Berlin. Durch die im Großen Tiergarten zeltenden Osteuropäer und den Hilferuf des grünen Bezirksbürgermeisters von Mitte, Stephan von Dassel, ist das Thema Obdachlosigkeit in den Fokus gerückt. Wir sprachen darüber mit Ulrike Kostka (46), seit fünf Jahren Direktorin des Caritasverbandes für das Erzbistum Berlin und Vorsitzende der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (KAGW).
Berliner Morgenpost: Frau Kostka, Sie haben die Taskforce Tiergarten als Aktionismus kritisiert. Warum?
Ulrike Kostka: Es wurde sehr schnell eine Gruppe zusammengestellt, aber nicht geschaut, wer eigentlich beteiligt werden müsste. Außerdem beschränkt sich die Problematik nicht auf den Großen Tiergarten, sondern kommt auch in anderen Parks vor. Und schließlich lässt sich das Zelten von Obdachlosen nicht durch eine punktuelle Aktion wie eine mögliche Räumung beenden. Die Menschen werden wiederkommen.
Sie hätten lieber eine andere Taskforce.
Ich möchte gar keine Taskforce, ich möchte ein Strategieforum unter Beteiligung der Wohlfahrtsverbände, des Landes und der Bezirke. Ich wünsche mir auch, dass man sich die Zeit nimmt, die Situation wirklich zu analysieren und erst dann die geeigneten Maßnahmen plant. Gleichzeitig muss geklärt werden, wer welche Aufgabe übernimmt. Alle Beteiligten müssen sich auf die gemeinsame Strategie verpflichten, damit es keinen Aktionismus einzelner gibt.
Haben Sie Innensenator Andreas Geisel Ihren Unmut über die Taskforce mitgeteilt?
Wir haben an verschiedenen Stellen deutlich gemacht, dass wir dieses Gremium und den Lösungsansatz problematisch finden. Seit längerem fordern wir eine Strategieentwicklung für das Thema Wohnungslosigkeit, wo alle Wohlfahrtsverbände beteiligt sind.
Am vergangenen Donnerstag haben die Bezirksbürgermeister einstimmig vom Senat gefordert, ein solches Forum einzurichten. Die Sozialsenatorin war dabei und hat den Beschluss begrüßt und mehr Unterstützung in der Wohnungslosenhilfe versprochen. Ist jetzt alles gut?
Es war ein wichtiger Schritt. Aber es muss ein gemeinsamer Wille und Beschluss des Senats werden. Das Problem der Obdachlosigkeit kann die Sozialverwaltung nicht alleine lösen. Die Gesundheitsverwaltung muss beteiligt sein, denn es geht auch um die medizinische Versorgung der Menschen. Die Verwaltungen für Inneres und Stadtentwicklung sind ebenfalls gefordert und natürlich die Finanzverwaltung. Aber auch der Regierende Bürgermeister sollte sich des Themas noch stärker annehmen. Es betrifft seine Stadt, und das Thema hat viele Dimensionen.
Wenn Sie die Innenverwaltung zur zweiten Sitzung der Taskforce Tiergarten einlädt, würden Sie hingehen?
Ich würde erst mal fragen, was da eigentlich geklärt werden soll. Wenn es darum geht, wie viele Polizeistreifen durch den Tiergarten gehen, können das die Polizeiexperten auch alleine klären. Wenn es um das soziale Thema geht, würde ich sagen, es ist der falsche Ort. Das Problem im Tiergarten löst sich nicht, indem man auf den Tiergarten blickt. Natürlich muss die Situation dort akut entschärft werden. Aber es wird nicht funktionieren, in dem man das Camp einfach räumt. Dann ziehen die Leute in eine andere Ecke des Tiergartens oder in einen anderen Park. Ich finde es sehr wichtig, dass dort wieder Ordnung entsteht und sich Bürger wieder sicher fühlen können. Insofern müssen die Behörden reagieren, damit sich die Lage im Tiergarten erst einmal beruhigt. Aber damit das nicht nur zwei Wochen anhält, brauchen wir einen strategischen Ansatz.
Was sollte man den Obdachlosen, die in Parks zelten, anbieten?
Man muss ihnen schon als erstes klarmachen, dass sie dort nicht bleiben können. Dann muss man ihnen in ihrer Muttersprache erklären, dass sie auch ein Hilfsangebot und eine Unterkunft bekommen. Und dass dort mit ihnen gemeinsam geklärt wird, wie es weitergeht und welche Rechte sie als EU-Bürger eigentlich haben. Wir schätzen den Anteil der EU-Bürger an den Obdachlosen auf weit über 50 Prozent.
Aber wieso wird das nicht längst praktiziert? Es gibt doch Projekte der Sozialarbeit, die unterschiedliche Sprachen abdecken. Sind die nicht im Tiergarten unterwegs?
Es wird durchaus gemacht. Aber in den Parks campieren nicht immer dieselben Menschen. Manche wollen die Hilfe auch nicht in Anspruch nehmen. Und mit vielen muss man mehrfach sprechen. Diese Menschen sind verelendet, viele sind krank oder alkoholabhängig. Das ist ein langfristiger Prozess. Wir haben viel zu wenige Stellen für Sozialarbeiter und viel zu wenige muttersprachliche Spezialisten, es geht ja nicht nur um den Tiergarten. Wir brauchen mehr Stellen, aber auch ein vernetztes Vorgehen.
Woran mangelt es beim Vorgehen?
Wir haben in Berlin viele Angebote, aber es ist Flickschusterei. Jeder macht etwas, aber es wird nicht genügend abgesprochen. Deshalb brauchen wir ein gemeinsames Konzept. Man muss sich die Lage von Bezirk zu Bezirk anschauen, weil man es mit unterschiedlichen Gruppen von Obdachlosen zu tun hat. Aber die Bezirke müssen es sich gemeinsam ansehen und der Senat natürlich auch. Die Obdachlosen wechseln ja auch durch die Bezirke.
Gemeinsamer, gesamtstädtischer Ansatz, das klingt erst einmal sinnvoll. Aber davon haben wir nicht einen Unterkunftsplatz und nicht einen Sozialarbeiter mehr.
Stimmt. Die Haushaltsmittel für die Wohnungslosenhilfe müssen aufgestockt werden. Ob die im nächsten Haushalt vorgesehenen zusätzlichen 2,5 Millionen Euro ausreichen, stelle ich in Frage. Wir müssen gemeinsam festlegen, wofür das Geld ausgegeben wird. Das muss Teil der Gesamtstrategie sein. Die fachlichen Konzepte sind vorhanden, aber wir brauchen einen neuen Schwerpunkt im Haushalt. Denn Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit ist ein wachsendes Problem in Berlin.
Gibt es Ansätze, an die man anknüpfen kann?
Ja. Denken Sie an die Roma-Familien, da gab es vor einigen Jahren viele Probleme. Dann hat Berlin den „Aktionsplan Roma“ mit einem umfassenden Ansatz entwickelt, und heute ist das Thema deutlich besser im Griff. Die fachliche Arbeit der Wohlfahrtsverbände, der Bezirke sowie der Senatsverwaltungen wirkt. Wir haben also Erfahrungen und Ansätze in Berlin, wie man mit solchen Themen umgehen kann. Soweit man sie auf der Berliner Ebene lösen kann. Das große Ganze der europäischen Armutsmigration ist aber ein Thema des Bundes und der EU.
Was erwarten Sie vom Bund?
Der Umgang mit der EU-Armutsmigration muss in den Koalitionsvertrag der künftigen Regierungskoalition. Wir wollen auch ein Gipfeltreffen zur Wohnungslosigkeit bei der Bundeskanzlerin. Und wir fordern, dass der Bund nicht über Nacht Gesetze erarbeitet, die derart schnell gestrickt sind, dass nicht mal die Fachexperten genau interpretieren können, welche Rechtslage im Zusammenhang mit anderen Gesetzen sie eigentlich erzeugen. Ich erwarte eine fachlich solide Gesetzgebung, die Klarheit schafft. Und ich erwarte, dass die Bundesebene das Thema als ihres wahrnimmt und anerkennt. Die Kommunen sind damit völlig überfordert und werden alleine gelassen. Das geht nicht. Es ist eine Aufgabe, die nur Bund, Länder, Kommunen und Wohlfahrtsverbände gemeinsam angehen können.
Wieso ist die jetzige Rechtslage so problematisch?
Sie sieht vor, dass EU-Bürger, die nie einen Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden haben und weniger als fünf Jahren hier sind, keinerlei soziale Leistungen bekommen. Dieser Leistungsausschluss führt dazu, dass die Menschen in die Verelendung geschickt werden. Sie halten sich teilweise über Jahre hier auf. Das Hilfesystem ist aber komplett überlastet, weil man den Menschen ja eigentlich nicht helfen darf. Wir brauchen eine Überarbeitung der Bundesgesetze, die eine gezielte Hilfe ermöglicht. Wer keinen dauerhaften Anspruch auf Sozialhilfe oder Ähnliches hat, muss trotzdem im Rahmen der Gefahrenabwehr vor Obdachlosigkeit geschützt werden. Wir brauchen eine längere Zeitspanne, um jeden Einzelfall klären zu können. Dafür reichen die rechtlich vorgesehenen vier Wochen einer Überbrückungsphase nicht aus. Denn jeder Fall ist anders. Wir entwickeln dadurch eine Armutsspirale, die besonders die großen Städte belastet. Der Leistungsausschluss hat keine rechtliche Klarheit geschaffen sondern eine neue soziale Problemlage.
Muss der Bund den Bau von Wohnungen für Menschen mit besonderem Bedarf mehr bezuschussen?
Ja, eindeutig. Wir brauchen mehr sozialen Wohnungsbau. Außerdem haben wir in der Phase, in der sehr viele Flüchtlinge kamen, die gute Erfahrung gemacht, dass über eine Anpassung des Baurechts schnelles Bauen ermöglicht wurde. Wir brauchen eine Erweiterung dieser rechtlichen Möglichkeiten auf andere Zielgruppen, damit in den Ballungszentren schnell Wohnraum geschaffen werden kann. Dazu benötigen wir bundesrechtliche und bundespolitische Maßnahmen. Neben der Armutsmigration ist die zunehmende Wohnungsnot das große Thema. Immer mehr Menschen werden wohnungslos, und der Konkurrenzkampf wird immer größer.
Wie viele Wohnungslose leben in Berlin?
Ungefähr 40.000 ist unsere Schätzung. Viele sind Deutsche, es sind aber auch viele Geflüchtete mit Aufenthaltsstatus darunter. Sie leben immer noch in Gemeinschaftsunterkünften, weil sie keine Wohnung finden. Von den 40.000 Wohnungslosen in Berlin leben nach Schätzungen der Wohlfahrtsverbände 4000 bis 6000 als Obdachlose auf der Straße.
Trifft es zu, dass der Anteil der Frauen und Familien an den Wohnungslosen stark zugenommen hat?
Ja, es sind auch mehr Familien und Frauen von Zwangsräumungen und Wohnungsnot betroffen.
Müsste der Senat speziell für diese Gruppe mehr tun?
Es wäre sehr gut, wenn wir für sie mehr Hilfsangebote hätten. Entscheidend ist aber: Wir brauchen mehr preiswerte Wohnungen in Berlin.
Sie werfen den verantwortlichen Berliner Politikern vor, zu sehr im Modus der Kältehilfe zu denken. Sie sagen, wir brauchen mehr ganzjährig nutzbare Unterkünfte. Wie viele Plätze benötigt Berlin?
Wir wollen kein riesiges System für den Winter aufblähen, das könnte auch einen Sogeffekt auslösen, das ist mir bewusst. Wir haben jetzt weniger als 200 ganzjährige Übernachtungsplätze in Berlin, diese werden im Haushaltsentwurf zum Glück etwas aufgestockt. Aber ich gehe davon aus, dass wir 1000 ganzjährige Übernachtungsplätze für unterschiedliche Zielgruppen brauchen.
Das wird dauern, wenn es überhaupt passiert, Wäre es dann nicht angeraten, als ersten Schritt die Zahl der Kältehilfeplätze zu erhöhen? Reichen die geplanten 1000 Plätze aus?
Ja, wir gehen davon aus, dass das ausreicht. Wir brauchen Plätze, an denen die Menschen auch beraten werden. Dort muss aufgestockt werden, nicht in der Nothilfe. Und wir brauchen in Berlin dringend eine Krankenstation für Wohnungslose.
Nun steht zu befürchten, dass die 1000 Plätze nicht zusammenkommen. Wie beurteilen Sie das und wie kann man das Problem lösen?
Alle Beteiligten bemühen sich sehr, die notwendigen Plätze zu schaffen. Ich finde es bewundernswert, wie sich Ehrenamtliche und berufliche Kolleginnen und Kollegen in den Behörden und bei den Trägern dafür engagieren. Bislang wurden immer die notwendigen Plätze irgendwie geschaffen. Aber wir brauchen mehr Immobilien, damit nicht jedes Jahr um die Plätze gebangt werden muss.
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