Die moderne Metropole Berlin entstand 1920. Wohl nur in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg war es möglich, stolze Städte wie Charlottenburg, Spandau oder Köpenick ebenso wie fünf weitere Stadtgemeinden, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke der Millionenstadt Berlin zuzuschlagen. 20 Stadtbezirke formten seitdem Groß-Berlin. Zu DDR-Zeiten kamen drei neue im Osten der Stadt hinzu. 2001 entstanden die heutigen Strukturen, als der Senat aus 23 Bezirken zwölf machte. Das Verhältnis zwischen Zentrale und den Dependancen prägte Berlin von Anfang an, spannungsfrei war es noch nie.
Die Bezirke sind Zwitterwesen: Einerseits empfinden sich viele Kommunalpolitiker als Herren über Großstädte mit 300.000 und mehr Einwohnern. Die hohen Türme vieler Rathäuser zeugen vom Anspruch, lange Ahnenreihen von Vorgängern mit prächtigen Amtsketten zieren so manchen Warteraum vor Bürgermeisterbüros. Andererseits sind Bezirke keine eigenständigen Kommunen, sondern Verwaltungseinheiten des Landes Berlin ohne eigene Rechtspersönlichkeiten. Dennoch hat die Einheitsgemeinde ihre kommunalen Aufgaben in die ausschließliche Verantwortung der Bezirke gelegt – ohne eine entsprechende Aufsicht.
Verwaltungsexperten sind sich einig, dass diese Konstruktion für viele der Berliner Schwierigkeiten ursächlich sind: „Die Verantwortung wird jeweils auf die andere Ebene abgeschoben – weil es keine klaren Kompetenzzuweisungen gibt und damit auch keine klare Verantwortungszuweisung. Das müsste dringend geändert werden“, sagt Hartmut Bäumer, der Erfahrungen an leitender Stelle als Regierungspräsident in Hessen und in Ministerien in Baden-Württemberg sammelte und schon in diversen Arbeitsgruppen zur Zukunft der Berliner Behörden beteiligt war. Eine Stadt von der Größe Berlins brauche mehr als eine Organisationsebene, ist er überzeugt. „Aber die zweite verstehe ich als Verwaltungsebene, wie etwa in Hamburg. Die Berliner Konstruktion ist sehr problematisch“, so seine Analyse. In der Hansestadt sind die Bezirke eindeutig nachgeordnet. Die Bezirksamtsleiter werden öffentlich ausgeschrieben, von den Bezirksverordneten gewählt und vom Senat eingesetzt.
In Berlin wird ein Bezirksbürgermeister mit der Mehrheit der Verordneten gewählt. Die vier Stadträte werden nach Stärke der Fraktionen in einem Proporzsystem entsandt. So sitzen etwa in Pankow fünf Politiker aus fünf Parteien am Bezirksamtstisch. Nicht nur im Roten Rathaus sind die Fachleute der Ansicht, dass unter diesen Umständen eine „Bezirkspolitik aus einem Guss“ kaum möglich sei.
Berlins große Parteien sind über Bezirke organisiert
2016 schon schlug eine Arbeitsgruppe der Handelskammer und der Stiftung Zukunft vor, die Bezirksbürgermeister zu stärken, ihm Richtlinienkompetenz zuzubilligen und zu erlauben, unfähige Stadträte sogar rauszuwerfen. Dabei waren auch einige nach wie vor aktive Politiker, Bürgermeister und Fraktionschefs. Geschehen ist seither nichts.
Über eine Enquete-Kommission, die die Aufgabenverteilung zwischen Senat und Bezirken in Ruhe erörtern und die Binnenverhältnisse in den Rathäusern neu ordnen soll, wird zwar diskutiert. Aber der Senat zeigt wenig Bereitschaft, mögliche Ergebnisse auch umzusetzen. Dabei halten auch die Beamten des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller es für notwendig, Rollenverteilung und Sichtweisen der Bezirke dringend zu ändern, um die öffentlichen Aufgaben schnell besser zu erledigen und das Wachstum der Stadt zu managen.
Aber für Berliner Politiker kann es selbstmörderisch sein, die Stellung der Bezirke antasten zu wollen. In den Bezirken vergeben Parteien den Großteil ihrer Posten und Ämter. Die großen Parteien nominieren ihre Abgeordnetenhaus-Bewerber über Bezirkslisten. Auf Parteitagen finden sich stets Mehrheiten, die die „Bezirke stärken“ wollen, ohne genau zu wissen, ob damit einfach ausreichend viele Stellen für die Ämter gemeint sind oder mehr Kompetenzen. „Wir müssen weg von dem Streit Land gegen Bezirke“, sagt die SPD-Abgeordnete Clara West. Man müsse sortieren, welche Aufgabe wo sinnvoll aufgehoben sei.
Der Kollaps der Bürgerämter hat dazu beigetragen, zumindest für die wichtigsten Bürgerdienstleistungen ein Umdenken auszulösen. Zunehmend wird anerkannt, dass bundesweit einheitliche Aufgaben wie das Ausstellen eines Reisepasses nichts sein sollte, was jeder Bezirk nach Gutdünken erledigt. Zumal die Bürger ohnehin in ganz Berlin Termine wahrnehmen können. Über festgelegte Qualitätsanforderungen, Arbeitsprozesse und Ausstattungen sowie zusätzliche Stellen versucht der Senat nun, den Einfluss der Bezirke auf die Bürgerämter zurückzudrängen. Dagegen sollten Jugend-, Sozial- oder Ordnungs- oder Gesundheitsämter, die sich stärker an lokalen Gegebenheiten orientieren müssen, allein den Bezirken überlassen bleiben.
Auch die Landesebene muss in einer neuen Aufgabenverteilung ihr Verhalten ändern. Oliver Schruoffeneger, lange für die Grünen im Hauptausschuss des Landesparlaments und heute Baustadtrat in Charlottenburg-Wilmersdorf, kennt beide Seiten. Rechtlich gebe es im Verhältnis der Ebenen eigentlich kein Problem, sagt er: „Es hält sich nur niemand dran.“
Auch die stellvertretende SPD-Fraktionschefin West denkt mit Schaudern an Debatten, in denen sich Landespolitiker leidenschaftlich aber ohne Sachkenntnis über 10.000 Euro für die Beleuchtung einer Schule stritten anstatt über die wirklich großen Beträge oder die richtigen Rahmenbedingungen. „Das Problem ist, dass noch niemand einen substanziellen Reformvorschlag auf den Tisch gelegt hat, über den man diskutieren könnte“, sagt West. Aber eins sei klar: „So geht es nicht weiter.“
Die Behörden kommen sich oft in die Quere. Aber zu sagen, der Senat gängele die Bezirke – oder umgekehrt, die Bezirke seien zu aufmüpfig – das wäre zu kurz gegriffen. Die Konflikte sind vielfältig. Und nehmen teils absurde Formen an.
Zehn Beispiele aus dem alltäglichen Behördenchaos
1. Wenn ein Pfahl Landessache wird
Auf einmal stand er da: Ein Haltestellenpfahl der BVG, direkt vor dem Eingang zum Sportcasino des Rugbyvereins BSC. Mit der monatelangen Sanierung der Hubertusallee in Grunewald wurde der Pfahl um zehn Meter verschoben. Seitdem müssen sich die Rugby-Spieler durch Busfahrgäste zwängen, die auf der Treppe vor dem Eingang sitzen, muss Clubhaus-Betreiber Carsten Duckwitz jeden Morgen den Müll der Wartenden wegräumen. Eine Lappalie, möchte man denken. Trotzdem: „Ich verstehe beim besten Willen nicht, warum der Pfahl ausgerechnet hier stehen muss“, sagt Duckwitz. Er ist nicht der Einzige. Das Tiefbauamt Charlottenburg-Wilmersdorf hat beschlossen: Der Pfahl soll zurück an den angestammten Platz. Aber so einfach geht das nicht. Denn das Land Berlin hat ein Wörtchen mitzureden. Wie so oft bei vermeintlichen Kleinigkeiten. Der Fall liegt jetzt bei der Verkehrslenkung Berlin. Denn die Hubertusallee ist eine Hauptverkehrsstraße und damit Landessache.
2. Minenfeld Wohnungsbau
Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke) versucht es jetzt mit Zuckerbrot. Weil die Bezirke für Baugenehmigungen und die meisten Bebauungspläne zuständig und Eingriffe des Senats kaum durchsetzbar sind, soll es ein Vertrag richten. Im „Bündnis für Wohnungsneubau“ sollen sich die Rathäuser verpflichten, eine bestimmte Zahl von Neubauwohnungen auf den Weg zu bringen und Grundstücke zu entwickeln. Als Gegenleistung winkt Lompscher mit Geld und Stellen. Für viele Bezirke sind die Vorgaben aber nicht akzeptabel.
In Wilmersdorf will Lompscher die Laubenkolonie Hohenzollerndamm mit 400 Wohnungen bebauen, die der Bezirk jedoch erhalten will. In Spandau wartet Baustadtrat Frank Bewig (CDU) darauf, dass der Senat sich für ein Verkehrskonzept entscheidet, um die gewünschten Neubaugebiete im Norden des Bezirks anzubinden. „Solange die das nicht liefern, kann ich keine Bebauungspläne aufstellen“, sagt Bewig. Deswegen müsse der Bündnis-Vertrag auch Pflichten der Senatsebene festlegen. Dass er in jedem Neubauvorhaben die Hälfte der Wohnungen für 6,50 Euro einplanen soll, wie es der Senat vorschreibt, sieht Bewig für Spandau nicht ein. Hier mangle es eher an gut verdienenden Bewohnern. Nun wird im Bezirk erst mal geplant. Mit dem Risiko, dass der Senat am Ende das Rad wieder zurückdreht.
3. Dauerstreit um Einstellung neuer Mitarbeiter
Der Streit um neue Stellen war ein Dauer-Ärgernis zwischen Senat und Bezirken, die mit zusätzlichen Aufgaben auch neue Mitarbeiter fordern. Beispiel Unterhaltsvorschuss von Vätern an alleinerziehende Mütter: Besonders viele Anträge gibt es in Neukölln, fast 7000 sind dort eingegangen. Der Senat aber hat jedem Bezirk die gleiche Anzahl von Stellen zugebilligt, nämlich sechs. Neuköllns Stadtrat Falko Liecke (CDU) braucht aber 20 zusätzliche Mitarbeiter, damit die Menschen nicht unnötig lange auf ihr Geld warten müssen.
4. Schulbau: Warten auf die Bauarbeiter
Seit knapp einem Jahr weiß der Senat, welche Schulen besonders kaputt sind. Ganz oben auf der Liste: das Schadow-Gymnasium in Zehlendorf. Mehr als 20 Millionen Euro müssen alleine hier investiert werden, um das bröckelnde Mauerwerk zu flicken, sichere Stromleitungen zu verlegen oder die Toiletten auf einen erträglichen Hygienestand zu bringen. Aber die Vorsitzende des Bezirkselternausschusses, Ulrike Kipf, sagt: „2017 sind wir nicht vorangekommen.“ Und das, obwohl der Sanierungsstau im Bezirk Steglitz-Zehlendorf am größten ist. Jahrelang haben Senat und Bezirke über die Dimension des Sanierungsstaus gestritten. Die Debatte, wer das viele Geld verbauen darf, fraß noch einmal einige Monate.
Jetzt soll die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Howoge Großprojekte managen, die Bezirke die kleineren Vorhaben. Dazu wird eine Koordinierungsstelle in Neukölln gegründet, jeweils vier Bezirke schließen sich darunter zu einzelnen GmbHs zusammen. 23 Stellen hat der Finanzsenator für diese Struktur freigegeben. So mancher Stadtrat fragt sich, ob diese Stellen nicht lieber direkt in die bezirklichen Bauämter gehen sollten. Jetzt werde erst mal wieder koordiniert und noch einmal der Bedarf an den Schulen erhoben, während fertig geplante Projekte liegen blieben. Kipf befürchtet: „Bis das Geld wirklich in den Schulen ankommt, wird noch viel Zeit ins Land gehen.“
5. Die Unternehmer und das Ämterchaos
Bauamt, Gewerbeaufsicht, Veterinär- und Lebensmittelaufsicht, Ordnungsamt, Tiefbauamt, Denkmalbehörde. Wer wie Michael Näckel in Berlin eine Restaurantkette betreibt, ist Dauergast bei den Verwaltungsämtern. 140 Behördenkontakte pro Jahr hat laut Industrie- und Handelskammer (IHK) ein Unternehmer im Schnitt. Zum Vergleich: Ein Bürger geht im Schnitt einmal pro Jahr zum Amt. Und die detailverliebten Verordnungen sind in jedem Bezirk andere. So darf Häckel, der fünf Thai-Restaurants in drei Bezirken betreibt, an der Kantstraße eine durchgängige Markise über seine Tische auf dem Bordsteig hängen, für den Boxhagener Platz sehen die Gestaltungsrichtlinien aber nur einzelne Markisen-Stücke pro Fenster vor. Und so regnete es den Restaurantgästen von Häckel regelmäßig in die Nudelsuppe.
Irgendwann setzte sich Häckel einfach über die Verordnung hinweg. Und da die Bezirksbehörden zwar reich an Verordnungen sind, jedoch arm an Personal, das die Einhaltung kontrolliert, hat das nie jemanden gestört. Häckel versteht, dass in manchen Bezirken etwa unterschiedliche Bordsteinbreiten in den Regularien berücksichtigt werden müssen. Aber: „Unternehmer werden mit den vielen absurden Detailverordnungen gegängelt“, sagt Häckel und spricht von einer Überregulierung. Wer als Investor nach Berlin kommt und Unternehmenteile in unterschiedlichen Bezirken hat, kämpft mitunter Monate mit dem Verordnungswust.
6. Klimaschutz versus Milieuschutz
Berlin möchte klimaneutral werden. Zumindest trägt der Senat dieses Ziel vor sich her. Einigkeit herrscht, dass dafür der Gebäudebestand saniert werden muss, um Heizenergie und damit Kohlendioxid-Ausstoß zu sparen. Aber viele Bezirke setzen im Alltag andere Prioritäten. In Milieuschutzgebieten haben die Bauämter schon häufig Investoren untersagt, ihre Gebäude energetisch auf den neuesten Stand zu bringen, damit die Mieter nicht zu stark belastet werden. Je weiter die Milieuschutzgebiete ausgedehnt werden, desto schwieriger werde es für Hauseigentümer, im Sinne des Klimaschutzes zu handeln, klagt die Industrie- und Handelskammer. Die Bezirke setzten sich damit „in Widerspruch zur berlinweit akzeptierten Klimaschutzstrategie des Senats“. Eine gemeinsame Linie sei nicht zu erkennen.
7. Viele Sportämter, wenig Sportplätze
Andreas Kämmer sieht seinen Badminton-Club BC Eintracht Südring vor dem Aus. Um die 200 Mitglieder hatte der Traditionsverein in den vergangenen 15 Jahren. Heute sind es laut Vereinsvorsitzender Kämmer kaum noch 80. Grund: Über Jahrzehnte wurde die Badminton-Halle in Kreuzberg nicht saniert, setzte Schimmel in den Duschen an, tropfte es durch die Decke. Jetzt ist es endlich so weit. Aber es gibt kaum Ausweichmöglichkeiten. „Die Mitglieder laufen uns davon, weil wir kaum noch Trainingszeiten bieten können“, sagt Kämmer. Der Schwund sei inzwischen existenzbedrohend. Laut David Kozlowski vom Landessportbund, ist das Problem des BC Eintracht Südring symptomatisch für Berlin. Denn: Es fehle an einer landesweiten Planung für Sportstätten, geplant werde oft am gesamtstädtischen Bedarf vorbei. „Die Bezirke betreiben Flickschusterei“, sagt Kozloswki. Und: Zuzug und Sanierungsstau in dreistelliger Millionenhöhe dürften die Verteilungskämpfe zwischen den Bezirken weiter anheizen.
8. Mitte und die geflüchteten Neujahrskinder
Beim Umgang mit Flüchtlingen stritten Senat und Bezirk jahrelang und erbittert. Jeder Standort eines Containerdorfes oder eines Modularbaus erhitzte die Gemüter. Jetzt sind die meisten Geflüchteten durchs Asylverfahren und in der Obhut der Bezirke gelandet. Aber es gibt ein Missverhältnis. Mitte ist für mehr als 6700 Menschen zuständig, drei Mal so viele wie andere. Denn Mitte hat alle mit Geburtstag im Januar. Weil Geburtsdaten oft unklar sind, wird den Leuten der 1. Januar zugewiesen, also wandern sie bürokratisch nach Mitte, obwohl nur die wenigsten dort wohnen. Stattdessen bringen die Ämter die Menschen überall in der Stadt unter, oft in schlechten Quartieren für 25 Euro pro Kopf und Tag. Mitte verlangt nun, die Geflüchteten neu zu verteilen und sie dort zu betreuen, wo sie auch leben. Die Senatssozialverwaltung wartet darauf, dass sich die Bezirke einigen.
9. Wenn der Drucker nicht zur Amtssoftware passt
Gebremst wird die Verwaltung durch die oft betagte und meist wenig miteinander kompatible Ausstattung mit Computern und Software. Berlin hat eine chaotische IT-Landschaft mit mehr als 70 dafür zuständigen Stellen; denn jeder Bezirk und jede Dienststelle konnte kaufen, was man dort für richtig befand. In den Bürgerämtern läuft zwar einheitliche Software, aber schon die Bezahlsysteme oder Drucker unterscheiden sich. Nun setzt die Politik ihre Hoffnungen darauf, dass mit dem neuen E-Government-Gesetz und der darin geforderten flächendeckenden Einführung der elektronischen Akte bis 2022, sich die Lage substanziell verbessert.
10. Wohin mit dem Sparkassenbus?
Wie andere Banken auch schließt auch die Berliner Sparkasse Filialen. Als Ausgleich soll ein Bus die Kunden mit Bank-Leistungen versorgen. Die Sparkassenaufsicht im Haus der Wirtschaftssenatorin begrüßt diesen Service. Mehrere Bezirke haben es aber abgelehnt, den Bus vor ihrem Rathaus oder an einem anderen öffentlichen Platz zuzulassen. Das Verkehrsressort sollte darum eine generelle Regelung schaffen, will das jedoch nicht tun. Stattdessen sollten die Bezirke entscheiden, die das Karussell zunächst ausgelöst haben.