Dercon-Rücktritt

Die Berliner Volksbühne ist ein Theater nahe am Kollaps

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Julius Betschka, Volker Blech und Felix Müller
Chris Dercon im Flughafen Tempelhof. Der sollte ursprünglich eine Spielstätte der Volksbühne werden. Es scheiterte an den Finanzen

Chris Dercon im Flughafen Tempelhof. Der sollte ursprünglich eine Spielstätte der Volksbühne werden. Es scheiterte an den Finanzen

Foto: dpa Picture-Alliance / Jens Kalaene / picture alliance / Jens Kalaene/

Chris Dercon schmeißt seinen Posten an der Volksbühne hin. Bei den Angestellten herrscht große Erleichterung. Das Finanzdesaster bleibt

Dicke Tropfen fallen am Freitagmorgen vom Himmel auf den Rosa-Luxemburg-Platz vor der Volksbühne. Doch die Stimmung ist ausgelassen. „Endlich, wir haben’s geschafft“, ruft eine Frau in buntem Rock. Ein Dutzend Menschen ist hier zusammengekommen, um zu feiern. Denn Intendant Chris Dercon verlässt die Volksbühne – einvernehmlich und mit sofortiger Wirkung, wie der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Linke) mitteilte.

Während vor dem Haus gejubelt wird, klärt Lederer drinnen – in einer eilig einberufenen Mitarbeiterversammlung – das Personal über Dercons Rücktritt auf. Er wird begleitet von Klaus Dörr. Der erst vor kurzem zum Geschäftsführer berufene Dörr soll kommissarisch die Leitung der Volksbühne übernehmen. Dercon selbst verabschiedet sich am Freitag nicht vom Personal. Ein langjähriger Mitarbeiter des Theaters sagt: „Warum auch? Wir sind froh, dass das vorbei ist.“ Die Mitarbeiterversammlung, die etwa eine Stunde dauerte, sei erfreulich verlaufen, weil das Haus nun wieder eine Perspektive habe, sagt der Mann.

Weniger gut war die Stimmung beim Kultursenator, der am Hintereingang der Volksbühne sichtlich angespannt vor die Presse tritt: „Wir haben am Montag gemeinsam festgestellt, dass die Volksbühne in einer schwierigen Situation ist.“ Mit dem Konzept von Chris Dercon drohe „der Verlust der Spielfähigkeit“, erklärt Lederer. Dercon habe selbst eingeschätzt, dass sein Konzept nicht aufgehe. Die Volksbühne soll wieder zu einem spielfähigen Ensembletheater werden. „Das kann man aber nicht aus dem Hut zaubern.“ Er sei froh, dass nun ein Neustart möglich werde und Klaus Dörr, vorher stellvertretender Intendant des Stutgarter Schauspiels, vorübergehend die Intendanz übernimmt. Auf die Frage, wie die Stimmung bei der Versammlung gewesen sei, antwortete Dörr schlicht: „Gelöst!“

Warum Kultursenator Lederer dennoch aufgewühlt wirkte, erklärt eine Meldung, die kurz nach seinem Presseauftritt publik wurde: Der Rücktritt Dercons soll vor dem Hintergrund eines finanziellen Kollapses stattfinden. Seit Beginn seiner Intendanz leidet die Volksbühne unter einer zu geringen Auslastung bei gleichzeitig hohen Ausgaben. Dass die finanzielle Situation der Volkbühne schwierig werden könnte, stellte laut einer gemeinsamen Recherche von NDR/RBB und SZ ein interner Vermerk der Kulturverwaltung für den Regierenden Bürgermeister schon zu Beginn der Spielzeit fest. Aber es kam noch schlimmer als erwartet. Die Auslastung des Theaters liegt bei den wenigen reinen Eigenproduktionen nach aktuellem Stand im Schnitt bei unter 50 Prozent. Bei der Inszenierung „Iphigenie“ ist im Durchschnitt nur jeder fünfte der gut 800 Plätze besetzt. „Das kann sich kein Theater heute mehr leisten“, sagt Dörr dazu.

Der Interims-Intendant spricht von einem „Höllenritt“. Die Verträge mit den Angestellten und bereits engangierten Künstlern werden erfüllt, sagt er. Es gäbe Planungen bis September. Ab Oktober werden andere Produktionen entstehen. Dörr betont, dass Geschäftsjahr 2018 werde mit einer schwarzen Null abgeschlossen. Dafür tritt er bereits jetzt und nicht erst wie geplant im August an. Ursprünglich wollte er bis dahin nur zwei Tage die Woche in Berlin sein.

Dercon hatte kurz vor seinem Rücktritt den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) kritisiert. Geplant war unter anderem, den Flughafen Tempelhof als Spielort zu nutzen. Doch dafür fehlten offenbar von Anfang an die Mittel. „Ich habe mich vier Mal mit Müller getroffen und nie wieder etwas von ihm gehört”, so Dercon.

Müller weist die Vorwürfe von Dercon zurück

Müller wies am Freitag den Vorwurf der mangelnden Unterstützung zurück. „Dercon ist ein Mann mit einer großen internationalen Erfahrung und ich bedauere es sehr, dass schon allein der Start für ihn so schwierig war, dass er mit seinen Ideen und Konzepten gar nicht mehr durchdringen konnte “, sagte Müller. „Auf der anderen Seite habe ich auch Verständnis für den Kultursenator. Man kann nicht weiterführen, was nicht geht.“

„Das Konzept eines Produktions- und Festspielhauses ist nicht aufgegangen“, sagte Sabine Bangert (Grüne), die Vorsitzende des Kulturausschusses im Abgeordnetenhaus: „Das Publikum konnte sich darin nicht wiederfinden.“ Zusätzlich habe jetzt die Neubesetzung mit dem Geschäftsführers Klaus Dörr „den Druck auf Chris Dercon erhöht“.

Für die Nachfolgersuche forderte Bangert eine Findungskommission, die mit Fachleuten besetzt ist. Die alleinige politische Entscheidung sei ein falscher Weg, um Intendanten zu besetzen. „Wir müssen darüber diskutieren, wohin sich ein Theater entwickeln soll. Und welche Auswirkungen es auf die Berliner Theaterlandschaft hat?“

Eine klare Absage erteilte Bangert allen, die hoffen, dass die Volksbühne in die große Vergangenheit zurückkehren könnte. „Nein, die Ära Frank Castorf ist definitiv beendet.“ Und wenn die Kulturpolitikerin einen Wunsch äußern könnte, dann könnte sie sich unter den Theaterintendanten „noch eine Frau in Berlin“ vorstellen.

Der Deutsche Kulturrat hat den Rücktritt von Chris Dercon bedauert. Nicht Dercon habe versagt, sondern die Politik, sagte der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, am Freitag in Berlin. Der vom damaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner (SPD) angestrebte Politikwechsel an der Volksbühne habe nicht funktioniert. Daran sei aber nicht Dercon schuld. Renner habe eine modernere Volksbühne mit Festivalcharakter im Sinn gehabt: „Für diese Idee war Dercon die richtige Person“, sagt Zimmermann. Aber offenbar sei die Volksbühne für diesen Wechsel nicht das richtige Theater gewesen.

FDP greift Kultursenator Lederer an

Florian Kluckert, kulturpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus, erklärte, der „bedauerliche Rücktritt Chris Dercons“ sei ein großer Imageschaden für den Kulturstandort Berlin. Den lastet Kluckert auch Kultursenator Klaus Lederer an. „Statt die Chancen durch einen neuen Intendanten zu nutzen, hat Lederer bereits vor Amtsantritt keine Möglichkeit ausgelassen, diesem Steine in den Weg zu legen“, sagt der Kulturpolitiker: „Die permanente öffentliche Diskreditierung Dercons gipfelte sogar in der Unterstützung krimineller Hausbesetzer.“

„Die erwartete Katastrophe ist also eingetreten“, teilte Claus Peymann, Ex-Intendant des Berliner Ensembles, mit. „Vor zwei Jahren habe ich davor gewarnt, dass die Schauspielkunst und das Ensemble an der Volksbühne gekillt werden und stattdessen eine weitere ,Eventbude’ in Berlin etabliert wird.“

„Ich bin sehr ratlos, was man da jetzt machen soll, die Struktur ist kaputt“, sagte Thomas Ostermeier, Intendant der Schaubühne: „Und das ist das Ergebnis der Kulturpolitik von Tim Renner und Michael Müller.“

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