Berlin. Der Bezirksverordnete Nedim Bayat aus Mitte wechselt aus Frust über den Umgang mit Migranten von den Grünen zur SPD.

Die Grünen sehen sich gerne als die Partei, die sich am stärksten für Gleichberechtigung und Integration einsetzt. Dieses Image kultiviert die Öko-Partei jedenfalls, so empfand es auch Nedim Bayat, als er in den 90er-Jahren beitrat. Doch jetzt wechselt der Bezirksverordnete aus Mitte, 2016 noch Direktkandidat bei den Abgeordnetenhaus-Wahlen, zur SPD.

Damit gewinnen die Sozialdemokraten in der BVV eine Mehrheit von 15 zu 13 gegenüber den Grünen. Und Bayat beschert dem Kreisverband von Senatorin Ramona Pop und Abgeordnetenhaus-Fraktionschefin Silke Gebel, aber auch der gesamten Partei, eine Debatte über den Umgang mit Migranten.

„Ich fühlte mich bei den Grünen gut aufgehoben als Migrant und Kiezbewohner“, sagt der Weddinger, die Grünen hätten sich doch für Migranten eingesetzt. Aber nun habe er erkannt: „Der Schein trügt“. Einwanderer dürften bei den Grünen mitarbeiten. Wenn es aber um Posten und Mandate gehe, würden Mi­granten ausgebremst. Und das nicht nur in Berlin – trotz des langjährigen Bundesvorsitzenden Cem Özdemir.

Bayat: Vielfalt ist nur eine gut gemeinte Floskel

Bayats Engagement in der Partei schwankte berufsbedingt über die Jahre. Der Wirtschaftsingenieur arbeitete unter anderem für den Landessportbund und war Bundesgeschäftsführer des Sozialverbandes Deutschland. Seit 2012 stieg der in der Osttürkei geborene Arbeitersohn aber ernsthaft bei den Grünen ein. Der begeisterte Judoka machte Wahlkampf für den Bundestagsabgeordneten Özcan Mutlu, eroberte bei den Berliner Wahlen 2016 um ein Haar das Abgeordnetenhaus-Direktmandat in Gesundbrunnen und zog in die Bezirksverordneten-Fraktion der Grünen in Mitte ein.

Diese Zeit hat ihn desillusioniert. „Ich spürte, dass Vielfalt für die Grünen Berlin nur noch eine gut gemeinte Floskel ist“, schreibt der inzwischen an einem Berliner Oberstufenzentrum als Quereinsteiger-Lehrer tätige Bayat in seiner Austrittserklärung: „Theorie und Praxis klaffen ex­trem auseinander.“

Nur wenige Migranten für Grüne in Funktionen

Tatsächlich sind Zuwanderer unter den Funktionsträgern der Grünen rar gesät. Unter den 27 Berliner Abgeordneten sitzen zwei Migranten, beide auf dem Ticket des linken Kreisverbandes Friedrichshain-Kreuzberg. Seit Jahren gebe es niemanden mit Migrationshintergrund im Landesvorstand, kritisiert Bayat, ebenso wie unter den grünen Senatoren und Staatssekretären, wobei Senatorin Pop in Rumänien geboren wurde.

Ebenso sieht es in anderen Bundesländern aus. Unter den Regierungsmitgliedern gebe es mit dem hessischen Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir nur einen Namen mit Migrationsgeschichte. „Alle anderen sind deutsch und weiß“, so der Politiker. Die fehlenden Kontakte der aus dem Mittelklasse-Milieu stammenden Grünen zu Zuwanderer-Gemeinschaften führe etwa zu einer wenig realistischen Bildungspolitik, ist der Lehrer überzeugt.

Bei der SPD sei die Lage anders. Dafür sprechen aus seiner Sicht, dass mit Gesundheitssenatorin Dilek Kolat, Fraktionschef Raed Saleh und Bundesrats-Staatssekretärin Sawsan Chebli gleich drei Migrantenkinder in führender Position vertreten seien.

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