Berlin. 05:55 Für 15 Schülerinnen und Schüler der Staatlichen Artistenschule Berlin endet die Nacht auf dem Campus. Sie wachen in ihren Internatszimmern in Prenzlauer Berg auf. Vor ihnen liegt ein langer und trainingsreicher Tag in Klassenzimmern und in der Artistenhalle. Für sie und etwa 85 weitere Kinder und Jugendliche, die nicht im Internat der Artistenschule leben, beginnt um 7.50 Uhr der Unterricht. Nach einer neunjährigen Ausbildung können sie die Schule mit dem Abitur und der international anerkannten Berufsbezeichnung „Staatlich geprüfte/r Artist/in“ verlassen. Die Doppelqualifikation in neunjähriger professioneller Artistenausbildung mit integrierter schulischer Bildung beginnt in der Jahrgangsstufe fünf. Eine in Deutschland einzigartige Schulform, heißt es. Etwa 100 Schülerinnen und Schüler aus zehn Nationen haben sich nach Angaben des künstlerischen Leiters Ronald Wendorf für diesen Weg entschieden. Es sind ungefähr 70 Mädchen und junge Frauen und 30 Jungen und junge Männer.
07:15 Die Mensa öffnet um sieben Uhr, eine Viertelstunde später sitzen die ersten Internatsschüler am Frühstückstisch. Früh kommen überwiegend die Internatsschüler. Jene Schüler, die bei ihren Eltern wohnen, kommen zum zweiten Frühstück oder zum Mittagessen in die Schulkantine.
08:10 Mathematik, Physik, Deutsch, Grundkurs Artistik, Akrobatik, Jonglage und Trapez: Die Stundenpläne aller Altersstufen lassen kaum Zeit für Pausen. Adrian Schulte-Zweckel und Jannis Nau beginnen den Tag in der Artistenhalle mit dem Diabolo, einem Gerät, das mit Stöcken und Schnur jongliert werden kann. „Wir kommen beide aus Witten und haben uns nach dem Abitur gemeinsam an der Artistenschule beworben“, sagt Adrian. „Im Sommer 2019 werden wir unseren Abschluss an der Artistenschule machen.“ Die 21 und 22 Jahre alten Nachwuchsartisten hatten unter anderem schon Auftritte im Varietétheater Chamäleon und in einer Kindershow im Friedrichstadt-Palast. Nach der Ausbildung wollen sie wo immer möglich auftreten: In Zirkus, Varieté, auf Firmenveranstaltungen oder Kreuzfahrten.
09:25 Wenn die Internatsbewohner im Unterricht sind, ist Hausmeister Thomas Seelig mit seiner mobilen Werkstatt im Haus unterwegs. Jetzt kann er in den Zimmern ungestört Dinge reparieren.
11:00 In der Artistenhalle hängt Johann Prinz waagerecht in der Luft. Mit nur einem Arm hält er sich an den Strapaten, die in der Luftakrobatik verwendet werden. Der 19-Jährige kommt aus Fulda und ist als Quereinsteiger vor etwa drei Jahren an die Artistenschule gekommen. „Ich habe früher eine Waldorfschule besucht, wollte aber damals schon Artist werden“, sagt er. „Wenn alles klappt, beende ich im Sommer kommenden Jahres die Schule als staatlich anerkannter Artist.“ Prinz erzählt von hartem und weniger hartem Training. „Zum Ausgleich gehe ich schwimmen und mache Übungen mit Therabändern.“
12:00 Breites Kreuz, dicke Oberarme und ein massiger Brustkorb. Uwe Podwojski sieht man sein Vorleben als Artist an. Inzwischen ist der 52-Jährige der stellvertretende künstlerische Leiter der Abteilung Artistik. „An der Artistenschule kennen wir weder Gewalt, Aggressionen noch Ärger zwischen den Schülern“, sagt er. „Flucht ein Schüler im Unterricht oder benutzt er einen Kraftausdruck geht es sofort auf den Boden: zum Liegestützemachen.“ Das hätten viele so verinnerlicht, dass sie schon ohne Aufforderung Liegestütze machen, wenn sie geflucht haben.
12:45 Der ehemalige Luftakrobat Ronald Wendorf ist künstlerischer Leiter der Artistenschule. Neben dem Unterricht „jongliert“ er in seinem Büro mit Zahlen und Terminen. Aktuell bereitet er eine Reise nach Kuba vor. „Ich bin Mitglied in der Jury beim internationalen Zirkusfestival in Kuba“, sagt Wendorf. „Das ist jetzt das dritte Mal, dass ich zu diesem Festival eingeladen wurde.“ Neben der Arbeit in der Jury knüpft und pflegt er Kontakte zu Zirkusbetreibern in der ganzen Welt. Davon würden später auch die Absolventen der Staatlichen Artistenschule in Berlin profitieren.
14:40 „Die Schülerinnen und Schüler haben so viel Spaß, ich bekomme sie kaum aus der Artistenhalle heraus“, sagt Thomas Arndt, Trainer und Hauptfachlehrer für Artistik. Er arbeite 20 bis 26 Stunden in der Woche mit denselben Schülern, sagt er, und es sei sehr schön, sie auf diesem langen Weg der Ausbildung zu begleiten. „Es macht mich stolz, wenn meine Schülerinnen und Schüler einen erfolgreichen Abschluss gemacht haben und von ihrem Beruf als Artist auch leben können. Dann haben wir unseren Job gut gemacht.“
15:10 Der 13-jährige Maik Ortmann kommt aus einer Artistenfamilie. Seine Großeltern betreiben einen Zirkus. Sein Tag beginnt um 5.45 Uhr in Treptow-Köpenick. „Um 7.50 Uhr fängt der Unterricht an“, sagt er. „Mathe, Englisch, Französisch, Artistikunterricht mit Handstandübungen, arbeiten am Trapez und auf dem Drahtseil. Das Fach klassischer Tanz ist um 16.50 Uhr zu Ende. Dann fahre ich nach Hause.“ Als Artist möchte Maik später nicht in Deutschland bleiben
16:30 Am späten Nachmittag quälen sich acht junge Frauen mit quadratischen Funktionen herum. Nach dem körperlich anstrengenden Artistikunterricht, fällt es nicht leicht, ausgepowert im Unterricht zu sitzen.
17:10 Einmal in der Woche ist Planungssitzung. Kathrin Baum-Höfer ist Planungs- und Probenkoordinatorin. „Von Montag bis Freitag von 7.50 Uhr bis 18.30 Uhr ist Unterricht und es wird für Auftritte geprobt“, erklärt sie. „Sonnabends ist von 7.50 Uhr bis 14.15 Uhr Unterricht. Das alles muss mit Auftritten und Proben abgestimmt werden.“
17:55 Für Vincenz Lang endet der Schultag mit dem Französischunterricht. Der 14-Jährige kommt aus Schaffhausen in der Schweiz und lebt seit einem Jahr im Internat. Den Abend verbringt er mit Lesen und Musikhören. „Meine Eltern waren nicht allzu glücklich über meinen Berufswunsch, aber ich will unbedingt Artist werden“, sagt er. Im Alter von fünf Jahren ist er in einem Kinderzirkus aufgetreten. „An der Artistenschule habe ich noch fünf Jahre vor mir“, sagt er.