die Schriften von Vordenkern der sogenannten Konservativen Revolution der 20er-Jahre. Ernst Jünger, Carl Schmitt, Arthur Moeller: Das waren und sind die historischen Impulsgeber der „Neuen Rechten“.
Keine Nationalsozialisten. Wohl aber autoritäre und elitäre Denker, die gegen die Weimarer Demokratie anschrieben und – ob gewollt oder ungewollt – den Nationalsozialisten einen geistigen Nährboden bereiteten. Interessieren musste man sich für die „Neuen Rechten“ kaum. Einen nennenswerten Einfluss hatten sie nicht.
Die „Neue Rechte“ kopiert die Strategie der „kulturellen Hegemonie“
Das hat sich geändert. Denn in einer Zeit, in der das Wort „Flüchtling“ mit dem Wort „Krise“ und das Wort „Islam“ mit dem Wort „Terror“ in Verbindung gebracht wird, und in einer Zeit, in der Menschen, die in Studien schon vor Jahrzehnten der Aussage zustimmten, dass Deutschland von illegitimen und verlogenen Eliten regiert werde, ihre Ansichten nunmehr auf Facebook oder Twitter kundtun können und die dadurch eine bis dahin unvermutete Wirkmacht verspüren, ja, in einer solchen Zeit sind die Ideen der „Neuen Rechten“ wieder gefragt. Sie fallen auf fruchtbaren Boden.
Die Massen lassen sich entfesseln. Und die Ressentiments von „besorgten Bürgern“ lassen sich im Kampf für eine radikale Umwälzung instrumentalisieren. Wie das funktioniert, haben sich die Neu-Rechten bei einem Marxisten abgeschaut: dem italienischen Philosophen Antonio Gramsci.
Laut seiner Strategie der „kulturellen Hegemonie“ sollen Begriffe besetzt und umgedeutet werden, um so den gesellschaftliche Diskurs zu beeinflussen. Das ließ sich zuletzt gut beobachten. Etwa wenn schutzbedürftige Bürgerkriegsflüchtlinge zu „Invasoren“ umdefiniert wurden.
Manches, das früher ein Skandal war, löst heute nur Schulterzucken aus
Auch die teils gezielt lancierten Tabubrüche von „Neuen Rechten“ erfüllen einen wichtigen Zweck. Sie verschaffen Aufmerksamkeit und lenken eine Debatte in eine bestimmte Richtung. Vor allem aber lässt sich so die Grenze gesellschaftlich akzeptierter Aussagen nach rechts verschieben.
Aussagen, die vor einigen Jahren noch zum Skandal erhoben worden wären, rufen heute oft nur Schulterzucken hervor. Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft finden und nicht gleich verschrecken; den Weg bereiten für radikale Botschaften, aber subtiler und moderner als die geächteten Kader der fast vergessenen NPD: Wer wissen will, wie das geht, sollte sich mit der sogenannten "identitären Bewegung" (IB) befassen.
Ein Café in Mitte, keine 100 Meter vom Bahnhof Friedrichstraße. Studenten nehmen sich eine Auszeit vom Bücherstudium. Geschäftsleute in dunklen Anzügen können sich nicht entscheiden, ob sie auf Laptop oder Handy herumtippen sollen. Mittendrin ein Mann, der für sein schütteres Haupthaar eigentlich zu jung ist, mit Hipster-Vollbart, modischer Kunststoffbrille und Kapuzenpulli sonst aber gut hierher passt. Sieht so ein Vertreter der „Neuen Rechten“ aus? Offenbar schon. Denn Robert Timm, 26 Jahre alt, Architekturstudent und wohnhaft in Cottbus, ist der Regionalleiter der IB für Berlin und Brandenburg – und damit einer der vielleicht wirkmächtigsten Vertreter der „Neuen Rechten“ in der Region.
Die Neue Rechte ist subtiler als die geächteten NPD-Kader
Im Verfassungsschutzbericht wird die IB als „metapolitischer und aktivistischer Arm“ der „Neuen Rechten“ beschrieben und als rechtsextrem eingestuft. Für Schlagzeilen sorgte sie, als Aktivisten im August 2016 kurzzeitig das Brandenburger Tor bestiegen und ein Transparent mit der Aufschrift „Sichere Grenzen, sichere Zukunft“ befestigten. Es hing nicht lange dort. Aber es reichte für ein paar schöne Fotos. Die IB-Aktivisten posteten die Bilder in den sozialen Netzwerken, und im Fernsehen und in den Zeitungen wurde die IB als eine Art „Greenpeace von rechts“ tituliert.
Die IB, die in Berlin vermutlich gerade mal um die 30 und bundesweit wohl nur 300 bis 500 Aktivisten zählt, wurde plötzlich in einem Atemzug mit einer modern und frech daherkommenden Umweltorganisation genannt, die selbst in nicht grünen Kreisen durchaus populär ist: Besser hätte es aus Sicht der IB-Aktivisten gar nicht laufen können.
Robert Timm erzählt gern von der Aktion am Brandenburger Tor. Oder von Besetzungen von Parteizentralen. Dann spricht er über den „Großen Austausch“ durch die Zuwanderung, die „Islamisierung“ und sagt, dass jedes Volk das Recht habe, seine Existenz zu verteidigen. Wenn es mit der Zuwanderung so weitergehe, „dann sind nicht mehr wir es, die hier die Entscheidungen treffen“. Wer mit diesem „Wir“ gemeint ist? Die „ethnischen Deutschen“, sagt Timm. Und: „Deutschland sollte der Staat der Deutschen sein.“
Distanz der AfD zur „identitären Bewegung“ ist laut eines IB-Mitglieds „Hokuspokus“
Geht es um die Methoden der „identitären Bewegung“, versucht Timm erst gar nicht, den Einfluss von Stichwortgebern wie Antonio Gramsci zu verheimlichen: „Wir bereiten Themen vor, erstellen Narrative, prägen Begriffe, die in den allgemeinen Diskurs einsickern“, sagt er. Manipulation als Mittel der politischen Debatte? Timm zuckt mit den Schultern. „Was ist der Unterschied zwischen Beeinflussung und Manipulation?“, sagt er.
Robert Timm ist kein Einzelgänger. Fotos zeigen ihn Seite an Seite mit dem vorbestraften Pegida-Protagonisten Lutz Bachmann. Eine weitere Aufnahme von einer Grillfeier auf dem Zehlendorfer Grundstück der ebenfalls zum rechten Spektrum zählenden Burschenschaft Gothia zeigt ihn und andere IB-Aktivisten mit etlichen Berliner AfD-Abgeordneten. Eigentlich hat sich die Partei zwar in einem förmlichen Beschluss von der IB distanziert. Timm hält das aber für „Hokuspokus“.
Man lese die gleichen politischen Schriften und sei von den gleichen Ideen beeinflusst. Und natürlich treffe man sich auch gelegentlich. Etwa bei Seminaren des sogenannten „Instituts für Staatspolitik“ (IfS) im sachsen-anhaltinischen Schnellroda.
In einem Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung wird das IfS als „der wichtigste Thinktank der Neuen Rechten in Deutschland“ bezeichnet. Der Mitbegründer Karlheinz Weißmann umschrieb das Ziel des IfS so: „Es geht um Einfluss auf die Köpfe, und wenn die Köpfe auf den Schultern von Macht- und Mandatsträgern sitzen, umso besser.“ Um dieses Ziel durchzusetzen, veranstaltet das IfS Tagungen und Seminare. Aufsätze und Bücher erscheinen im assoziierten Verlag Antaios oder im Blog „Sezession“. Das Ziel: Einen „geistigen Bürgerkrieg“ um die „Existenz der Nation“ zu führen. So beschrieb es der IfS-Mitbegründer Götz Kubitschek.
Der Wille des Volkes soll von einer Elite bestimmt werden
Kubitschek gilt als eine der wichtigsten intellektuellen Führungsfiguren der „Neuen Rechten“. Auch er ist bestens vernetzt, trat bei Pegida-Kundgebungen auf und gilt auch als treibende Kraft der Gruppierung „Ein Prozent“. Der Sinn der Vereinigung: die im IfS herausgearbeiteten Ideologien für die breite Masse „übersetzen“ und in Kampagnen überführen.
Die elitäre Idee dahinter: Einige wenige Menschen, eine Avantgarde von nur einem Prozent der Bevölkerung, reicht aus, um den Diskurs so zu beeinflussen, dass sich die Gesellschaft nachhaltig verändert. Der viel beschworene „Wille des Volkes“: In der Ideenwelt eines Götz Kubitschek soll er das Werk einer selbst ernannten kleinen Elite sein.
Zu den Vertrauten von Götz Kubitschek gehört auch das rechte Aushängeschild der AfD: der Vorsitzende des thüringischen Landesverbandes Björn Höcke. Den Ortsteil Schnellroda, den Sitz des IfS, bezeichnete der Mann, der eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ forderte, als „Oase der geistigen Generation“. In Schnellroda hielt Höcke auch seine Rede über angeblich typisch afrikanisch oder europäische „Fortpflanzungsstrategien“. Hier formulierte er auch seine Vision von der Rolle der AfD als „fundamental-oppositionelle Bewegungspartei“.
Und nach einer Recherche der „Spiegel“-Autorin Melanie Amann geht auch die sogenannte Erfurter Resolution, mit der der national-konservative AfD-Flügel den Rausschmiss des Parteigründers Bernd Lucke einleitete, auf den Einfluss des IfS und seines intellektuellen Vordenkers Götz Kubitschek zurück.
Björn Höcke wird bei der Demo in Berlin nicht sprechen
Der Historiker Volker Weiß kommt in einem Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung zu dem Schluss, dass die Abwehrmechanismen der AfD gegen die Einflussnahme der „Neuen Rechten“ in den Anfangsjahren unter Parteigründer Bernd Lucke noch funktioniert haben mögen. „Doch solche Abwehrmechanismen versagten zusehends“, schreibt Weiß.
Und so liegt bei AfD-Veranstaltungen das neu-rechte Magazin „Compact“ des Verschwörungstheoretikers Jürgen Elsässer aus. Das neu-rechte Blatt „Junge Freiheit“ unterstützt die Partei ohnehin nach Kräften. Aktivisten der „identären Bewegung“ mischten in der AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“ mit. Und AfD-Politiker wie Björn Höcke und seine Getreuen treten ungeniert bei Pegida auf, als hätte es Distanzierungsbeschlüsse ihrer Partei nie gegeben.
Bei der Demonstration im Berliner Regierungsviertel wird Höcke zwar nicht sprechen. Die Leiterin der mit öffentlichen Mitteln geförderten „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus“, Bianca Klose, geht aber davon aus, dass sich am kommenden Sonntag auch Aktivisten und Anhänger aus Höckes Umfeld am Hauptbahnhof einfinden werden, die seine völkischen und antiliberalen Positionen teilen. „Sie werden die Demonstration nutzen, um im öffentlichen Raum Präsenz zu zeigen und damit eine weitere Verschiebung des öffentlichen Diskurses in Richtung einer rassistischen und auf Abschottung gerichteten Weltsicht zu erreichen“, sagt Klose.
Und der als gemäßigt geltende AfD-Mann Georg Pazderski? Er wird seine Rede bei der Schlusskundgebung vor dem Brandenburger Tor halten. Die Aktivisten und Vordenker der „Neuen Rechten“ und ihre Außenposten in seiner eigenen Partei mag er nicht kritisieren. In der Partei heißt es, dass er gern den in die Jahre gekommenen Alexander Gauland als Parteichef beerben würde. Wenn er den Neu-Rechten zu sehr auf die Füße treten würde, könne er diese Ambitionen aber beerdigen.
Und so bezeichnet Pazderski die Pegida-Demonstranten, aus deren Reihen regelmäßig rassistische Parolen zu hören sind, als „heterogene Gruppe“ mit „vernünftigen Leuten“. „Durchaus interessante Aktionen“ gebe es auch bei der „identitären Bewegung“. Dann geht Pazderski wieder ins Plenum des Abgeordnetenhauses – und arbeitet daran, die AfD bald in die Regierung zu führen.
„Nur eine nette Umschreibung für völkischen Nationalismus“
Rechte Szene wird weiblicher – Ideologie bleibt dieselbe