Berlin

Per Aufzug durch 102 Großstadtleben

| Lesedauer: 5 Minuten
Christine Eichelmann

Cartoonistin Katharina Greve hat einen Web-Comic über ein Berliner Hochhaus gezeichnet. Jetzt gibt’s das Buch dazu

Als in den 60er-Jahren die Neuköllner Gropiusstadt aus dem Boden wuchs, benötigten die Baukolonnen für den 91 Meter oder 31 Stockwerke hohen Wohnturm Ideal drei Jahre. Ebenso lange wurde jüngst am noch 27 Meter höheren Upper West am Breitscheidplatz gebaut, 55 Monate waren es beim Zoofenster.

Da arbeitet Katharina Greve schneller. Keine zwei Jahre brauchte die gelernte Architektin für einen Wolkenkratzer mit 102 Etagen. Jede Woche schaffte sie ein Stockwerk, möblierte dabei gleich die Wohnungen und ließ Mieter einziehen. Das Geheimnis des rekordverdächtigen Höhenwachstums: Greve arbeitet seit ihrem Studium als Cartoonistin, ihr Berliner Hochhaus mitsamt Bewohnern existiert nur als Web-Comic – und, seit neuestem, zwischen Buchdeckeln.

Per Lebenserfahrung berufen zu diesem Projekt ist Katharina Greve nicht. Zeit ihres Mieterlebens brachte es die 45-Jährige nicht über den vierten Stock hinaus, aktuell lebt sie im ersten Geschoss eines Altbaus in Mitte. Ehe sie 1991 nach Berlin kam, betrachtete die gebürtige Hamburgerin Hochhäuser überhaupt nur aus der Ferne – und, analog zum westdeutschen Stereotyp, eher als Orte der Massen-Vereinsamung und sozialen Probleme. Dass sie sich trotzdem zwei Jahre lang mit dem Leben im Wolkenkratzer befasste, ist einer kreativen Spielart der Unersättlichkeit geschuldet: „Ich habe darüber nachgedacht, dass ich in meinem Internetblog Beitrag auf Beitrag stapele wie Architekten die Etagen eines Hauses. Und dann habe ich mich gefragt: Wieso nutzt niemand diese unendliche Zeichenfläche im Netz, wo man doch Kilometer scrollen kann?“

So legte Katharina Greve am 29. September 2015 den Grundstein für ihr persönliches Berliner Hochhaus. Jede Woche kam eine neue Innenansicht hinzu, Stockwerk für Stockwerk und Dienstag für Dienstag, 102 Etagen und ebenso viele Wochen lang. Inzwischen liegt ihr seit Anfang September 2017 beendetes Cartoon-Bauwerk gedruckt vom Berliner Avant-Verlag vor. In dem schmalen Band mit dem Titel „Das Hochhaus. 102 Etagen Leben“ passen vier Stockwerke auf eine Doppelseite, geblättert wird von unten nach oben – wie bei der Fahrt im Aufzug. Pro Geschoss eröffnet sich der Blick in Küche, Flur und Wohnraum eines Haushaltes.

Mit Witz und Einfallsreichtum legte Greve, Abziehbildern gleich, über diesen Längsschnitt ihre Szenarien. Raumausstattern dürfte allein bei der Auswahl an Tapetenmustern das Herz aufgehen. Nicht wenige der Plots haben Bezüge zu Greves Leben oder zu aktuellen Ereignissen. So gibt es Anspielungen auf Anschläge oder das autoritäre Regime Erdogans. Das Auseinanderdriften Europas fand ebenso Niederschlag wie die Öffentlichkeitsarbeit von Donald Trump. Fenster in der Seitenfront des Hauses bergen zusätzliche Andeutungen, auf die Berliner Pandas zum Beispiel, den Tod David Bowies oder den Nobelpreis für Bob Dylan. Vorlieben und Lebensstile der Mieter spiegeln das Panorama des Berliner Großstadtlebens, von der psychedelischen Wandbemalung über ein lesbisches Pärchen bis zur neuen Diät.

Leser fragten immer wieder nach der fehlenden Spüle

Einer von Greves Lieblingsszenen begegnet man gleich im Erdgeschoss. Ein altes Ehepaar ist inoffizielle Paketannahmestation für seine Nachbarn, wie die Zeichnerin selbst in ihrem Haus. „Nur meine eigenen Pakete landen natürlich bei der Post“, sagt sie. Die ganz reale Wohnungssuche eines Freundes hatte sie im Kopf, als sie in der achten Etage Interessenten zur Besichtigung völlig heruntergekommener Räume auflaufen ließ. „So sieht es also aus, wenn ein Makler von einer ,Wohnung mit Potenzial‘ spricht“, sagt einer. „Und exakt so bezeichnete der Makler bei meinem Freund eine Bruchbude in Neukölln, in der es weder Licht noch Strom gab.“

Anonym ist Greves Wolkenkratzer keineswegs. Hundesitting, Seitensprünge, Chat-Freundschaften – Querverbindungen zwischen den Bewohnern sind vielfältig. Das Ehepaar im 19. Stock überlegt, ausgemisteten Krempel der alten Dame im 18. vor die Tür zu stellen. „Fällt gar nicht auf“, sagt die Frau. Tatsächlich zeugen die Räume unter ihnen von zwanghafter Sammelwut. Inspiriert hatten Greve zwei alte Schwestern, deren Wohnung sie mal bei einem Studentenjob vermessen musste. „Die hatten so viele Plastiksäcke überall, dass man nicht mehr durchkam“, sagt sie. Von ihr und ihrer Kollegin im Hausflur abgestelltes Material verschwand prompt. „Wir hatten die Schwestern im Verdacht, und als wir sie gefragt haben, ob sie unsere Sachen gesehen hätten, standen die auch gleich wieder im Flur.“

Für den Web-Comic fand Katharina Greve eine treue Leserschaft, die auch Vorschläge machte, nachfragte – etwa warum die Küchen keine Spüle haben. „Das war die häufigste Frage“, sagt Greve lachend. Irgendwann sah sie sich genötigt, das Rätsel zu lösen: „Die Spüle ist an der weggeschnittenen Wand“. Im Buch liefert sie, ganz Architektin, auch den bautechnischen Grund dafür. Dass das Haus jetzt fertig ist, stimmt sie ebenso froh wie traurig: „Ein wenig“, sagt sie, „fehlt mir das wöchentliche Ritual.“

Katharina Greve, Das Hochhaus. 102 Etagen Leben, Avant-Verlag 2017, 20 Euro