Unsere Reporter treffen Menschen, die etwas bewegen. Heute: ein Spaziergang mit dem Dirigenten Antonello Manacorda.

Wie die meisten Dirigenten hat Antonello Manacorda kein Problem damit, für die Kamera zu posieren. Er ist es von Amts wegen gewohnt, dass sich alles um ihn dreht. Chefdirigenten sind bekanntlich das Gesicht ihrer Orchester. Seit 2010 leitet er die Kammerakademie Potsdam, er nennt es eine Liebesbeziehung. Von seiner Kreuzberger Wohnung an der Glogauer Straße sind wir gleich zum Paul-Lincke-Ufer gelaufen, wo sich der gut aussehende, smarte Mann geduldig in Szene setzen lässt. Mit Paul Lincke, dem Vater der Berliner Operette, hat Manacorda offenbar wenig am Hut. Natürlich weiß er, dass die Philharmoniker in der Waldbühne immer die „Berliner Luft“ als Zugabe spielen, worauf das Publikum alljährlich freudig wartet.

Das Thema Operette erinnert Manacorda vielmehr an den Tipp eines Lehrers. Demnach sollten junge Dirigenten Ballett dirigieren, damit sie lernen, den Tänzern in ihrer Bewegung auf der Bühne zu folgen. Operette schult hingegen, die Sänger durch die Handlung zu führen. Wenn beides stimmt, dann ist große Oper angesagt. Im Verlaufe des Spaziergangs wird er mehrfach über Lehrer und deren Leitsprüche plaudern, offenbar hat er immer gut zugehört und scheint eine treue Seele zu sein.

In seiner Anfangszeit als Dirigent hat er in Berlin eine Atemtherapeutin aufgesucht. „Ich wollte verstehen, wie Atem funktioniert. Denn beim Dirigieren, glaube ich, kommt der Klang aus dem Atmen.“ Die Therapeutin besuchte ihn eines Tages bei einem Meisterkurs. Anschließend empfahl sie ihm, argentinischen Tangounterricht zu nehmen. Er überredete eine gute Freundin, mit ihm zusammen Tanzunterricht zu nehmen und lernte dabei etwas Unerwartetes. „Tango lebt vom Energiefluss. Man schiebt die Partnerin nicht einfach hin und her. Man bietet etwas an und lässt sich etwas anbieten.“ Auch das Dirigieren lebe vom Wechselspiel zwischen Anbieten und Annehmen. „Am Pult koordiniere ich die verschiedenen Angebote der Instrumentengruppen. Dazu kommt natürlich meine Interpretation, weil ich ja ein Mensch mit Gefühlen bin.“ Und dann wird wieder ein Lehrer zitiert. Der riet ihm: Nur helfen, nicht stören!

Deutsch hat er als Kind mit Mozarts „Zauberflöte“ gelernt

Inzwischen sind wir das Paul-Lincke-Ufer hinunter geschlendert. Er gehe gerne hier spazieren, sagt Antonello Manacorda. Allerdings ist er nur rund drei Monate pro Jahr daheim, die meiste Zeit ist er als Dirigent international unterwegs. Bei unserem Spaziergang hat er ein Ziel vor Augen. Es ist das winzige Concierge Coffee in der Hausnummer 39–40. Eigentlich ist das Café nur ein kleines Pförtnerfenster mit 15 Quadratmetern Raum dahinter. Manacorda mag den spröden Charme des Ortes und schlägt einen schnellen Kaffee im Stehen vor. Wir schlendern ein Stück zurück und münden in die Manteuffelstraße ein.

Antonello Manacorda wurde 1970 in Turin geboren. Aber er gestikuliert sofort heftig, wenn man ihn als Italiener etikettiert. „Wenn die Leute mich fragen, ob ich nicht mal eine italienische Oper dirigieren will, sage ich immer, ich bin kein Italiener, sondern ein Europäer. Meine Freunde lachen schon, weil ich das so oft sage. Aber ich bin schon so eine komische Mischung.“

Die Mischung erklärt er aus seiner italienisch-französischen Familiengeschichte. Väterlicherseits stammt er aus einer alteingesessenen Turiner Notarfamilie, mütterlicherseits war sein Vorfahr mit Napoleon in die Stadt gekommen, um dort die Königliche Post zu leiten. Die Gajal de La Chenaye waren ursprünglich in der Bretagne beheimatet. Einer von Manacordas Urgroßvätern war Vize-Präsident von Fiat. Beiläufig erzählt er von einer englischen Nanny, einer Großmutter, die ihn in den Sommermonaten in ihr Haus an die Côte d’Azur einlud und davon, dass er in Turin zunächst eine französische Schule besuchte. Deutsch habe er zuerst durch Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ gelernt, fügt er hinzu. Seine Mutter hat ihm das Singen beigebracht.

In Turin habe er die Verschlossenheit der Klassengesellschaft erlebt: die des zunehmend verarmten Adels, der reich gewordenen Bürger und der Arbeiter, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts bei Fiat malochen. „Ich habe mich in Turin nicht wirklich wohlgefühlt. Erst Berlin hat mein Herz geöffnet.“ Inzwischen sind wir an der Reichenberger Straße angekommen. Der Dirigent unterbricht sich kurz und zeigt auf den großen Bioladen an der Ecke. Was ihm irgendwie wichtig zu sein scheint. Aber wir gehen nicht weiter darauf ein, wohl auch, weil Manacorda den biografischen Faden des Gesprächs nicht verlieren will. Er ist ein leidenschaftlicher Anekdotenerzähler.

Seine Laufbahn hat Manacorda als Geiger begonnen. Ausgebildet wurde er im Konservatorium seiner Heimatstadt und hat das Studium mit Auszeichnung abgeschlossen. Das muss man deshalb erzählen, weil eine einflussreiche Frau, die ihm das anschließende Stipendium für ein Studium bei Herman Krebbers in Amsterdam besorgte, eines Tages mit einer dringenden Bitte anrief. Francesca Camerana war auch Mitinitiatorin des neues Konzertsaales im Stadtteil Lingotto, wo Fiat früher seine riesigen Produktionsanlagen hatte. Der Saal war zwar noch nicht fertig, aber Antonello Manacorda sollte bitte am Nachmittag vorbeikommen und für einen ersten akustischen Eindruck sorgen. Er spielte also eine Sarabande von Bach und schaute in den Saal. Da stand der Architekt Renzo Piano und neben ihm Claudio Abbado.

Das war die erste Begegnung mit dem Stardirigenten. „Er kam zu mir und fragte ziemlich direkt, ob ich nicht Konzertmeister des Gustav Mahler Jugendorchesters werden will. Ja, gerne mal sehen, sagte ich. Dann kam die offizielle Einladung. Ich sagte nein, weil ich im Sommer einen Meisterkurs besuchen wollte. Francesca sagte mir, ich sei bescheuert. Ob ich überhaupt wisse, was Abbado mir mit dem Konzertmeister angeboten hat?“ Aber das wusste er damals nicht, sagt Antonello Manacorda. In Italien gäbe es keine so ausgeprägte Orchesterkultur wie in Deutschland. Alle seien entweder Solisten oder Kammermusiker. Schließlich sagte er zu. „Es hat mein Leben komplett verändert.“

An seine erste Probe im Jugendorchester, das war 1994, erinnert er sich noch genau. Abbado probte Antonin Dvoraks achte Sinfonie: Cello, Bässe, Geigen, nach 20 Takten unterbrach er. Er wisse nicht, aber irgendwie ... „Antonello“, fragte er, „hättest du eine Idee, der Bogenstrich vielleicht?“ Der junge Konzertmeister war völlig irritiert. „Wir waren alles junge Leute um die 20. Wir wären alle für ihn durchs Feuer gerannt. Und er fragte uns? Man musiziert immer zusammen, hat er gesagt. Die Hierarchie ist da, aber man musiziert zusammen.“ Und dann kommt wieder die Lehrer-Schüler-Treue hervor: „Ich bin auch kein autoritärer Dirigent.“ Das hat er von Abbado abgeschaut. „Autorität ist eine Richtung, Mitmusizieren die andere Richtung. Es ist immer wichtig zuzuhören.“ Manacorda glaubt, dass sich hinter der autoritären Strenge von Dirigenten viel Unsicherheit verbirgt. „Ein bisschen unsicher sind wir doch alle.“ Als Abbado 1997, zu der Zeit war er Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, das Mahler Chamber Orchestra (MCO) ins Leben rief, gehörte Manacorda als Konzertmeister zu den Gründungsmitgliedern. „Beim MCO lernt man, an der Stuhlkante sitzend zu spielen, immer wie um sein Leben.“ Das elitäre Kammerorchester ist als eingetragener Verein in Berlin regis­triert. Hier sitzt das Management.

Der Dirigent empfiehlt den Käsekuchen, es ist ein Markenzeichen des „Five Elephants“ an der Reichenberger Straße. Manacorda schwärmt von dem kleinen Café, in dem wieder reger Betrieb herrscht. Es sind vor allem junge Leute, die entweder vor sich hinbrüten oder sich die Köpfe heißreden. In seiner Jugendorchesterzeit unter Abbado habe er die Stadt nicht verstanden, sagt Manacorda. Anders als er es aus italienischen Städten kenne, gäbe es in Berlin kein richtiges Zentrum. Man fühle sich ein bisschen verloren.

An Berlin mag er die offenen Wunden der Stadt

„Nach zwei Jahren Mahler Chamber habe ich gesagt, ich will richtig Deutsch lernen.“ In dieser Zeit war auch Andrea Zietzschmann, die heutige Intendantin der Berliner Philharmoniker, beim Kammerorchester beschäftigt. Als sie in den Urlaub ging, übernahm er ihre Wohnung und goss die Blumen. Den Monat lang wollte er das Goethe-Institut besuchen. Danach entschied er sich, nach Berlin zu ziehen. Dass jeder hier leben kann, wie er will, gefällt ihm.

Die vielen offenen Wunden der Stadt findet er beeindruckend. Im Prenzlauer Berg, wo er vorher lebte, lag seine Wohnung im 2. Stock, darüber gab es nichts mehr. Das Haus war ausgebombt worden. „Die Geschichte pulsiert noch in dieser Stadt. In Berlin sieht man alle 200 Meter ein Mahnmal. Die Deutschen arbeiten sehr an ihrer Vergangenheit. Ich finde das gut und nötig angesichts dieser Zeit zwischen Neo-Populismus und Neo-Nationalismus.“ In Italien werde die Geschichte des zweiten Weltkriegs nachlässiger behandelt.

Wie modern darf ein konservativer Dirigent sein? Manacorda überlegt überraschend lange auf diese Frage. „Wir machen Musik mit Instrumenten, die vor dreihundert Jahren gebaut oder entwickelt wurden. Die Musik wurde teilweise vor 400 Jahren geschrieben. Wir müssen altmodisch und zugleich modern sein. Es ist eine spezielle Zeitlosigkeit.“ Darüber hinaus hat er ein Facebook-Profil und ist aktiv in Social Media unterwegs. Es ist die moderne Form der Autogrammjägerei, der kurzen Gespräche zwischen Künstler und Publikum. „Früher standen die Leute am Bühneneingang und warteten, bis man herauskommt. Das gibt es kaum noch.“

Die Oper sei eine große Leidenschaft von ihm, sagt Manacorda, der bislang etwa fünfzehn Inszenierungen gemacht hat. „Als Dirigent bin ich sehr am Theater interessiert.“ Sehr oft sei er in der Volksbühne gewesen, allerdings weniger wegen des früheren Hausherrn Frank Castorf, sondern wegen René Pollesch. Am Berliner Ensemble habe er viel gesehen und einiges an der Schaubühne. „Berlin ist gerade in einer Verwandlung.“ Inzwischen haben wir das Café wieder verlassen und blinzeln etwas müde ins Tageslicht. „Mich interessieren Regiehandschriften, weniger der Gesang und auch nicht die Leitung großer Massen“, sagt Manacorda: „Ich bin immer bei allen Regieproben dabei.“ Er wolle die Zusammenarbeit mit Regisseuren.

Der Italiener, der einmal erklärt hat, Puccini nicht zu mögen, hat dafür sogar seine Abneigung gegenüber der Oper als Schöngesang überwunden. Gerade erst hat er eine Neuproduktion von Puccinis „Madame Butterfly“ zugesagt, weil er die Oper unbedingt mit der slowenischen Regisseurin Mateja Koležnik machen will. Bei der Gelegenheit erinnert Manacorda daran, dass Abbado auch mit Puccini fremdelte. Die Wiener Schule habe ihn geprägt, sagt der Dirigent. „Wenn ich nach Belcanto gefragt werde, das ist nicht meine Sache.“ Manacorda betont, er brauche mehr Tiefe in der Musik. „Unterhaltung sucht nicht, sondern bedient den reinen Genuss.“ Inzwischen sind wir an seinem Wohnhaus angekommen. Der Abschied ist herzlich.

Zur Person

Werdegang Antonello Manacorda, 1970 in Turin geboren, studierte Violine am Konservatorium seiner Geburtsstadt. 1994 holte ihn Star­dirigent Claudio Abbado als Konzertmeister zum Gustav Mahler Jugendorchester. 1997 gründete er als Konzertmeister gemeinsam mit Abbado das – von Berlin aus gemanagte – Mahler Chamber Orchestra.

Dirigent Nach einer erfolgreichen Produktion von Mozarts „La Clemenza di Tito“ in der Lombardei 2001, entschied er sich zur Dirigentenlaufbahn. Seither ist er weltweit in Oper und Konzert unterwegs. Seit 2010 leitet er die Kammerakademie Potsdam.

Konzert Am 30.1. um 20 Uhr dirigiert Antonello Manacorda seine Kammerakademie Potsdam im Kammermusiksaal der Philharmonie. Solistin ist die Geigerin Arabella Steinbacher. Tel. 826 47 27

Spaziergang Start ist an Antonello Manacordas Wohnhaus in der Glogauer Straße. Der Weg führt zum Landwehrkanal, wo das Foto entsteht. Weiter geht es das Paul-Lincke-Ufer hinunter bis zum Concierge Coffee, ein Stück zurück biegen wir in die Manteuffelstraße ein. Nach rechts geht es in die Reichenberger Straße bis hoch zum Café Five Elephant. Von dort aus sind es nur wenige Schritte zurück in die Glogauer Straße.