Antisemitismus

„Wir wollen nicht, dass Kinder Angst haben müssen“

| Lesedauer: 6 Minuten
Brigitte Schmiemann
Rabbiner Yehuda Teichtal

Rabbiner Yehuda Teichtal

Foto: Anikka Bauer

Der Berliner Gemeinderabbiner Yehuda Teichtal appelliert, Probleme zwischen jüdischen und islamischen Schülern nicht kleinzureden.

Berlin. Jüdische Kinder werden von islamischen Mitschülern beleidigt, sogar verbal mit dem Tod bedroht, weil sie nicht an Allah glauben. Yehuda Teichtal, Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Vorsitzender des Jüdischen Bildungszentrums Chabad Lubawitsch, warnt davor zu glauben, dass diese antisemitischen Beschimpfungen und Bedrohungen einer Zweitklässlerin in Tempelhof ein Einzelfall sind. Das hat Rabbiner Teichtal in einem Brief auch dem Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), geschrieben. Müller hatte von einem „besorgniserregenden Vorfall“ gesprochen, aber auch gesagt, dass „der hoffentlich nur ein Einzelfall ist und bleibt“.

Herr Rabbiner Teichtal, was hat Sie veranlasst, den Brief an den Regierenden Bürgermeister Michael Müller zu schreiben?

Yehuda Teichtal: Weil der Fall mit dem Mädchen aus Tempelhof bei Weitem kein Einzelfall ist, diese besorgniserregenden Verhaltensweisen sind inzwischen ein weitverbreitetes Problem, und man muss gemeinsam mit den Schulverwaltungen überlegen, was wir alle dagegen tun können. Ich bin vor 22 Jahren aus New York nach Deutschland gekommen. Noch nie musste ich besorgte Familien so oft beraten wie in den vergangenen Monaten.

Wie oft kommen die Familien zu Ihnen, und worum geht es?

Durchschnittlich mindestens einmal die Woche wenden sich Eltern an mich, fragen um Rat oder berichten von Vorkommnissen, mit denen ihre Kinder in der Schule konfrontiert sind. Es geht um Pöbeleien, Beschimpfungen, Beleidigungen bis hin zu ernsten Bedrohungen. Insbesondere geht es bei den Konflikten um das Verhalten von Kindern islamischer Herkunft. Es gibt Antisemitismus in den Schulen, und es gibt Kinder, die Angst haben zur Hofpause zu müssen. Das darf nicht sein. Es gibt viele Eltern, denen dieses Klima und die Entwicklungen an den Schulen große Sorgen bereiten.

Was raten Sie der Mutter, die Sie fragt, ob sie ihre jüdische Religionszugehörigkeit in der Schule lieber verheimlichen soll, damit das Kind nicht beschimpft wird?

Ich sage ihr, dass diese Zeiten des Verschweigens in Deutschland vorbei sind. Und dass das auch nicht das jüdische Leben in Deutschland ist, auf das wir alle stolz sind, ein offenes respektvolles Miteinander. In Berlin gehen wir von mindestens 30.000 Menschen jüdischen Glaubens aus, davon sind 10.000 Mitglied der Jüdischen Gemeinde. Die Kinder sollen nicht die Botschaft erhalten, den Davidstern verstecken zu müssen. Das wäre ein falsches Zeichen. Ich rate der Mutter, mit den Lehrern, dem Schulleiter, auch mit der Schulverwaltung zu sprechen. Auch manche Lehrer wissen jedoch nicht, wie sie mit dieser Problematik umgehen sollen. Es gab Fälle, da haben sie diese Streitigkeiten als kulturellen Austausch bezeichnet. Dabei waren es Anfeindungen. Die Menschen brauchen Vertrauen. Deshalb habe ich Herrn Müller auch gebeten, das Problem intensiv und langfristig als Thema zu erörtern, es ernst zu nehmen. Ein Kulturprojekt wird da nicht reichen.

Was sind die Gründe dafür, dass in den Schulen Antisemitismus heutzutage öfter als vermutet sogar dramatische Formen annimmt – nach Jahrzehnten der doch relativ guten Verträglichkeit zwischen den Religionen?

Das hat mehrere Gründe und hängt auch mit den Flüchtlingen zusammen, die wir hier begrüßen und denen wir gern helfen, sich hier zurechtzufinden. Keine Frage. Die Flüchtlinge sind willkommen. Das ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist aber auch: Es gibt Probleme. Möglicherweise wurde nicht genügend Aufmerksamkeit darauf verwendet, dass unter ihnen einige sind, die in ihren Heimatländern mit Hass gegen Juden und auch gegen Israel groß geworden sind. Es war also nur eine Frage der Zeit, dass solche Vorfälle wie der in Tempelhof passierten. Jeder Einzelfall ist schrecklich, aber der jetzige zeigt uns, dass wir etwas tun müssen.

Was schlagen Sie also vor?

Wir brauchen eine gemeinsame Herangehensweise. Von der Politik, der Pädagogik, der Schulverwaltung, von allen. Und das Wichtigste: Das Problem, seien es Pöbeleien oder bedrohliche Attacken, muss auf den Tisch, muss als Thema erkannt werden. Ignorieren hilft nicht.

Wie soll das konkret funktionieren?

In den Schulen muss eine klare Erwartung formuliert werden, dass alle Menschen mit Respekt zu behandeln sind, egal ob Juden, Christen, Muslime, ganz egal, welche religiösen Hintergründe vorliegen. Es muss feste Regeln geben und null Toleranz, sobald ein Kind bedroht wird. Keine Gruppe darf beleidigt werden. Wir wollen nicht, dass Kinder Angst haben müssen. Es gibt keinen wichtigeren Ort als die Schule. Das Bewusstsein, dass alle Kinder offen und tolerant sein sollen, muss geschärft werden. Die Probleme dürfen nicht unter den Teppich gekehrt werden. Sie betreffen uns alle. Das muss jedem klar sein und jeden Tag gelebt werden.

Verschärft die internationale Politik beispielsweise durch die Anerkennung von Jerusalem als israelische Hauptstadt weltweit die Konflikte zwischen Arabern und Juden? Und glauben Sie, dass sich das bis in die Schulen bei den Kindern auswirkt?

Ganz klar, die politische Weltlage ist auch Thema in den Wohnzimmern der Familien hier. Kinder erzählen in der Schule, was sie zu Hause hören. Wenn zu Hause Hass gegen das Jüdische oder gegen Israel besteht, bringen sie das in die Schule. Wir werden das Problem nicht lösen, wenn wir es als Einzelfall behandeln. Ich habe vollstes Vertrauen, dass wir das schaffen in Berlin, wenn wir die Probleme gemeinsam angehen. Die Demokratie hat nicht nur Freiheiten, sie hat auch Pflichten. Es gibt keinen Grund für Hass. Dazu gehört die Vermittlung dieser Werte. Insbesondere an Kinder. Es geht um unserer aller Zukunft. Man kann eine Religion praktizieren und trotzdem tolerant sein. Jeder Schulplatz muss das gewährleisten.

Mehr zum Thema:

Nach Todesdrohung: Islam-Experte Mansour fordert Schulreform

Mord an Holocaust-Überlebender schockiert Frankreich

Wenn wegen Religion an Berliner Schulen gemobbt wird

Salafisten-Moschee liegt in der Nähe der Simmel-Grundschule

Wenn „Du Jude“ zum Schimpfwort in Berliner Schulen wird